[004:1] Bei der Erörterung des mir gestellten Themas kann man sich nach
zwei Richtungen wenden, je eine von zwei möglichen Seiten der Sache
betrachten. Die eine Möglichkeit wäre, in den pädagogischen Raum
hineinzublicken, die andere, den Blick nach außen auf die Bedingungen dieses
Raumes zu richten. Nun geht es auf dieser Tagung ja eigentlich um das
Bewußtsein des Sozialarbeiters. Das Bewußtsein aber ist mindestens ebenso
stark durch das
„Außen“
bestimmt, wie durch das, was er
innerhalb seines Arbeitsraumes vorfindet und regeln muß. Zwischen beiden,
dem Innen- und dem Außenraum, besteht ein kompliziertes Verhältnis von
Bedingungen, Abhängigkeiten, Autonomien, das ich hier nicht erörtern kann.
Ich will mich darauf beschränken, einiges über das Bewußstein des Sozialarbeiters und seine Praxis zu sagen, soweit es sein und
seiner Arbeit Verhältnis zu jenem Außenraum betrifft.
[004:2]
„In Goethes Welt
ist das Klappern der Webstühle noch eine Störung gewesen, in
der Zeit Ulrichs begann man das Lied der
Maschinensäle, Niethämmer und Fabriksirenen schon zu
entdecken. Man darf freilich nicht glauben, die Menschen
hätten bald bemerkt, daß ein Wolkenkratzer größer sei als
ein Mann zu Pferd; im Gegenteil, noch heute, wenn sie etwas
Besonderes von sich hermachen wollen, setzen sie sich nicht
auf den Wolkenkratzer, sondern aufs hohe Roß, sind geschwind
wie der Wind und scharfsichtig, nicht wie ein
Riesenrefraktor, sondern wie ein Adler. Ihr Gefühl hat noch
nicht gelernt, sich ihres Verstandes zu bedienen, und
zwischen diesen beiden liegt ein Unterschied der
Entwicklung, der fast so groß ist wie der zwischen dem
Blinddarm und der Großhirnrinde. Es bedeutet also kein gar
kleines Glück, wenn man darauf kommt ..., daß der Mensch in allem, was ihm für das Höhere gilt,
sich weit altmodischer benimmt, als es seine Maschinen sind.“
(Robert Musil)
[004:3]
„Ausdruckskrisen
und Anfälle von Erotik:/ Das ist der Mensch von
heute, das Innere ein Vakuum,/ die Kontinuität der Persönlichkeit/ wird gewahrt von den Anzügen,/ die bei gutem Stoff zehn
Jahre halten./ Der Rest Fragmente./ halbe Laute,/ Melodienansätze aus Nachbarhäusern,/ Negerspirituals/ oder Ave Marias. “
(Gottfried Benn)
[004:4]
„Vollende nicht deine Persönlichkeit,
sondern die einzelnen deiner Werke.“
–
„Antisynthetik. Verharren vor dem
Unvereinbaren. Das Nebeneinander der Dinge zum Ausdruck
bringen. Die Dinge zersprangen. Die Bruchflächen funkeln lassen.“
–
„Wir alle leben etwas anderes, als wir sind.“
(Gottfried Benn)
[004:5]
„Die alten Schriften bekommen viele
Deutungen, die gegenüber dem schwachen Material mit einer
Energie vorgehen, die nur gedämpft ist. ... durch die Ehrfurcht, aber die man sich geeinigt hat. Alles geschieht in der
ehrlichsten Weise, nur daß innerhalb einer Befangenheit
gearbeitet wird, die sich niemals |b 80|löst, keine Ermüdung aufkommen läßt und durch das
Sichheben einer geschickten Hand meilenweit sich verbreitet.
Schließlich heißt aber Befangenheit nicht nur Verhinderung
des Ausblicks, sondern auch jene des Einblicks, wodurch ein
Strich durch alle diese Bemerkungen gezogen wird.“
(Franz Kafka)
[004:6]
„Das heutige Geschehen verlangt eine neue
Art von Voraussicht und eine neue Methode ... Zugleich ist
es nötig, daß sich unser Fühlen, Denken und Handeln in
mancher Beziehung radikal von den bisher erfolgten Methoden
unterscheidet. Nur durch die Umformung des Menschen selber
ist ein Umbau der Gesellschaft möglich. Die Neubestimmung
der menschlichen Aufgaben, die Umwandlung der menschlichen
Fähigkeiten und die Umgestaltung unserer moralischen Gesetze
sind nicht etwa ein Thema für erbauliche Predigten und
utopische Visionen. Sie sind lebenswichtige Fragen für uns
alle, und wir können lediglich darüber nachdenken, was
sinnvollerweise in dieser Richtung geschehen kann.
“
(Karl Mannheim)
[004:7]
„
‚Man muß es
schätzen, wenn ein Mann von heute noch das
Bestreben hat, etwas Ganzes zu sein‘
, sagte Walter.
‚Das gibt es nicht
mehr‘
, meinte Ulrich.
‚Du brauchst bloß in eine Zeitung
hineinzugehen. Sie ist von einer unermeßlichen
Undurchsichtigkeit erfüllt. Da ist die Rede von so
viel Dingen, daß es das Denkvermögen eines Leibniz
überschritte. Aber man merkt es nicht einmal. Man
ist anders geworden. Es steht nicht mehr ein
ganzer Mensch einer ganzen Welt gegenüber, sondern
ein menschliches Etwas bewegt sich in einer
allgemeinen Nährflüssigkeit‘
.
‚Sehr richtig‘
, sagte Walter sofort.
‚Es gibt eben keine ganze Bildung
mehr im Goetheschen Sinn. Aber darum gibt es heute
auch zu jedem Gedanken einen Gegengedanken und zu
jeder Neigung gleich die entgegengesetzte. Jede
Tat und ihr Gegenteil finden heute im Intellekt
die scharfsinnigsten Gründe, mit denen man sie
sowohl verteidigen wie verurteilen kann. Ich
begreife nicht, wie Du das in Schutz nehmen
magst‘
.
“
(Robert Musil)
[004:8] In diesen Äußerungen ist eine grundlegende Skepsis angedeutet, die
das Bild betrifft, das sich der Zeitgenosse von sich macht. Solche Skepsis
scheint nichts Neues zu sein. Sie ist, soweit sie sich auf unser Verhältnis
zur Tradition, zur Vergangenheit, zum Überlieferten bezieht, seit der
Kulturkritik geläufig. Allein in diesen Zitaten ist mehr gesagt: Die
Grundlagen der Kulturkritik bis heute, das in ihnen vorausgesetzte und
festgehaltene
„Menschliche“
, das
„Humanum“
, eben das pathetische Rückgrat solcher Kritik,
wird hier angegriffen, in seiner Gültigkeit bezweifelt und selbst noch als
Rest der traditionellen Welt verstanden.
[004:9] Genau das ist der Ausgangspunkt dieses Referates: Die Sprache, die
wir reden, ist unserer Praxis häufig nicht mehr angemessen, jedenfalls
„in allem, was ihm (dem Menschen) für das Höhere
gilt“
; die Voraussetzungen, die wir im Hinblick auf den heute
realen Menschen machten, entbehren der Entsprechung in der Wirklichkeit, denn
„die Kontinuität der Persönlichkeit
wird (lediglich) gewahrt von den
Anzügen“
; unsere Welt ist ein Nebeneinander von Heterogenem. Die
Konsequenzen wären: eine Kritik unserer Theorie im Hinblick auf das heute
Menschenmögliche, und eine Kritik unserer Praxis, unserer Methoden im
Hinblick auf die solche Praxis leitenden Vorstellungen von Sittlichkeit,
Menschlichkeit, Normalität, Gesundheit usw. Es handelt sich dabei nicht nur
um ein Problem, das |b 81|den Sozialarbeiter selbst, seine
Theorie und Praxis betrifft, sondern ebenso um ein Problem, das überall
auftaucht, wo Menschen erziehend oder helfend miteinander umgehen, wo
bestimmte Vorstellungen des Richtigen und Rechten mit den praktischen
Möglichkeiten zu leben, d.h. dieses Richtige und Rechte zu verwirklichen, zusammentreffen und
Konflikte hervorrufen. Denn es ist nicht das Problem eines Berufes, sondern
das Problem unserer Gesellschaft.
[004:10] Ich will den theoretischen Äußerungen fünf Beispiele aus der alltäglichen Lebenspraxis an die Seite stellen:
[004:11] (1) Ein Mädchen kauft sich eine neue Lampe, die ihrem
persönlichen Geschmack in besonderer Weise entspricht. Sie erlebt
dann aber, daß sie eines Tages genau die gleiche bei Bekannten
findet, das geschieht öfter, und schließlich sieht sie sie in
Schaufenstern und wird sich der massenweisen Produktion dieses
Artikels bewußt, der ihr ursprünglich als ein ganz individuelles,
ihren persönlichen Bedürfnissen entsprechendes Exemplar erschienen
war. Der Spaß ist ihr verdorben. Sie fühlt sich hintergangen,
irgendwie betrogen, sie ist verärgert und äußert das. Ich erkläre
daraufhin, daß das typisch bürgerlich gedacht und gefühlt sei. Sie
erwartet nämlich von den produzierten Dingen, daß sie imstande
seien, als ihre persönliche Ausdruckswelt zu fungieren, ihr
persönliches Bedürfnis nach einer individuellen Innerlichkeit und
deren Ausdruck zu befriedigen. Sie stellt damit an die moderne
Gesellschaft unerfüllbare Anforderungen; ein Serienprodukt kann das
seinem Wesen nach als einzelnes Ding nicht mehr leisten. Das Mädchen
resigniert und bastelt sich in Zukunft ihre Lampe selbst.
[004:12] (3) Ein Kind wächst in einer Familie auf, die einen kultivierten
und sehr klaren, sich in alle Lebensbereiche erstreckenden Stil hat.
Die Hausmusikpflege ist dieser Familie genauso eigentümlich wie –
sagen wir – die Wohlerzogenheit der Kinder und die religiöse Bindung. In
allem aber drückt sich dieser einheitliche Familienstil aus. Der jugendliche verläßt diese Familie und erlebt, daß er die gewonnenen
Erfahrungen nicht übertragen kann, daß die widersprechenden
Erfahrungen, die er nun in der Gesellschaft macht, vor der Wahlurne,
im Berufsleben, im Kino, mit moderner Kunst, daß diese mit seinem
Ich, so wie es in der Familie gebildet worden ist, nicht in Einklang
zu bringen sind. Er erfährt, soweit er in die
moderne Gesellschaft hineinzuwachsen versucht, daß die in der
Familie erworbenen Fähigkeiten und Wertvorstellungen offenbar nur
dort gelten, daß die Familie offenbar ein Isoliertes Inseldasein in einer ganz anderen Welt führt. Er versucht
sich dem Neuen anzupassen; dieser Versuch mißlingt, weil er dieses
Anpassen nicht gelernt hat; er distanziert sich von der Familie,
randaliert und verwahrlost. Das Jugendamt schickt ihn in ein Heim,
das nach dem
„Familienprinzip“
organisiert
ist.
[004:13] (3)
DerLeiter einer konfessionellen Jugendgruppe sieht das Wesen seiner
Arbeit darin, eine Gemeinschaft heranzubilden, die sich einem
gemeinsamen, das ganze Leben umgreifenden Auftrag unterstellt,
gleichsam eine Elite-Gruppe im Dienste einer christlich-kirchlichen
Erneuerung zu schaffen. In der Nachbarschaft ist ein Heim der
offenen Tür. Er erlebt nun, wie seine Jungen immer häufiger dieses
Heim besuchen, in dem ihnen ein vielseitiges Freizeitprogramm
günstige Angebote macht. Damit ihm die Jungen nicht weglaufen,
übernimmt er notwendig und ohne sich der Tragweite bewußt zu sein,
zunächst wenig, dann aber immer mehr von diesem Stil einer
Jugendbetreuung, bis er eines Ta|b 82|ges
feststellt, daß er eigentlich zu einer Art Konferencier, einem Arrangeur von immer neuen unterhaltenden und
unterrichtenden Veranstaltungen geworden ist und sich seiner "eigentlichen" Aufgabe völlig entfremdet hat. An dieser "eigentlichen" Aufgabe aber hält er fest; er versucht, dem
„entfremdenden“
Trend entgegenzuarbeiten, es gelingt ihm aber
nur bei Wenigen. Bei der größeren Zahl resigniert er. Die
Vorstellung, mit einer Elite zu arbeiten, verstärkt sich natürlich
bei ihm, ebenso seine kulturkritischen Neigungen. Seine Ideologie,
die etwas anderes ist als sein Glaube, nämlich die Vorstellung von
einer bestimmten Art, in der der Glaube sozial zu fungieren habe,
über bestimmte Konsequenzen, die sich aus ihm für die Arbeit mit
Jugendlichen ergeben, oder auch Vorstellungen solcher Art, die mit
seinem Glauben nichts zu tun haben, diese Ideologie aber gibt er
nicht auf.
[004:14] (4) Ein Junge aus einer völlig geordneten,
„normalen“
Familie beginnt, Geld zu stehlen. In der
Beratungsstelle stellt sich heraus: Der Vater hat ihn in eine
Internatsschule geschickt, die er schon selbst besucht hat, eine
„ausgezeichnete Schule“
. Der Junge sagt über
diese Schule, ihre Methoden seien
„unmodern“
, er
ginge lieber in eine öffentliche Stadtschule. Er liest viel
Zeitschriften, zeigt vor allem Interesse für Technisches und
Abenteuergeschichten. Der Vater ist der Meinung, der Junge brauche
nicht so viel zu lesen, er solle lernen; außerdem habe er Freunde,
die ihm, dem Vater nicht gefielen und die er dem Sohn daher
verbiete, denn ein Erzieher habe die Pflicht, über die
Freundschaften seines Zöglings streng zu wachen. Außerdem weist der
Vater immer auf seine eigene Kindheit hin:
„Ich habe
auch kein Taschengeld gehabt“
,
„Ich habe auch
gehorchen müssen“
. Die Mutter äußert sich in der
Beratungsstelle gar nicht. Das Familienleben ist ordentlich, korrekt, im landläufigen
Sinne normal; dem Jungen
„fehlt es an nichts“
–
aber er erlebt schon in seiner kindlichen Umwelt eine andere Wirklichkeit, die mit der Familie nicht in
Einklang zu bringen ist. Er versucht diese Diskrepanz – eine
Diskrepanz zwischen Ideologie und Wirklichkeit – durch sein
Verhalten zu kompensieren; er stiehlt. Der Erziehungsberater schickt
ihn in ein anderes Internat.
[004:15-16] (5) Erwachsene und Jugendliche sitzen zusammen im Kino und sehen
einen Durchschnittsfilm. Die Jugendlichen äußern laute
Zwischenbemerkungen, bisweilen ironische Beifallsrufe,
kommentierendes Gelächter. Die Erwachsenen sind empört, sie sind
beleidigt, in ihrer Faszination gestört zu werden; aber sie erklären
diesen Film für jugendgefährdend. Man wird zugeben müssen, daß die in jedem
Fall gezogene Konsequenz nicht nur heute möglich, sondern sogar
nicht gerade selten ist. Ich behaupte nun, daß diese Konsequenzen
auf einer falschen Interpretation der Fälle beruhen, auf einem
falschen Aspekt, unter dem jeweils das Verhältnis gesehen wird, in
dem die einzelne Situation zu unserer gegenwärtigen Wirklichkeit
steht. Meine Absicht im Folgenden ist der Versuch, das zu begründen
und einen möglicherweise richtigeren Aspekt anzudeuten.
2. Anthropologische Aspekte
[004:20] Wenn von dem gesprochen wird, was der Mensch braucht, um Mensch zu
sein, von seinen Grundbedürfnissen, von den Grundverhältnissen, die er immer
und überall erfahren müsse, um das Humanum
in sich verwirklichen zu können, dann wird immer vorausgesetzt, daß es das
„Allgemein-Menschliche“
unabhängig von besonderen
Zeiten und Räumen überhaupt gebe. Aber stimmt denn diese Gleichung
„Mensch = Mensch“
? Sie stimmt nur, wenn man das mit Menschlichkeit bezeichnete soweit
formalisiert, daß es eben auf alle Zeiten und Räume paßt, wenn man allgemein
von menschlichem Kontakt, von Geborgenheit, Anerkennung, Selbständigkeit
spricht. Im Grunde aber war der Mensch immer ein anderer, ganz besonders in
dem, was je eine Zeit für das wesentlich Menschliche hielt. Die
Behauptung, das allgemeingültige Wesen des Menschen spreche sich in der oder
jener Hinsicht aus, ist nichts als der Versuch, dem von einer Generation
oder Epoche geforderten Menschenbild zur Durchsetzung zu verhelfen, oft
sogar ein nachträglicher Versuch, Verschwindendes festzuhalten, zu retten
gegen eine neue, andere Entwicklung. Eine solche Behauptung aber ist
ideologisch.
[004:21] Den organisch-einheitlichen Körper kannte Homer nicht, bei seinen Helden
„bewegen sich die hurtigen Glieder“
(
Snell,
1955
); der Körper ist keine Einheit, sondern
eine Vielheit. Begriffe wie unser
„Gemüt“
und
„Innerlichkeit“
hätte der Barockdichter Martin Opitz überhaupt nicht verstanden. Es ist zweifelhaft, ob der leibeigene Bauer des 15. Jahrhunderts so etwas wie eheliche Liebe gekannt hat. Der christliche Glaube galt als eine Bedingung, ohne die man im Vollsinne des Wortes nicht Mensch sein konnte. Den Webern um 1800 erschien es unmenschlich, mehr zu arbeiten, als zur unmittelbaren Befriedigung der Bedürfnisse des Augenblicks notwendig war. Und daß –
um einen Menschen zu erziehen, zu bilden – dessen Selbsttätigkeit
unerläßlich sein, daß er Erfahrungen machen müsse im
eigenen Handeln, das gibt es erst seit Johann Gottfried Herder und Johann Heinrich Pestalozzi.
[004:22] Was der Mensch wirklich ist und sein soll, wird jeweils neu und
anders bestimmt. Und jene verräterischen und heute so geläufigen Attribute
wie
„echt“
oder
„eigentlich“
bezeichnen nur die Verlegenheit, in der wir uns befinden und die Robert Musil mit Recht das
„Prinzip des unzureichenden Grundes“
genannt hat. Eine gewisse und vielleicht berechtigte
Scheu, die Überlieferung zu verlassen und das Neue präzise und konkret zu
be|b 86|stimmen, läßt uns stattdessen vom
„echt Menschlichen“
reden, in der uns selbst täuschenden
Meinung, es sei damit die Rede von irgendetwas Wirklichem.
„Der sogenannte echte Mensch ... ist die Leerstelle
für die Erfüllung des Traums der Vielen.“
(Horkheimer 1957:
264)
[004:23] Wenn also in der sozialen Arbeit die Rede von Grundbedürfnissen
ist, müssen wir uns fragen, welchen konkreten Ausdruck denn die Bedürfnisse
und ihre Befriedigung finden sollen; erst dann wird sich zeigen, ob hinter
solchen Begriffen ideologische Vorstellungen stehen und welche Wirklichkeit
mit ihnen gemeint ist. Denn für solche Bestimmung bedarf es noch anderer
Wirklichkeiten, die gleichfalls als besondere, für sich bestehende
erscheinen; in ihnen zusammen und in ihrer Beziehung ist allein der Begriff
realisiert.
„Das Einzelne für sich entspricht seinem Begriffe nicht.“
(Hegel 1827:
§
213)
[004:24] Ruth Bang
(1958: 38) nennt unter den unerläßlichen und immer gültigen Grundbedürfnissen
des Menschen die Anerkennung. Man kann sich sicher sehr schnell einigen, ohne zu merken, wie verschiedenartig und
u. U. sogar widersprechend die Vorstellungen sind, die man dabei hat. Das,
was ich anerkenne, ist doch nicht das Kind an sich und unmittelbar, sondern
immer nur das Kind in einer bestimmten Äußerung, in einem Verhalten, einer
Leistung. Das Entscheidende ist doch nur, durch das Medium welcher
Äußerung sich das Kind als solches erfährt und welcher Zusammenhang schließlich in den vielen
Anerkennungsakten und den Akzenten, die in ihnen gesetzt werden, sich
herstellt. Erst dann wird ein solcher Begriff konkret. Und es ist dann auch
entscheidend, ob ich Ausdrücke von Gehorsam und Einordnung oder von
Selbständigkeit und Emanzipation, emotionales oder rationales, impulsives
oder distanziertes Verhalten, besonders durch Anerkennung honoriere; oder:
was nenne ich überhaupt Gehorsam oder Selbständigkeit, was nenne
ich einen Fehler, den das Kind je als solchen zu spüren bekommt, auch wenn ich ihn dulde?
[004:25] An diesen Hinweisen ist – so hoffe ich – deutlich geworden, daß
die bestimmten Vorstellungen, die wir von dem
„normalen“
Menschen haben, wenn man will, die
„Ideologie eines
Menschenbildes“
, bis in die sogenannten
„Grundbedürfnisse“
hinabreicht, von denen man meint, sie lägen nun
wirklich jenseits alles Bedingten und Relativierbaren, sie seien gleichsam
anthropologisch allgemeingültig und ideologiefrei. In einer
autoritär-patriarchalischen Familie vor 200 Jahren waren die
„Grundbedürfnisse“
sicher nicht schlechter befriedigt
als in einer normalen modernen. Trotzdem aber endet ein Jugendlicher, der
heute unter jenen Familienverhältnisse aufwächst, u. U. und wenn es gut geht, in der Erziehungsberatung.
Auch Geborgenheit ist eben immer eine bestimmte und besondere, und die Rede von Geborgenheit und
Entwurzelung – wenn sich hinter ihr nicht eine kulturpessimistische
Ideologie verbirgt – scheint mir nichts als ein Umgehen mit leeren Begriffen
zu sein, solange offen bleibt, welche konkrete bergende Lebensform, welche
konkreten Wurzeln gemeint sind.
|b 87|
[004:26] Solche Formulierung des Allgemein-Menschlichen, ob es nun als
„Grundbedürfnisse“
oder als andere Formulierung
auftritt, bezeichnet recht gut die Verlegenheit, in der wir uns befinden und
die auf dieser Tagung erörtert werden soll. Sie enthält nämlich im besten Falle die Einsicht, daß mit einem einseitig traditionell oder wie auch immer
bestimmten Menschenbild keine allgemeine Grundlegung der sozialen Arbeit
geleistet werden kann. Sie macht uns aber andererseits auch deutlich, daß
das eigentliche Problem noch offen ist – nämlich: Wie muß denn nun der Mensch bestimmt sein, der in unserer Gegenwart lebt
und leben , und unter welchen Voraussetzungen hat soziale Arbeit zu geschehen?
Oder konkreter: In welcher Weise verwirklicht sich heute der Mensch, wie hat er sich
schon durch die ihn umgebende Welt, in dem Zusammenhang
„anderer Wirklichkeiten“
bestimmt, wie sieht die Praxis seines Lebens
aus?
[004:27] Diese Frage wird leicht verbaut und zwar durch das merkwürdige Phänomen, daß der
Mensch im Laufe der letzten 150 Jahre zwar die Umstände, in denen er lebt,
ziemlich grundlegend verändert hat, selbst aber – jedenfalls in seinem
Bewußtsein – der alte geblieben ist. Er verhält sich zu sich selbst so, wie
ihn eine vorindustrielle Generation ausgelegt hat. Er glaubt von sich, daß
er das bleiben könne, was er war, während er sich doch selbst das Leben zu führen auferlegt hat, das mit diesem Einstmals nur noch
wenig zu tun hat.
[004:28] Daß so etwas nicht ohne Schwierigkeiten bleibt, müßte eigentlich
auf der Hand liegen. Und diese Schwierigkeiten äußern sich auch in der Tat
als Kulturpessimismus, als Generationsspannungen, in dem Gefühl einer
Berufsgruppe – eben der Sozialarbeiter –, überfordert zu sein, als Ausweich- und Fehlhaltung im individuellen
Bereich, oder auch als verfehlte Städteplanung, als Verkehrsproblem, oder
als besondere Ideologieanfälligkeit, Irrationalismus, falsches Sicherheitsbedürfnis usw. Vor diesem Hintergrund entsteht für die soziale Arbeit eine ganz
allgemeine Aufgabe, die sie mit vielen gesellschaftlichen Institutionen
teilt, die sich bei ihr aber in aller Schärfe stellt: Dem Menschen helfen, sich zu verändern, sich
einzustellen auf seine Lage, seine Praxis und seine Theorie, sein Verhalten und sein Bewußtsein in
Übereinstimmung zu bringen. Genau das nämlich geschah nicht in dem eingangs
angeführten Beispiel des Mädchens mit der Lampe: sie kaufte aus der modernen
Produktion, ohne sich über die Wirklichkeit und die Konsequenzen solchen
Verhaltens klar zu sein. – Daß die zwischenmenschlichen Beziehungen heute
ein interessantes und vieldiskutiertes Thema sind, ist in diesem
Zusammenhang symptomatisch. Denn in ihnen werden
„die sozialen Veränderungen unmittelbar in
psychische Veränderungen umgesetzt“
.
(Mannheim 1958:
24)
; in ihnen prallen aber auch unmittelbar die Hoffnungen, die ich hege,
die Vorstellungen, die ich vom Menschen habe, und die realen Möglichkeiten
des Verhaltens aufeinander. (Denn zwischenmenschliche Beziehungen gibt es in
fast allen Bereichen des Lebens).
|b 88|
[004:29] Soll das alles nun heißen, daß die alten Ideologien durch eine
neue, die alten Menschenbilder durch ein neues abzulösen wären? Nein und ja!
Ein Charakteristikum unserer Gesellschaft besteht darin, daß sie historisch
ist. Das heißt, es gehört zu ihrem Wesen, daß sie über ihr Entstehen, ihre Geschichte
und die Überlieferung reflektiert und daß auf diese Weise das
Vorangegangene, die Vergangenheit mit ihren vielfältigen Möglichkeiten
menschlicher Verwirklichung in ihr aufgehoben ist. Es gehört damit zu ihrer
Struktur, daß die Vielheit der Aspekte, der Weltanschauungen oder Ideologien
in ihr als Möglichkeiten gegenwärtig sind und an den verschiedenen Stellen
ins Spiel treten können. Ebenso aber gehört es zu ihrem Wesen, daß in ihr
keiner dieser Aspekte verabsolutiert werden kann. Keiner dieser Aspekte kann und darf das
Ganze zu umgreifen versuchen, da dies Ganze ja eben in jenem Nebeneinander existiert. Das, was also bisher
die Funktion einer das Ganze umgreifenden Ideologie hatte, christlich,
humanistisch, sozialistisch oder wie auch immer, das wird jetzt ausgefüllt
durch ein bestimmtes Verhalten all diesen möglichen Aspekten gegenüber.
Praktisch will ich damit sagen: eine christliche Beratungsstelle geht, wenn
sie sich so bezeichnet, an ihrer eigentlichen Aufgabe vorbei. Die Aufgabe
ist der sachentsprechende Umgang mit den Weltaspekten – wobei die Sache in
der Situation des Hilfsbedürftigen besteht –, ist deren richtige Verwendung.
[004:30] Ich sagte, die allgemeinste Aufgabe der sozialen Arbeit bestände darin, allen Menschen zu helfen, sich auf die Lage umzustellen. Ich
meine nicht die individuelle Lage eines einzelnen, obwohl sich dann auch für sie Konsequenzen ergeben. Ich meine
vielmehr die Lage der Gesellschaft, von der ja die Lage des Einzelnen auch
nur ein variiertes, pointiertes oder verzerrtes Spiegelbild ist. Was also
ist unsere Lage? Das über den historischen Charakter unserer Gesellschaft Gesagte muß uns noch für die soziale
Praxis ergänzt werden. Unsere Gesellschaft ist nicht einsinnig, sondern
mehrsinnig. Es gibt in ihr nicht nur die heterogensten Aspekte, sondern auch
heterogene Bereiche, die je anderen Strukturgesetzen folgen. Johann Heinrich Pestalozzi konnte noch glauben, daß das
Hineinwachsen in die Gesellschaft wie ein Ausbreiten in konzentrischen
Kreisen vor sich gehe, so daß schließlich auch der Kreis des Staates noch
als Analogie zur Familie zu verstehen sein konnte (Landesvater). Das im
inneren Kern, in der Familie Erworbene behielt seine Gültigkeit in jedem
sozialen Bereich, in ihr konnten die sittlichen Fundamente für alles Weitere
gelegt, die Elemente alles Komplizierteren gelernt werden. Der Stufengang
war der vom Einfachen zum Komplizierten.
[004:31] Dieses Bild stimmt nicht mehr. Familie, Politik, Arbeit,
industrielle Freizeit lassen sich nicht mehr als Analogien verstehen. Es
sind heterogene Bereiche, disparat.
Sie sind, wie ich es ausdrückte, mehrsinnig. Jeder Bereich hat einen
eigenen, autonomen, von den anderen unabhängigen Sinn. Die Familie ist einer – freilich zeitlich und vielleicht auch in anderer Hinsicht der
erste. Aber
„
das vielgebrauchte Wort von
‚Keimzelle des |b 89|Staates‘
ist einfach falsch. Im Staatsaufbau z.B. hat die Familie keine Heimat mehr“
(Lambrecht 1958:
379)
.
[004:32] Dem entspricht die ideologische Situation. Auch da ein
Nebeneinander des Vielen und Verschiedenen und der Interessen und Weltanschauungen. Jeder einzelne der
gesellschaftlichen Bereiche hat gleichsam ein ihm zugeordnetes Bewußtsein.
Der Mensch aber ist nun in der unangenehmen Lage, immer in mehreren solcher
Bereiche zugleich leben zu müssen. Er muß gleichsam je ein Bewußtsein
ändern, denn die Erwartung, die er einem geordneten Familienleben gegenüber
hegt, kann er kaum hoffen, auch im Betrieb befriedigt zu finden. Anders ist es im Kino, in der Wahlversammlung, anders in der Schule, anders
im Jazz-Klub. Analogien bestehen zwischen diesen Bereichen kaum. Das in
einem Bereich gültige Verhalten, die dort gewonnene Erfahrung gelten nicht
im anderen. In einer solchen Lage ist
„der ganzheitliche
Mensch“
eine sehr fragwürdige Formulierung. Eine Forderung, meine
Tätigkeit dadurch
„menschlich“
zu gestalten, daß ich sie
mit meinem eigenen Wesens ausfülle, ist angesichts dieser Situation geradezu absurd.
„Unser Sozialapparat baut sich durchgängig so auf,
daß er die Menschen immer je in eine bestimmten Hinsicht betrifft, sie aber als ganze Person nicht
in sich eingliedert und nicht einmal in Anspruch nimmt.“
(Freyer 1959:
231)
Das bedeutet aber für das Ideologieproblem, daß die in einem Bereich
gültigen Normen, werden sie für das Ganze in Anspruch genommen, ein falsches
Bewußtsein verraten. Ja mit einer solchen ideologischen Forderung dränge ich
als Sozialarbeiter meine Klienten geradezu in die Konfliktsituationen
hinein, denn das Geforderte ist im Normalfall gar nicht zu leisten. Die
Sache hat also zwei Seiten: Sie betrifft den Sozialarbeiter und sein
Bewußtsein, seine Prinzipien – und sie betrifft den Klienten, die möglichen
Ursachen seiner Not und die möglichen Wege seiner sozialen
Wiederanpassung.
[004:33] Die einsinnige Interpretation unserer sozialen Wirklichkeit also
wäre ein Rückfall. Er macht sich als ideologische Täuschung bald bemerkbar,
wenn man ihn nicht – wie im Kommunismus – mit Gewalt durchsetzt. Die
mehrsinnige Gesellschaft ist eben nicht unter einen einheitlich
verbindlichen Inhalt wie die Produktion, eine bestimmte Sozialethik, ein
klassischer Bildungskanon, eine umgreifende Idee zu subsumieren.
[004:34] Daraus ergibt sich nun aber – wie ich meine – eine durchaus
positive Bestimmung der Lage und des Menschen in dieser Lage. Da der Mensch
sich als ein je anderer verhält, da er sich nicht mehr ganzheitlich
engagiert und gar nicht mehr so engagieren darf, verhält er sich zu seinem
je anderen Verhalten faktisch distanziert. Er spielt Rollen. Der Begriff der
„sozialen Rolle“
ist sicher nicht zufällig heute zu einem soziologischen
Terminus geworden. Distanzierung ist die Voraussetzung zur Beherrschung. Die Ironie ist das Medium unseres Umgangs mit
der Welt: eine Sache, ein Verhalten, eine Institution, eine Vorstellung in
ihrem relativen Recht belassen, sie aber nicht als verbindlich für seine
Person anzuerkennen. Das
„Bewußtmachen“
der
Tiefenpsychologie ist nur ein methodisches Sym|b 90|ptom
dieses modernen Sachverhaltes. Jede Weltanschauung aber versucht mit ihrer
Einseitigkeit, diese moderne Verhaltensstruktur zu durchbrechen.
3. Konsequenzen
[004:35] Mit den letzten Erörterungen habe ich mich etwas weit von der
sozialen Arbeit entfernt. Aber nur scheinbar, denn es läßt sich nun einiges
unmittelbar folgern, das für die Praxis der sozialen Arbeit durchaus von
Belang ist. Ich will das in Andeutungen tun.
[004:36] Man erlebe heute die Notwendigkeit, schrieb Musil,
„eine Moral, die seit
zweitausend Jahren immer nur im kleinen dem wechselnden Geschmack
angepaßt worden ist, in den Grundlagen der Form zu verwenden und gegen eine andere einzutauschen, die sich der
Beweglichkeit der Tatsachen genauso anschmiegt“
(Musil 1952:
259)
. Anton S. Makarenko
(1958) äußert, die Begriffe für die sogenannten Tugenden sagen für sich noch
gar nichts, ihr konkreter Inhalt müsse je neu bestimmt werden für den
Zusammenhang, in dem sie gelten sollen. Und über eine solche neue Bestimmung
lesen wir etwa kulturkritisch bei Max Horkheimer
(1957: 268)
:
„Anweisungen, Rezepte,
Leitbilder treten anstelle der moralischen Substanz“
. Die Kritik, die sich in diesem letzten Zitat ausspricht, muß man
nicht teilen, denn: Was ist die
„moralische Substanz“
?
Aber der Hinweis darauf, daß Anweisungen, Rezepte und Leitbilder dort fungieren, wo früher
sittlich-verbindliche Normen ihre Stelle hatten, liegt in der Richtung
dessen, was ich meine. Eine sittliche Norm im alten Sinne kann ich nicht
abwechselnd gelten lassen und ignorieren, hier annehmen und dort nicht. Eine
Anweisung aber gilt von vornherein und immer nur für einen bestimmten und
begrenzten Bereich oder Vorgang. Ich kann mich nach vielen und auch
widersprechenden Anweisungen nach einander verhalten. Die alte Frage der Moralität wird damit hier
gegenstandslos. Die Moral hat sich, wie Musil sagt,
„in der Form verändert“
, in ihrem Material
tat sie es schon immer. Die Anweisungen nun, Rezepte oder Leitbilder für die
Familie, die Schule, den Beruf, die Freizeit stehen heute anstelle einer
kontinuierlich durch alle Bereiche gehenden verbindlichen Norm. Und wenn ich
recht sehe, ist das heute nicht nur in der gesellschaftlichen Praxis im
weitesten Sinne schon Wirklichkeit, sondern wird auch in der sozialen
Arbeit, etwa im Casework schon in Methode
umgesetzt. Das Moralische ist ein anderes je nach den mit einem bestimmten Bereich
gesetzten Zwecken. Jeder Bereich hat seine eigene Moral, oder, in der
Sprache des Casework: Die Prinzipien der
Behandlung müssen immer erst aus der individuellen Situation des Klienten
entwickelt werden.
[004:37] Das bedeutet: Verzicht auf eine sittliche Leitidee in der sozialen
Arbeit – die Maßstäbe für Behandlung und Lebensführung des Hilfsbedürftigen
nur aus seiner Situation, vor allem aber dem
gesellschaftlichen Bereich, |b 91|dem seine Schwierigkeiten
zugehören, entwickeln –, das heißt ferner: Die Maßstäbe sind nicht übertragbar.
Alle
„inneren“
,
„ganzheitlichen“
Bindungen
sind zu vermeiden, sie erschweren nur den existenznotwendigen Wechsel der Positionen.
Das Prinzip der
„Wohnstubenerziehung“
als Kern aller sittlichen Erziehung ist fragwürdig. Die Familie ist in ihrer sozialpädagogischen Bedeutung nur noch relativ
neben anderen Bereichen. Der Ratsuchende, Hilfsbedürftige, der Zögling muß lernen, Rollen zu
spielen, sich den Bereichen anzupassen, d. h. aber ebenso nachdrücklich:
sich selbst zu bestimmen.
[004:38] Auch die Autorität, die ja immer im engen Zusammenhang mit der
Sittlichkeit gehen wird, verändert sich unter diesem Aspekt. Die
autorisierte Person ist dieses nicht, weil sie einen allgemein verbindlichen
sittlichen Inhalt repräsentiert oder kraft einer bestimmten Funktion zu
fordern berufen ist, sondern sie ist dadurch autorisiert, daß sie auf einen
Sachzusammenhang hinweist und die Beherrschung dieses Zusammenhangs
repräsentiert, damit zugleich die Selbstbeherrschung paradigmatisch
vorbildet. Schlechthin von
„persönlicher Autorität“
zu
sprechen, ist also mindestens ungenau. Die autorisierte Person verweist auf
die Autorität der Sache – etwa einer normal funktionierenden Familie, eines
organisierten Betriebs, eines zu lernenden Inhaltes, eines geordneten Heimes, eines
bestimmten Berufes usw. Autorität ist daher dort anzutreffen und nur dort zu rechtfertigen,
wo das Maß an Sachbeherrschung, an Weltbeherrschung am größten ist. Das
Gefälle zwischen zweien, das Autorität ermöglicht, ist also kein sittliches
im traditionellen Sinne, es ist Gefälle, das auf unterschiedlicher Weltbeherrschung beruht. Die
Autorität verschwindet in dem Augenblick, wo die Freiheit der Sache
gegenüber bei beiden das gleiche Niveau erreicht hat. Es geht also nicht um
die Anerkennung einer bestimmten Autoritätsperson, sondern einer notwendigen
Funktion, des in einer bestimmten sozialen Hinsicht notwendigen
Verhaltens.
[004:39] Da nun aber, wie ich behaupte, die Gesellschaft mehrsinnig ist,
ergäbe sich besonders in pädagogischer Hinsicht, eine weitere, sehr wichtige Konsequenz: Der Heranwachsende muß
lernen, in den heterogenen Bereichen des sozialen Lebens sich frei zu
bewegen. Das bedeutet, daß Autorität ihm immer schon als nur relativ gültig
präsentiert werden darf; zur Erfahrung der Autorität würde damit
grundsätzlich auch die Erfahrung von deren Grenze gehören. Es wäre folglich
eine pädagogische Aufgabe, den jungen Menschen nicht irgendeine Autorität überhaupt, sondern möglichst viele, untereinander verschiedene Autoritäten erfahren zu lassen. Die pädagogische
Provinz, der eigensinnige und einheitliche Erziehungsraum, seine Stileinheit und Stilreinheit,
wäre demnach kaum zu vertreten. Eine Konsequenz wäre z.B. in ästhetischer Hinsicht gerade die Stilmischung und Vielheit als
Prinzip. Der Umgang mit heterogenen Bildungsinhalten, Epochen,
Stilrichtungen in der Gegenwart entspricht ja genau dem wechselnden
Verhalten in sozialen Bereichen. Die Autorität eines Stils, etwa der Fugen des
Wohltemperierten Klaviers oder der
ex|b 92|pressionistischen Malerei kann daher ebenso wie eine sittliche Norm eine Einsinnigkeit
repräsentieren, fordern und hervorrufen, die dann später im
gesellschaftlichen Leben keine Entsprechung mehr findet.
[004:40] Solche Überlegungen waren nun auch anzustellen im Hinblick auf
andere, in der sozialen Arbeit grundlegende Vorstellungen. Was nennen wir
eigentlich
„Verwahrlosung“
? Welche Vorstellung vom
Menschen steht hinter der Feststellung, ein bestimmter Jugendlicher sei
verwahrlost? Welches sind die viel berufenen gefährdenden Momente der
modernen Gesellschaft, und wieso eigentlich sind sie gefährdend? Stellt man sich damit, etwa
mit dem Jugendschutzgesetz, nicht nur auf einen permanenten aussichtslosen Kampf gegen die Gesellschaft
ein, und wäre es nicht sinnvoller, nicht das Bewahren vor den sogenannten gefährdenden Phänomenen zum Prinzip zu erheben, sondern den Umgang
mit ihnen erlernen zu lassen – vielleicht, und dann vor allem erst selbst diesen Umgang zu lernen? Was kann schließlich über das Ethos des Sozialarbeiters gesagt werden
und über seine – wie es heißt –
„persönlichen
Voraussetzungen“
?
[004:41] Diese Fragen kann ich nicht erörtern. Sie können nur im
unmittelbaren Kontakt mit Praxis behandelt und vielleicht gelöst werden.
Worauf es mir ankam, war nur, die Richtung anzudeuten, in der, wie ich
meine, eine Selbstkritik der sozialen Arbeit verlaufen müßte.