Dieses Gemälde ist in Mollenhauers
Publikation seitenverkehrt abgebildet. Dies wird an dieser Steller
unverändert reproduziert. [Hans-Rüdiger Müller]
Editorische Anmerkung
Hierbei handelt es sich um einen Versroman, der zwischen 1200 und 1210
geschrieben wurde. Für eine aktuelle Ausgabe vgl. Eschenbach,
2021. [Lasse Clausen]
[084:1] Irgendeiner von den Kollegen aus dem Kreis der Jugendforscher hat vor
einiger Zeit die Meinung geäußert, statt sich immer neuen Nuancen bei der
Erforschung von Jugendlichen zuzuwenden, sollte man doch einmal das Interesse
erforschen, das die Forscher veranlaßt, sich dieser zwar einträglichen, aber in
ihrem praktischen Nutzen vielleicht problematischen Tätigkeit hinzugeben. Diese
Meinung – ich weiß nicht mehr, wer sie geäußert hat – läßt sich gewiß nach
mehreren Seiten hin auslegen. Ich entnehme dieser Bemerkung, daß der
Zusammenhang von Jugend, Jugendarbeit und Jugendforschung einer geschichtlichen
Bewegung zugehört, über die wir uns verständigen sollten, ehe wir uns den gerade
gängigen Moden anschließen und vielleicht viel Zeit und Energie auf etwas
verwenden, das, genauer betrachtet, auch andere Formen des Nachdenkens verdienen
könnte. Ich möchte hier der Aufforderung, die in diesem Gedanken liegt, dadurch
folgen, daß ich einige Anmerkungen zu dem mache, was ich eine historisch
aufgeklärte Bildungstheorie des Jugendalters nennen möchte. Was ich vortrage,
sind wirklich nur Anmerkungen, und sie bringen auch vermutlich nicht viel Neues;
sie versuchen lediglich, das bereits Bekannte in Richtung auf solche
Bildungsfragen hin zu ordnen.
[084:2] Ich gliedere meine Darstellungen in die folgenden Schritte:
1.
[084:3] der historische Ort von Jugendarbeit
2.
[084:4] der geschichtliche Weg des Jugendalters und seiner
Bildungsprobleme in der Neuzeit
3.
[084:5] die grundlegenden Bildungsprobleme dieser Geschichte,
1.Der historische Ort von
“Jugendarbeit”
[084:6] Seit sich die als Wissenschaftler bezahlten Vor- oder Nachdenker der
Jugendarbeit annahmen, kann man deren Geschichte wie eine Modeschau lesen:
Jugendarbeit als Beratung und Begleitung, emanzipatorische Jugendarbeit,
antikapitalistische Jugendarbeit, proletarisch-klassenkämpferische Jugendarbeit,
Jugendarbeit als Hilfe bei der Lebensstilsuche, Jugendarbeit als
“Spurensicherung”
, alltagsorientierte Jugendarbeit,
Jugendarbeit als
“street work”
,
“kommunikative”
|b 180|Jugendarbeit,
“bedürfnis- und interessenorientierte”
Jugendarbeit usw. usw. Ungefähr
alle vier Jahre taucht ein neues Angebot in diesem Warenhaus auf. Schauen wir
nur zurück auf die erste Hälfte unseres Jahrhunderts, dann sehen wir sogleich,
daß die Rhythmen der Problemstellungen und Konzepte sehr viel länger waren. Den
unmittelbar Beteiligten schien es damals vielleicht schon anders zu sein; in der
historischen Distanz aber sondern wir heute bereits das Wichtige vom
Nebensächlichen und konstatieren Veränderungen allenfalls im Rhythmus von
Jahrzehnten. Blicken wir gar auf das 19. Jahrhundert, dann werden die Distanzen,
innerhalb derer sich Nennenswertes verändert, noch größer.
[084:7] Man könnte nun meinen, daß diese Differenz der jeweils dünner werdenden
historischen Erinnerung geschuldet ist. Das ist gewiß nicht unrichtig; ebenso
richtig ist aber auch, daß der nicht mehr in die ganz aktuellen gegenwärtigen
Probleme vollständig involvierte Blicks erst in der Lage ist, das historisch
Nennenswerte vom Nebensächlichen und Modischen zu unterscheiden. Die
Unterschiede zwischen den Moden in der Jugendarbeit zwischen 1950 und der
Gegenwart – das ist gerade eine Generation; und was ist das schon im Blick auf
großräumige geschichtliche Bewegungen? – könnten so zu einer einzigen
Fragestellung zusammenschrumpfen, einer Fragestellung, die zudem von den
Jugendpflegeerlassen des Kaiserreichs, der bürgerlichen und der proletarischen
Jugendbewegung des ersten Drittels unseres Jahrhundert weniger weit entfernt ist, als es uns heute, befangen in die höchst
aktuellen alltäglichen Prozeduren von Jugendarbeit, erscheint.
[084:8] Ich möchte die Problematik, mit der wir heute zu tun haben, in drei
Begriffen zusammenfassen: Segregierung, Professionalisierung,
Abstraktifizierung. Diese drei Ausdrücke sind sprachlich häßlich, und ich wähle
sie absichtlich, um damit auf die Doppeldeutigkeit des historischen Prozesses
hinzuweisen.
[084:9] Zum 1. (Segregierung) : Was – seit ungefähr 100
Jahren – mit dem Jugendalter, d. h. jungen Menschen im Alter zwischen 14 und 20
Jahren geschieht, ist unübersehbar. Psychologen nennen das
“Moratorium”
, Soziologen nennen es
“Statuspassage”
.
Jedenfalls scheint es ein Lebensalter zu sein, wo man nirgends wirklich
hingehört; nicht |b 181|mehr in die
Herkunftsfamilie, in die unmittelbare Nachbarschaft, in die Dorfgemeinschaft, in
die Freundeszirkel der Eltern, und noch nicht in das Beschäftigungssystem
unserer Gesellschaft, in die Erwachsenenzirkel, in die professionellen
Kommunikationszusammenhänge. Das weiß jeder. Ebenso weiß jeder, daß diese Phase
eine Art sozial-exterritorialen Raumes konstituiert; diese Leute gehören weder
zu unseren Kindern noch gehören sie zu uns. Außer den Schulen und den
Lehrmeistern weiß für sie niemand einen kulturell eindeutigen Ort anzugeben.
[084:10] Professionalisierung: Seit der Jahrhundertwende, spätestens aber seit
Beginn der Weimarer Republik – der Einrichtung von Ausbildungsstätten nämlich
für Sozialarbeiter, die sich um derartige Probleme kümmern sollten – wird diese
Entwicklungslücke professionell instrumentiert. Es gibt nun Leute, die auf die
Wirklichkeit, in der sie beruflich tätig sein sollen, ausgebildet werden müssen.
Dafür sind generelle Problemstellungen nötig; die speziellen, die Fragen, die im
einzelnen individuellen Fall auftauchen, müssen in irgendeiner Weise dem
Allgemeinen subsumiert werden; andernfalls könnten sie ja nicht ausgebildet
werden. Professionalisierung von Mitarbeitern im Bereich der Jugendarbeit
bedeutet also notwendigerweise das Allgemein- und Abstraktwerden von
Problemstellungen. Das ist der Weg der Wissenschaft, und ich will ihn hier nicht
beklagen. Aber das begünstigte eine quasi-technologische Einstellung.
[084:11] Dieses Abstrakt- und Allgemeinwerden der durch die
Professionalisierung erzwungenen Fragestellungen (ich sollte hier eigentlich ein
Lob auf die fortschrittlichen Pfarrer in Hamburg und Berlin-Wedding einschieben,
die sich noch um eine Balance zwischen Konkretem und Abstraktem sehr intensiv
bemüht haben), dieses Abstraktwerden der Problemstellungen also hatte eine
Entsprechung im Abstraktwerden der Bildungsprobleme des Jugendalters selbst:
denn was soll man eigentlich in jedem Moratorium oder in jener Statuspassage
tun, außer sich auf die eher abstrakten Probleme von Lebensführung zu beziehen?
Diese Frage sah freilich für die bürgerliche Jugend anders aus als für die
proletarische, für die die Überlebensprobleme keineswegs einen derart abstrakten
Charakter annahmen. Dies ist ein schwieriges Thema für sich; ich möchte hier nur
hervorheben, daß durch diese Abstraktifizierung unsere moderne Sicht auf das
Jugendalter – und das ist vor allem die Sicht der Jugendforscher und der |b 182|Wissenschaftler, die sich an
einer
“Theorie”
von Jugendarbeit beteiligen — erst möglich
geworden ist. Ist erst einmal das Jugendalter als ein derartiges
“abstraktes”
Zwischenreich bestimmt, dann können sich die
verschiedenen Wissenschaften, insbesondere Psychologie, Soziologie und Pädagogik
in der Erprobung immer neuer Konstrukte im Hinblick auf das, was dort eigentlich
geschieht, frei entfalten.
[084:12] Diese drei geschichtlichen Tendenzen der Segregierung des
Jugendalters, der Professionalisierung der Umgangsformen mit Jugendlichen und
der Abstraktifizierung der Problemstellungen bewirken zusammen – wie mir scheint
– einen merkwürdigen Effekt: eine allmähliche Inhaltsentleerung dessen, was
“pädagogische Verantwortung”
genannt werden kann; jedenfalls
im Hinblick auf das Jugendalter. Ich glaube das sowohl im Bereich des
praktischen Handelns wie auch im Bereiche der Jugendforschung beobachten zu
können. Die Praxis schwankt zwischen Gewährenlassen, Applaudieren und
gelegentlich gar der Identifikation mit den Ausdrucksformen, Stimmungslagen und
Lebensstilexperimenten der Jugendlichen auf der einen Seite und administrativen
Reglementierungen auf der anderen; das Zwischenfeld, in dem eine inhaltlich
bestimmte pädagogische Verantwortung sich erst entfalten könnte, bleibt
gleichsam unbesetzt. Dem entspricht die wissenschaftliche Attitüde der
Jugendforschung: immer neue Nuancen in der Deutung jugendlicher Selbstaussagen,
ihrer Verhaltensweisen und Umgangsformen, ihrer Attribute und Aktionen werden
zum Gegenstand immer genaueren Verstehens,
“Lebenswelten”
werden rekonstruiert, Biographien nachgezeichnet – aber der Verwendungssinn
solcher Informationen bleibt unbestimmt. Lediglich zu den Rändern hin, bei den
spontan besorgniserregenden Formen jugendlichen Verhaltens, bei
Drogenabhängigkeit beispielsweise, Kriminalität oder Rechtsradikalismus regt
sich auch in der wissenschaftlichen Forschung so etwas wie pädagogische
Verantwortung. Weder die Praktiker der Jugendarbeit noch ihre wissenschaftlichen
Kommentatoren scheinen sich sicher zu sein, was denn aus dem Bestand unserer
kulturellen Tradition derart überliefernswert ist, daß es – neben dem, was die
Schule ohnehin leistet – in der Jugendarbeit repräsentiert werden müsse; die
“gute Kommunikation”
, die momentane
“Verständigung”
, die Aufrechterhaltung eines wenigstens halbwegs
befriedigenden Kontaktes zu einer nicht allzu kleinen Zahl von Jugendlichen ist
uns |b 183|derart wichtig, und mit den
überliefernswerten Gehalten unserer Kulturvverbinden uns selbst nur noch derart dünne Linien, daß wir, nahezu um jeden
Preis, den
“pädagogischen Prozeß”
aufrechtzuerhalten suchen,
das Risiko vermeiden wollen, das jede inhaltliche Bestimmtheit und
anspruchsvolle Erwartung notwendig enthält. Jugendarbeit wird zu einer Art von
Freizeit-Entertainment.
[084:13] Eine inhaltlich bestimmte pädagogische Verantwortung kann sich unter
solchen Bedingungen schlecht entfalten. Wir finden sie heute am ehesten noch da,
wo politische, ökonomische oder religiöse Gehalte den Umgang zwischen
Erwachsenen und Jugendlichen strukturieren und infolgedessen Bildungsprobleme
formulierbar sind. Aber das ist der Kern der pädagogischen Verantwortung: sie
hat einen inhaltlich bestimmten Sinn nur dann, wenn auch ein historisch
bestimmtes Bildungsproblem in die Kommunikationen involviert ist. Schon Anfang
der sechziger Jahre hat ein aufmerksamer Beobachter der Jugendarbeit diese
Tendenzen ironisch so zusammengefaßt:
“Egal was geschieht,
Hauptsache es finden Gruppenprozesse statt”
. Das Vokabular kann man heute
ändern, das Problem ist das gleiche.
2.Anmerkungen zur Geschichte des Jugendalters in
der Neuzeit
[084:14] Das Problem hat seine Geschichte, und es scheint mir nützlich, in
wenigen groben Strichen diese Geschichte zu skizzieren; man kann dann, denke
ich, etwas weniger verkrampft auf die gegenwärtigen Schwierigkeiten schauen.
[084:15] Was wir heute
“Jugendalter”
nennen, beginnt im
nachmittelalterlichen Europa im 16. Jahrhundert – in den italienischen
Stadtstaaten und in Flandern, vor allem in Brügge, ein wenig früher. Es ist ein
Produkt der literarisierten Stadtkultur, des städtischen Warenmarktes und einer
Bildungs- oder Lebenserwartung, die sich auf in die Zukunft hinein offene neue
Entdeckungen, auf – der Möglichkeit nach – neue Lebensstile einstellt. Ich
skizziere ein Beispiel, das diese These erläutern soll:
[084:16] Felix Platter, geboren
1536, Sohn eines Lehrers, der selbst noch in spätmittelalterlicher Attitüde
vagabundierend durch Mitteleuropa zog, 5 Jahre lang, im Alter zwischen 12 und 18
Jahren, verarmt, sich durch Kleinkriminalität ernährend, in einem Pulk von 5 bis
15 jun|b 184|gen Leuten zwischen 12 und
20 Jahren, angeblich um in verschiedenen Schulen lesen und schreiben zu lernen
und die alten Schriftsteller zu studieren. Der Sohn Felix indessen wächst in Basel auf, ein Zentrum des
europäischen Buchdrucks, hat die Bibliothek eines Onkels zur Verfügung, schaut
zu, wie des Nachts in einem abgelegenen Gasthof eine Leiche seziert wird,
begeistert sich für die Medizin, geht als 16jähriger nach Montpellier, um zu
studieren, lernt in nächtlichen Feten mit der Stadtjugend dort die neuesten
(verbotenen) Tänze, will dem Geheimnis der menschlichen Natur auf den Grund
kommen, erlebt dort den Höhepunkt der Kornteuerung, die Verarmung der Bauern
(sie verschwinden aus der Stadt), den Aufstieg von Handwerkern (als er kam,
waren 5, als er ging, 60 Textilhandwerker in der Stadt; und davon konnten
bereits 50 lesen und schreiben), die meisten seiner Freunde und Bekannten waren
“Ketzer”
, das heißt irgendwie calvinistisch oder
lutherisch oder dem Zwingli
nahestehend. Die Stadtkultur legte ihm nahe, etwas zu
“leisten”
; da er nicht zu der materiell produzierenden Gruppe der
Handwerker gehörte, bedeutete das für ihn: beweglich sein, neue Informationen
aufnehmen und verarbeiten (Anatomie), die überlieferten Erfahrungen studieren
und sie mit seinen eigenen vergleichen (Kritik), mit Gleichaltrigen und mit
Freunden aus der Erwachsenengeneration eine Plattform finden. Das alles blieb
eingebunden in die Form des
“Hauses”
, der sozialen Einheit,
die Kontinuität verbürgte (und darin die alten Hierarchien aufrechterhielt, aber
Spielräume zubilligte), die Leistung verlangte (diese aber auf die Zukunft hin
relativ offen auslegte), die Innovationen zuließ (aber unnachgiebig verlangte,
daß sie vor der Tradition einer christlichen Lebensführung gerechtfertigt
werden).
[084:17] Das war eine Jugend an der kurzen Leine. Aus jenen Jahren gibt es
Bilder, die das hervorragend symbolisieren:
|b 185|Giorgione (1477 – 1510): Le tre età dell’uomo.Dürers erstes Selbstbildnis im
Alter von 13 Jahren|b 186|Tizian: The Vendramin Family, Anfang 16. Jh..National Gallery, London
[084:18] Einhundert Jahre später hat sich die Szenerie schon verändert. Es
beginnt nun das, was ich eingangs
“Segregation”
nannte.
Freilich haben Menschen zwischen 12 und 20 Jahren sich auch schon vorher zu
Gruppen zusammengefunden; aber das galt eher als ein kulturelles Randgeschehen.
Nun wird es in die dominanten Deutungsmuster aufgenommen:
“Jugendliche”
werden separat dargestellt:
Häusliche Szene (niederländisch)|b 187|Antoine Le Nain (1588 – 1643),
Die Sängerknaben, Öl auf Leinwand, 30 x 41 cm. Rom, Galleria
nazionale d’arte antica. Palazzo Barberini
[084:19] Das paßt gut zur gleichzeitigen pädagogischen Theorie. Es wird nämlich
in diesen Jahrzehnten (von Comenius) eine Art entwicklungspsychologisches Modell entworfen, in
dem das Jugendalter einen eigenen Platz hat. Das ist verständlich, denn
inzwischen war die Alphabetisierungsidee allgemein akzeptiert, besuchte ein
Drittel der städtischen Jugend die Schulen, waren Jahrgangsklassen eingerichtet
usw. Jugendliche waren immer häufiger
“unter sich”
und
entwickelten, jedenfalls in den Städten und wenn sie zu den ökonomisch
gesicherten Gruppen gehörten, ein eigenes Lebensgefühl, zwar noch in die
Tradition eingespannt, aber doch schon mit Blick auf eine Zukunft, die – immer
noch – ihren Eltern wie eine Fortsetzung des Vergangenen erschien. Dieser
Jüngling zum Beispiel |b 188|Rembrandt, Selbstbildnis, 1629 symbolisiert diese Lebensstimmung genau: lockere Haare, der Blick im
Schatten, aber dennoch genau gerichtet, der halboffene Mund, der zu wissen
scheint, was er sagen will, aber es gerade noch nicht sagt usw. Das ist
die eher intellektuelle Version; die bäuerliche oder kleinhandwerkliche ist
diese:
Frans HalsKnabe mit Fischreuse
(1650?)|b 189|
[084:20] Jugendlichkeit findet ihren eigenen Ausdruck, als psycho-soziale
Position, nun auch schon institutionell gestützt, als Ensemble von
eigentümlichen Aufgaben. Das war die zweite Stufe der europäischen
Entwicklung.
[084:21] Auf der dritten Entwicklungsstufe beginnt das Vertrauen in die
Kontinuität von Tradition und Zukunft zu zerbröckeln. Hat man sich bis weit in
das 18. Jahrhundert hinein kaum um das Jugendleben der 13- bis 20jährigen
gekümmert, das sich am Rande der pädagogischen Institutionen entfaltete, so
erntet beispielsweise Schleiermacher heftige Kritik von Kollegen und Obrigkeit, als er
empfiehlt, sich in das politische und gesellige Studentenleben nicht
einzumischen. Obwohl es nur eine elitäre Gruppe betrifft, ist der Vorgang doch
symptomatisch. Er zeigt zweierlei: Das schwindende Vertrauen in die bildende
Kraft der Lebensformen bewirkt, daß die frühere Großzügigkeit im Umgang mit dem
Jugendalter nun allmählich von pädagogischem Eifer verdrängt, Jugend zum
“pädagogischen Problem”
wird, die Erziehungskontrolle über
die Kindheit hinaus immer weiter ausgedehnt wurde. Diese Seite der Sache
repräsentierten Schleiermachers
besorgte Kritiker. Die andere Seite der Sache demonstrierte Schleiermacher selbst: um nämlich
seine liberale Auffassung zu rechtfertigen, lieferte er eine hermeneutische
Skizze der studentischen Lebenssituation und eröffnete damit eine Einstellung
zur Jugendproblematik, die in der Gegenwart sich zu einem breiten Panorama von
Forschungsaktivitäten entfaltet hat.
[084:22] Kontrolle und Verstehehen, das ist der Blick, mit dem diese beiden
Bilder hergestellt wurden:
Pfarrerfamilie, 19. Jahrhundert|b 190|
[084:23] Glasarbeiterjunge, 1908
[084:24] Aber es steckt noch mehr darin: Der jugendliche Sohn des Pfarrers
kennt zwar die Tradition, aber kann mit ihr nichts mehr anfangen; was wird er
tun? Der junge Minenarbeiter kennt sie nicht, er hat andere Sorgen: er kennt die
generationenlange Kette von Ausbeutungen, die seine Familienüberlieferung
ausmacht; aber nicht nur die: er hat, selbst noch in dieser Lage,
Selbstvertrauen; das Bild appelliert nicht unbedingt an eine pädagogische
Fürsorgepflicht, eher schon an politische Verantwortung. Das Bild repräsentiert
für uns überdies den bisher nicht geschriebenen Teil der Geschichte des
Jugendalters vor 1800, nämlich die Geschichte der bäuerlichen und
kleinhandwerkerlichen Jugend, die wir bisher nur seit der Mitte des 18.
Jahrhunderts wirklich kennen.
[084:25] Was ist die Pointe dieser historischen Skizze?
|b 191|
3.Bildungsprobleme
[084:26] Im ersten der angedeuteten Entwicklungsschritte bestand für den jungen
Menschen das Bildungsproblem seiner Altersstufe darin, sich kognitiv neues
Terrain zugänglich zu machen, wie eine konzentrische Erweiterung seiner
Weltkenntnis. In deren Mittelpunkt oder engeren Kreisen blieben die Verhältnisse
der sozialen Beziehungen, blieben die kulturellen Überlieferungen im Prinzip
konstant. Das Jugendalter hatte die Form gelegentlicher Ausflüge ins Fremde,
eine Bildungsform, die schon Wolfram von
Eschenbach im Parsifal vorgezeichnet hatte.
[084:27] Im zweiten Schritt wird Jugend zu einer sozialen Gruppierung. Die
Bildungsprobleme werden sozial organisiert, nicht nur in den Schulen (die ja nur
von einem sehr kleinen Teil dieser Altersgruppe besucht wurden), sondern vor
allem in den formellen und informellen Altersgruppierungen. Und sie werden
tendenziell am Erwerb
“theoretischer”
Kenntnisse orientiert,
d. h. daß das zu erwerbende Wissen abstrakter, aber auch die dabei von
Erwachsenen zu erbringende Anstrengung größer wird (mit der Aufforderung zur
Nachahmung war es nicht mehr getan!). Der Jugendliche, immer noch in die
patriarchalautoritäre Struktur des Hauswesens eingebunden, muß sich also mit der
Kultur dieses Hauses auseinandersetzen, sich die Vernunftprinzipien
gesellschaftlich nützlicher Tätigkeit aneignen und dies mit Normen der
Gleichaltrigen-Gruppen balancieren.
[084:28] Für den dritten Schritt hat die europäische Entwicklung noch eine
weitere Pointe parat. Die seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts langsam
fortschreitende
“Instrumentierung”
der jugendlichen
Geselligkeit in Gruppen, Vereinen, Verbänden, schließlich auch in den
Nachbarschaftsheimen, Gemeindehäusern, Häusern der offenen Tür, Jugendzentren
usw. bringt im Prinzip nichts Neues. Die Variationen sind nur
soziologisch-historisch von Interesse, nicht aber bildungstheoretisch. Neu ist
indessen die Identitäts-Thematik. Sie nahm ihren Anfang zwar nicht in den
Generationen der Jugendlichen, sondern bei den Erwachsenen: bei den
Ich-Entwürfen der Romantiker. Aber inzwischen ist der Terminus gleichsam zum
Hätschelkind der Jugendtheorie geworden. Dieses Symptom ist ambivalent:
einerseits ist es die entwicklungslogische Fortsetzung einer Bewegung der
“Moderne”
, die in der Frührenaissance begann und, nachdem
Schicht um Schicht gleichsam |b 192|abgetragen wurde, nun bei der Frage nach dem landet, was das
“Ich”
sein könnte (Was ist die Welt? Was sind wir? Was bin
“ich”
?). Andererseits signalisieren die Beliebtheit des
Terminus und die dabei bevorzugten Theorien eine problematische Schrumpfung der
Problemstellung: in der psychologisierenden Zurichtung der Identitäts-Thematik
auf die Fragen nach der Form jugendlicher Identitätsprobleme fallen die
Fragen nach den Inhalten, an denen sich diese Thematik entfaltet, unter
den Tisch. Wir wissen heute viel über
“Kommunikation”
zu
sagen, ob sie gut oder schlecht, verständnisvoll oder nicht, das
“Selbst”
des Jugendlichen unterstützend oder behindernd ist.
Wenig aber getrauen wir uns zu sagen, welche Inhalte – unserer eigenen
Überzeugung nach – zukunftsfähig sind und welche es nicht sind. Die Attitüde
dessen, der alles zu verstehen bereit ist (ich spreche von Pädagogen in der
Jugendarbeit, nicht von Gymnasialdirektoren, Schulverwaltungsbeamten,
Lehrmeistern, Politik-Funktionären) liegt uns näher als die Attitüde dessen, der
Aufgaben stellt, der sich selbst als nachahmenswertes Beispiel einer Lebensform
guten Gewissens empfiehlt, der etwas fordert und dabei das Risiko der Kritik
oder gar Verweigerung eingeht.
[084:29] Darin stecken Probleme, die mit
“Jugendbildung”
zu
tun haben, nicht nur am Rande, sondern zentral. Ich möchte vier Ebenen solcher
Probleme unterscheiden:
1.
[084:30] Die Welt ist immer schon, für jeden Jugendlichen, eine
“gedeutete”
Welt. Wer Jugendliche erziehen will,
schuldet ihnen, und zwar unabhängig davon, ob sie es von ihm ausdrücklich
erwarten, eine Erläuterung dieser Deutungen.
2.
[084:31] Die vorliegenden Deutungen (in Ökonomie, Politik, Musik,
Literatur, bildender Kunst, Familienformen, Lebensweisen usw.) sind nicht
ohne weiteres zukunftsfähig. Der Pädagoge schuldet den Jugendlichen deshalb
ein begründetes Urteil über die Güte der vorgefundenen Deutungen,
über das, was nichts als aktuelle Mode ist und das, was über Modisches
hinaus auch morgen noch Gültigkeit beanspruchen kann.
3.
[084:32] Derartige Aneignungen und Überschreitungen von Weltdeutungen
geschehen nicht von selbst, nicht zwanglos nebenbei, nicht in lässiger
Kommunikation, nicht in Discos und Gruppendynamik. Sie erfordern Leistungen,
d. h. Mühe und Anstrengung, Aufmerksamkeit auf Sachen und Probleme,
begründetes Urteil.
|b 193|
4.
[084:33] Die Bildungsbedeutung derartiger
“Leistungen”
muß anschaulich gemacht werden, und das gelingt nur
durch anschauliche Kompetenz des Pädagogen selbst. Wer selbst keinen Kontakt
mehr mit der Kultur der Moderne hat, wird sie auch nicht repräsentieren
können. Er kann sich dann vielleicht als Freizeittechniker oder Disc-Jockey
oder Gesprächstherapeut empfehlen, nicht aber als Jugend-Pädagoge.
[084:34] In der kulturtheoretischen Diskussion ist derzeit viel von der
“Post-Moderne”
die Rede. Damit ist gewiß ein wichtiger Zug
gegenwärtiger Kulturentwicklung getroffen: historisierende Architektur, auf
Innerlichkeit und phantastische Gehalte sich konzentrierende Literatur, Distanz
zur Technik, Vorliebe für vorindustrielle Produktionsweisen,
“Altstadt-Feste”
, Wut auf Beton, Lob der nicht-vernünftigen
Lebensgehalte, Suchen nach dem Archaischen usw. In der Erziehungskultur unserer
Tage findet diese Tendenz ihren Niederschlag in den Selbsterfahrungskulten, in
“Bedürfnis”
-Orientierung, in
“Erfahrungsnähe”
, in
“Kommunikation”
, in der Vorliebe
für
“lebensweltliche”
Zusammenhänge, in dem Eifer,
jugendliche Ausdruckssymbole zu deuten usw.
[084:35] Das alles ist nicht schlechterdings falsch. Verkehrt scheint mir aber,
dies als
“Post-Moderne”
zu deuten, so, als gingen wir einem
neuen Zeitalter entgegen, in dem die Rationalitätsstandards unsere Vergangenheit
ausgedient hätten, als wäre die europäische Moderne nichts anderes gewesen als
Naturwissenschaft, Technik, rationale Konstruktion des Warenverkehrs
(Kapitalismus und staatliche Planwirtschaft also), funktionalistische
Architektur, Jahrgangsklassen, Formierung des Nachwuchses nach
gesellschaftlichen Nützlichkeitskriterien usw. Diese Moderne war immer auch, und
zwar von ihrem Anfang an, jene andere Seite, mal stärker, mal schwächer
ausgeprägt. Sie hatte das Problem zu lösen, wie eine
wissenschaftlich-technische Zivilisation möglich sein kann, ohne die Humanität,
und damit auch deren irrationale Elemente, preiszugeben.