Die Rollenproblematik des Lehrerberufs und die Bildung
[009:2] Der sozialwissenschaftliche Begriff der Rolle findet
zunehmend auch im Zusammenhang mit erziehungswissenschaftlicher
Forschung Verwendung. Das gilt für die Probleme der außerschulischen
Jugendbildung, für die Erforschung kriminalpädagogischer
Zusammenhänge, überhaupt für die Analyse pädagogisch relevanter
Gruppenprozesse, für die Erklärung von Vorgängen, die unter dem
Namen
»Sozialisation«
zusammengefaßt werden,
insbesondere aber für die Analyse der Schule als eines sozialen
Systems. Der hohe Grad von Institutionalisierung des Bildungswesens
ließ mit Recht vermuten, daß das Rollenmodell auch für die
pädagogische Forschung fruchtbar gemacht werden kann. Es verwundert
deshalb nicht, wenn es die Problematik des Lehrerberufs war, an der
die Ergiebigkeit dieses Erklärungsmodus im deutschen pädagogisch
relevanten Schrifttum zuerst erprobt wurde. In das – durch eine kaum
noch übersehbare Literatur unterschiedlichsten Niveaus – von
Vorurteilen und ideologischen Programmen verdunkelte Berufsgefüge
des
»Lehrers«
konnte auf diese Weise etwas Licht
gebracht werden. Dabei ist bemerkenswert, daß die umfangreicheren
empirischen Untersuchungen zur Rollenproblematik aus der Feder von
Lehrern selbst stammen (Gahlings, Lempert, Schuh, Tuggener). Damit
scheint sich in der Forschung zu bestätigen, was unter anderem ein
Ergebnis eben dieser Forschung ist: die Ernüchterung des
Lehrerstandes im Hinblick auf seine Selbsteinschätzung und die damit
verbundene Veränderung von einem ideologischen zu einem
realistischen Berufsbild. Die Überspanntheit eines hochgestochenen Berufsethos weicht einer der
Berufswirklichkeit entsprechenden Würdigung der Möglichkeiten, an die Stelle allgemeiner Tugendforderungen
treten berufsspezifische Eigenschaften.
[009:3] Damit begann eine Diskussion, die zunächst unter dem
Gesichtspunkt der
»Störfaktoren«
die Lage des
Lehrers zu analysieren versuchte. Sie er|b 94|weiterte sich bald in mehreren Richtungen: in Richtung auf die
Abhängigkeit des Lehrers von Gruppen und Verbänden, die an der
Schule interessiert sind; in Richtung auf das Gesellschaftsbild des
Lehrers, insbesondere die mit seiner Rolle verbundenen Implikationen
eines politischen Bewußtseins; und in Richtung auf sein Selbstbild,
das heißt die Rollenerwartungen, die er sich zu eigen macht, bzw.
jene, die er den an ihn herangetragenen Erwartungen entgegenzusetzen
versucht. Zu einer Rollentheorie des Lehrers ist es indessen bisher
nicht gekommen. Auch hier kann eine solche Theorie nicht entwickelt
werden, es soll lediglich auf einen Aspekt der ganzen Problematik
hingewiesen werden.
[009:4] Unter dem Titel
»Die Rollenproblematik des
Lehrerberufes«
1
|b 264|1J.Kob: Die Rollenproblematik des Lehrerberufes, in: Soziologie der
Schule, Sonderheft 4 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und
Sozialpsychologie, hrsg. von P.Heintz, Köln und Opladen 1959.
hat Kob sich diesem Problem als erster im deutschen Schrifttum
ausdrücklich zugewandt. Der Rollenbegriff scheint in
der Tat geeignet zu sein, die besondere Problematik nicht nur des
Lehrerberufes, sondern des Verhältnisses von Bildung und Gesellschaft, von
Erziehungswissenschaft und Soziologie hervortreten zu lassen, allerdings nur
dann, wenn die erziehungssoziologische Analyse die Bildungsproblematik in
ihre Fragen mitaufnimmt. In bezug auf den Lehrer und seine Stellung in der
Gesellschaft heißt das, daß sein, gern als
»Ideologie«
verdächtigtes, Selbstverständnis erst einmal verstanden sein muß, wenn die soziologische Analyse den gemeinten
Sachverhalt erreichen will. Die Arbeit Kobs ist besonders geeignet, diese Klippen der Forschung zu
verdeutlichen, denn gerade bei weiter ausgreifenden Analysen und Deutungen,
im Unterschied zu enger begrenzten empirischen Feststellungen, macht sich
der Mangel an differenzierten Fragestellungen bemerkbar. Oder trivial
formuliert: Die Kenntnis der Erziehungswissenschaft würde den
»Soziologen der Erziehung«
viel
Arbeit ersparen. Denn es ist z. B. falsch und nichts als ein verbreitetes
soziologisches Stereotyp, daß eine die Gesellschaft
pädagogisierende Erziehungstheorie die bloße Folge neuer Bedürfnisse der
sogenannten industriellen Gesellschaft sei. Merkwürdigerweise nämlich sind
z. B. die von Kob formulierten
»neuen pädagogischen
Funktionen«
bis auf wenige Ausnahmen der Bildungstheorie seit
mindestens 150 Jahren bekannt. Damit soll nur gesagt werden, daß
Erziehungstheorie und gesellschaftliche Struktur in einem
Funktionszusammenhang verstanden werden müssen, dessen Reziprozität in den
Ansatz der erziehungssoziologischen Fragestellung eingehen sollte. Analog
verhält es sich mit den Stereotypen von der
»zivilisationspessimistischen,
antiindustriellen«
Haltung der
»gegenwärtigen Erziehung«
2
|b 264|2A. a. O., S.
93.
. Was meint man, wenn man von dieser
»gegenwärtigen Erziehung«
spricht? Soll damit die
|b 95|Praxis getroffen werden, dann muß man zugeben,
daß gewiß manche Beobachtungen eine Vermutung in dieser Richtung zulassen.
Indessen ist doch nach den soziologisch-internen Maßstäben einer empirischen
Sozialforschung eine solche Feststellung bis heute kaum zu verantworten. Spricht man aber weiter von den
»verbindlichen Deutungen, welche die Kulturkritik
zum Prinzip der Erziehung überhaupt erheben«
, dann wären genauere Angaben und explizite Auseinandersetzungen am
Platze, ganz abgesehen von der wünschenswerten Auskunft, unter welchen
Bedingungen denn eine
»Deutung«
als
»verbindlich«
gelten könne.
[009:5] Nun mag die Feststellung in der Tat richtig sein, daß heute häufig
»Kulturkritik als ein Prinzip der Erziehung«
postuliert wird. Indessen ist doch aber nach dem Sinn dieses Postulates zu
fragen, ehe man es polemisch als Outsider-Attitüde desavouiert und gegen den
Lehrer als einen angeblichen
»sociological stranger«
ins Bild führt. Allerdings spricht alles dafür, daß die Formel vom
»sociological stranger«
diesen Aspekt der sozialen Situation des Lehrerstandes durchaus
trifft. Ist mit ihr aber mehr gemeint, als bestimmte Mangelerscheinungen im
Bereich sozialer Kommunikation – und ihre
Verknüpfung mit der Behauptungeines kulturkritischen Bewußtseins läßt das vermuten –, dann ist zu fragen, welch pädagogischer Sinn ihr
etwa innewohnen kann, und ob es sich nicht um Phänomene handelt, die mit dem
Begriff der Bildung und den gegenwärtigen Aufgaben der Erziehung unmittelbar
zusammenhängen. Es soll deshalb im folgenden versucht werden, mit Hilfe des Rollenbegriffs die
pädagogische Problematik des Lehrerberufes in einigen wichtigen Merkmalen festzustellen.
Zum Erwartungsfeld des Lehrerberufs
[009:6] Die Deutlichkeit, mit der eine Rolle festgelegt ist, kann sehr unterschiedlich sein. So ist z. B. nach einer Behauptung Hartleys3
|b 264|3E. L.Hartley und R. E.Hartley: Die Grundlagen der Sozialpsychologie, Berlin 1955.
die Rolle der Eltern als Erzieher wenig festgelegt. Dies scheint
aber nicht nur für die Familie zuzutreffen, sondern überall dort zu gelten,
wo erzieherisches Verhalten im engeren Sinne und im Unterschied zum Unterrichten und Ausbilden erwartet wird. Das bedeutet,
daß der Interpretation der vage gehaltenen Erwartungen ein relativ großer
Spielraum eingeräumt wird, also eine Art gesellschaftlich festgelegter
Freiheit des Erziehers; es bedeutet aber auch, daß die Präzisierung der unbestimmten
Erwartungen nicht vom Erzieher, sondern von den Bezugsgruppen vorgenommen werden |b 96|kann und der Erzieher sich einer Anzahl widersprechender Verhaltensvorschriften
gegenübersieht. Das scheint nun durchaus die Konsequenz eines
demokratisierten Schulwesens in der ein solches Schulwesen ermöglichenden
Gesellschaft zu sein. Noch das 18. Jahrhundert vermied alles, was das
Erziehungs- und Unterrichtsgeschäft in solche Ambivalenzen hätte bringen und
den Lehrer in ein variationsoffenes und interpretationsbedürftiges
Rollenfeld hätte setzen können. Landlehrer wurden in den Dorfschulen
herangezogen, damit die eindeutig festgelegten Erwartungen schon frühzeitig internalisiert wurden.
[009:7] In der Tat sind die Interpretationsbedürftigkeit
der Phänomene Erziehung und Schule und die damit
gegebenen divergenten Verhaltenserwartungen der
beteiligten Interessengruppen konstitutiv für die Situation des
Lehrers heute. Diese Divergenz bringt aber den Lehrer in eine schwierige
Lage, denn man erhofft von ihm nicht nur, daß er den Erwartungen der großen
Gruppen gerecht wird, das heißt, daß er vermittelnd ständig Kompromisse schließt zwischen den Forderungen
nach Leistungssteigerung, Begabtenförderung, Information, persönlicher und
sittlicher Bildung, sondern man erwartet ebenso, daß er den je besonderen
Vorstellungen von einer
»richtigen«
Erziehung, von
angemessenen pädagogischen Mitteln entspricht, die innerhalb der
Elternschaft einer Schulklasse durchaus verschieden
sein können, ohne zu einem Konsensus im Sinne einer deutlich festgelegten
Verhaltenserwartung zu kommen. Es scheint, daß dies schon die Situation des Lehrers im 19.
Jahrhundert war. Es scheint außerdem, daß der Lehrer durch solche Struktur
des Rollenfeldes in eine kritische Distanz zu dem ihm begegnenden
gesellschaftlichen System – hier konkretisiert in Verhaltenserwartungen –
geradezu gedrängt wird. Derart heteronomen Forderungen gegenüber ist der
Ausweg in einsinnige Schulsysteme, in denen die Divergenzen, mit welchen
Mitteln auch immer, zum Verschwinden gebracht werden, freilich auch heute
möglich. Allerdings ist dies nur – wenn man von totalitären Systemen absieht
– die Möglichkeit kleiner Gruppen. Die Masse der Lehrerschaft muß diese
Situation bewältigen; sie kann ihr nicht ausweichen.
[009:8] Das Material, das die vorliegenden Untersuchungen zu diesem Problem
beizutragen vermögen, ist nicht sehr umfangreich; es bietet jedoch
wenigstens einige Anhaltspunkte. Alle einschlägigen Untersuchungen konnten
feststellen, daß der Lehrer eine ausgesprochen starke
Belastung durch die an ihn herangetragenen Rollenerwartungen
empfindet.
[009:9] So hat eine Analyse
der Störfaktoren im Lehrerberuf feststellen können, |b 97|daß unter 23 Rangplätzen die Eltern als Störfaktoren auf
dem 5. Rangplatz erscheinen, die Ansprüche der
Industrie, der Elternbeiräte usw. auf dem 11., die moralische Überforderung (von welcher Seite auch
immer) auf dem 15., das Verhältnis zu den Kollegen auf dem 17. Rangplatz4
|b 265|4E.Schuh unter Mitarbeit von H.Belser: Der Volksschullehrer, Störfaktoren im
Berufsleben und ihre Rückwirkung auf die Einstellung
im Beruf, Hannover 1962.
. Bei einer Kontrollbefragung nach nur 6 Gruppen von
Störfaktoren (soziale Stellung, außerschulische Kritik und Anforderungen,
Arbeitsbedingungen, Schulfurcht, schwierige Schüler, Verhältnis zu
Kollegen) rückten die soziale Stellung auf den 1., die
außerschulische Kritik und Anforderung schon auf den 2. Rangplatz. Bemerkenswert ist, daß die genannten Störfaktoren für den
Landlehrer eine weit weniger gewichtige Rolle spielen als für den
Stadtlehrer. Welche Schlüsse sich daraus im Hinblick auf die
Rollenproblematik ziehen lassen, ist unklar. Es ist sowohl zu
vermuten, daß die Verhaltenserwartungen auf dem Dorf weniger präzise sind, als auch, daß der Landlehrer
den Erwartungen eher zu entsprechen bereit ist. Jedenfalls scheint
die von Gahlings und Moehring konstatierte Rollenüberlastung auf dem Lande
ein Spezifikum der Frauen, und zwar der unverheirateten Lehrerinnen
zu sein. Insgesamt aber entfaltet sich die Problematik am klarsten
doch wohl in den städtischen Schulsituationen.
[009:10] Deutlich tritt die Divergenz, ja Rivalität der
Verhaltenserwartungen am Gewerbelehrer hervor.
Jedenfalls ist dies eines der Ergebnisse einer Studie von Lempert5
|b 265|5W.Lempert: Der Gewerbelehrer. Eine soziologische Leitstudie. Göttinger
Abhandlungen zur Soziologie, hrsg. von H.Pleßner, Band 7, Stuttgart 1962.
. Zum Beispiel wird das Vermitteln zwischen den divergenten
Verhaltenserwartungen dem Gewerbelehrer dadurch besonders erschwert, daß die
fest umrissenen Vorstellungen der Handwerksmeister von der Rolle des
Gewerbelehrers diesem nachdrücklich fühlbar gemacht werden können. Der
Gewerbelehrer steht daher beständig in einem von ihm selbst auch stark
empfundenen Konflikt, in dem Entscheidungen nur durch Verletzung der einen
oder anderen Seite möglich zu sein scheinen. Daß deshalb von einer
Integration oft völlig abgesehen wird zugunsten einer Anpassung an die
Erwartungen einer der beteiligten Bezugsgruppen (der Handwerkerschaften, der
Industrie-Vertreter, der Schulbehörde usw.), ist nicht verwunderlich. Lempert zeigt, wie oft bis in die sprachliche Diktion hinein die
Rollenerwartungen ausschließlich einer Bezugsgruppe internalisiert werden.
[009:11] Wichtig zum Verständnis des ganzen Komplexes ist die
sozialpsychologische Einsicht, daß dieRollenerwartungen in verschiedenen Graden prägend
wirken, und zwar je im Verhältnis zu dem Grad an Genauigkeit, mit
dem sie auftreten, und den Sanktionen, mit denen sie verknüpft sind. Die
verschiedenen Lehrertypen ließen sich also auch rollensoziologisch |b 98|bestimmen, und zwar nach dem Gesichtspunkt derjenigen
Rollenerwartung, die vorzugsweise internalisiert wird. Nach Maßgabe dieser
These muß auch die Schulklasse als Bezugsgruppe betrachtet werden6
|b 265|6In der amerikanischen Erziehungssoziologie wird mit
Selbstverständlichkeit so verfahren. In Deutschland dagegen bedarf es
noch eines ausdrücklichen Hinweises, da das Wissen von der Reziprozität
des Verhältnisses von Lehrer und Klasse sich erst neuerdings in der
Erziehungstheorie verbreitet.
. Derjenige Lehrer, der sich selbst vor seiner Klasse als
»Primus inter pares«
versteht, der
»kameradschaftliche«
Typ, der
»Jugendführer«
– oder wie immer die Lehrertypologien7
|b 265|7Vgl. dazu H.-W.Baumann: Probleme einer Typologie des Lehrers. Diss., Göttingen 1960 (Msch.).
ihn bezeichnen –, spricht eben der Klasse die entscheidende Kontrollfunktion im
Hinblick auf sein Verhalten zu, erkennt sie als Bezugsgruppe an, ja er hat
dadurch, daß er ein typisches Verhalten produziert,
die Erwartungen dieser Gruppe bereits internalisiert. Es handelt sich hier
möglicherweise um eine dem Lehrer durch die Art seiner Tätigkeit nahegelegte
»berufsspezifische Beziehungsstruktur«
(Kob), die aber ihre
eigenen Gefahren enthält, da sie den Lehrer aus dem Zusammenhang seiner
eigenen Generation, aus seiner Rolle als Erwachsener unter Erwachsenen,
herauszuziehen imstande ist8
|b 256|8Vgl. J.Kob: a. a. O.;
ders.: Das soziale Berufsbewußtsein des Lehrers an Höheren Schulen, Würzburg 1958, S. 23
; fernerJ.Gahlings und E.Möhring, Die Volksschullehrerin; Beiträge zur Soziologie des Bildungswesens, im Auftrage der Hochschule für Internationale Pädagogische
Forschung, Frankfurt am Main, hrsg. von E.Lemberg, Bd. 2, Heidelberg 1961.
Wird diese
Beziehungsstruktur nicht – wie beim Volksschullehrer – erziehungsideologisch
gestützt, dann ist zu vermuten, daß gegenläufige Kompensationen naheliegen, das heißt, daß Selbstverständnis und Rollenorientierung des Lehrers nicht im
pädagogischen Raum der Schule, sondern in Positionen der
Erwachsenen-Gesellschaft gesucht werden.
[009:12] Das scheint bei dem
»Typ B«
der Leitstudie von Kob der Fall zu sein, dem Lehrer, der
»sein Selbstbewußtsein völlig auf seine
fachwissenschaftliche Bildung«
gründet
9
|b 265|9Kob: Das soziale Bewußtsein ..., S. 48.
. Die Bezugsgruppen, an deren Erwartungen dieser Typ sich
orientiert, sind unter anderem die Fachdisziplinen der Universität, repräsentiert durch
deren Lehrkörper. Wie stark diese Gruppe sich selbst als
Bezugsgruppe im Hinblick auf den potentiellen Studienrat ins Spiel
bringt, ist schon in den Seminaren
erfahrbar und in der Einschätzung der Erziehungswissenschaft durch
die philologischen bzw. naturwissenschaftlichen Disziplinen. Die Rolle des
Fachwissenschaftlers, die dieser Typ in der Öffentlichkeit spielt,
garantiert ihm eine
»stärkere gesellschaftliche
Sicherheit«
und bewahrt vor der Berufsgefahr der sozialen Isolierung,
allerdings – wie es scheint – durch das Mittel einer willkürlichen
Vereinfachung des in Wahrheit viel differenzierteren Rollenfeldes.
Möglich wird diese Vereinfachung durch die unfeste Form der
Verhaltenserwartungen und die damit gegebene und schon erwähnte
Interpretationsoffenheit dieses Feldes.
[009:13] Diese Offenheit soll nun keineswegs beklagt werden, sie ist
zunächst vielmehr nur festzustellen. Sie scheint besonders zutage zu liegen
bei einer Bezugsgruppe, die in den vorliegenden Untersuchungen keine ange|b 99|messene Beachtung fand: den
pädagogischen Ausbildungsstätten. Es charakterisiert die
Pädagogischen Hochschulen, daß ihr Ausbildungsprogramm sich nicht in einer
fachlichen, erziehungswissenschaftlichen, didaktischen und methodischen
Bildung erschöpft, sondern als notwendiges Komplement eine pädagogische
Bildung erstrebt, mit der Haltungen und Verhaltensweisen gemeint sind, das heißt eine Internalisierung von Verhaltenserwartungen, die die
Ausbildungsstätte dem zukünftigen Lehrer zumutet. Weit weniger wirksam sind
die Mittel der Pädagogischen Seminare an den Universitäten; sie sind fast ausschließlich auf die
Mittel der kritischen Reflexion angewiesen. Auf das Verhalten in
spezifischen Berufssituationen bleiben sie ohne Einfluß. Dennoch verstehen
sie sich nicht nur selbst als Bezugsgruppe, sondern werden z. B. in der
Polemik mancher Studienseminare und der an der Ausbildung der Studienräte
beteiligten Fachdisziplinen ausdrücklich als solche angesprochen.
[009:14] Im ganzen hat es den Anschein, als wäre die Wirkung dieser
Bezugsgruppen in den realen Berufssituationen und auf die Dauer
vergleichsweise gering. Die Erwartungen fügen sich nicht zu einem
eindeutigen Verhaltensbild zusammen, in ihnen
formuliert sich kein auf die konkreten sozialen Berufssituationen bezogenes
Berufsethos, das imstande wäre, den Belastungen standzuhalten. Den hier
verborgenen Problemen ist weder eine nur noch reflektierende
Erziehungswissenschaft, noch eine naive, den gesellschaftlichen Pluralismus
ignorierende pädagogische Soziallehre gewachsen. So sind die pädagogischen
Ausbildungsstätten zwar potentielle Bezugsgruppen, aber ständig in Gefahr,
entweder zu undeutliche oder der Reallage zuwenig angemessene Erwartungen zu entwickeln10
|b 265|10Dieses Problem ist u. a. Gegenstand eines Aufsatzes von Brezinka(Die Bildung des Erziehers, in: Beiträge
zur
Menschenbildung, Herman Nohl zum 80. Geburtstag, 1. Beiheft der Zeitschrift für Pädagogik, Weinheim 1959), wo der dringend notwendige Versuch
unternommen wird, eine realistische
»Berufsethik«
des
Lehrers im Zusammenhang mit der erziehungswissenschaftlichen Forschung
anzudeuten.
und damit ihrerseits die Interpretationsoffenheit des
Rollenfeldes gerade an ihrer heikelsten Stelle zu konservieren.
[009:15] Die vorliegenden Untersuchungen bieten zwar einige Orientierungen bei der Frage nach dem Rollenfeld, in dem der Lehrer sich bewegt. Sie haben indessen
den Nachteil, daß sie vorwiegend nach der Selbsteinschätzung des
Lehrers fragen. Diese Selbsteinschätzung aber muß nicht
zusammenfallen mit dem realen Verhalten, das Lehrer in Korrespondenz
zu bestimmten Bezugsgruppen hervorbringen. Mindestens eine
Beobachtung kann die damit angesprochene Schwierigkeit
verdeutlichen: Die skizzierten Untersuchungen scheinen der großen Zahl, der von den Lehrern genannten Störfaktoren und der
Heterogenität der von ihnen erlebten Verhaltenserwartungen wegen
nahezulegen, daß der Lehrer sich nicht nur in einer außerordentlich
konfliktreichen Situation befindet, sondern auch die rati|b 100|onale Bewältigung dieser Situation versucht.
Dagegen lassen Untersuchungen zu pädagogischen und politischen
Einstellungen von Lehrern etwas ganz anderes vermuten. Dort nämlich
zeigen sich ein relativ geringes Bewußtsein von Art und Bedeutung
sozialer Konflikte, ein Vorherrschen harmonisierender
Sozialvorstellungen, mittelständisch-konforme Wertorientierungen –
Merkmale also, die gerade auf eine stabile Integration in ein
gegebenes mittelschichttypisches Rollengefüge schließen lassen. Will
man solche Einstellungen als Kompensation der ermittelten
subjektiven Belastungserlebnisse deuten? Oder will man umgekehrt das
Gefühl der Belastung und vor allem die Probleme, an denen sie sich für das Bewußtsein des Lehrers
konkretisiert, als Folge einer vorgängigen, auf die mittelständische
Herkunftsgruppe bezogenen Handlungsorientierung verstehen? Welcher
Deutung man auch zuneigt, pädagogisch bleiben sie beide
unbefriedigend, und zwar vermutlich daher, weil die bisher
herangezogenen Gesichtspunkte dazu nicht ausreichen. Auf diese Weise
mag zwar vieles im Verhalten und in den Einstellungen von Lehrern
erklärt werden können; es bleibt aber im Dunklen, wie die am Begriff
der Mündigkeit orientierte Aufgabe des Lehrers sich in solchem
Kontext darstellt. Es scheint deshalb nützlich, einen Begriff einzuführen, mit dessen Hilfe erst sich das
pädagogische Problem entfalten läßt, sich das
Rollenfeld des Lehrer-Berufes als ein eigentümlich pädagogisches
strukturiert und den Zusammenhang mit den Bildungsproblemen deutlich macht.Dieser Begriff ist
die
»pädagogische
Selbstrolle«
.
Die pädagogische Selbstrolle
[009:16] Hartleydefiniert die
»Selbstrolle«
als
»die Konstellation von Eigenschaften und
Verhaltensweisen, die ein Mensch in einer beliebigen Situation von
sich selbst erwartet, – parallel zu den sozialen Rollen, welche aus den Erwartungen
der anderen bestehen«
11
|b 265|11Hartley und Hartley: a. a. O., S.
374 f.
; diese Konstellationen entstünden, so heißt es, aus der
ursprünglichen Kindesrolle im Familienzusammenhang. Wir verwenden diesen
Begriff in einer abgewandelten Form und verstehen unter der
»pädagogischen Selbstrolle«
diejenige Konstellation von
Eigenschaften, Verhaltensweisen und Meinungen, die der Erzieher, die
Erzieherschaft (speziell die Lehrerschaft) und die pädagogische Theorie in
einem pädagogischen Gedankengang und aufgrund der mit diesem verbundenen geschichtlichen Erfahrungen entwickelt
haben und die sie von sich bzw. |b 101|dem Erzieher
erwarten. Der Begriff
»pädagogische Selbstrolle«
ist die
soziologische Form des Selbstverständnisses der Erzieherschaft bzw. der
Pädagogik.
[009:17] Diese Selbstrolle hat in der pädagogischen Reformbewegung eine ihrer möglichen Formulierungen gefunden; sie kann als eine Reaktion auf die beschriebene
Disproportionalität des pädagogischen Rollenfeldes angesehen werden. Schon
damals war für die Situation des Lehrers charakteristisch, was Schuh für die Gegenwart konstatiert: Die Heterogenität der Verhaltenserwartungen und die damit verbundene
Kritik
»zwingt ihn (den
Lehrer) ... heute zu einer Stellungnahme dieser Kritik
gegenüber und veranlaßt ihn schließlich, aus pädagogischen Motiven
heraus als einzelner und als Glied des Standes an der Gestaltung des
Erziehungswesens politisch mitzuwirken«
12
|b 265|12Schuh: a. a. O., S.
48.
. Die Divergenz der zum Teil kontrahierenden Bezugsgruppen motiviert den Lehrer, eine eigene Rolle auszubilden, um sie als maßgebenden oder korrigierenden Faktor ins soziale Spiel zu bringen.13
|b 265|13Aufgrund der Arbeit von Schuh ist die Vermutung
möglich, daß die Volksschullehrerschaft in diesem Punkt zunächst sich
einig ist. Diese Vermutung nämlich wird dadurch nahegelegt, daß sich bei der
Einschätzung der Störfaktoren durch die Lehrer im Vergleich der Gruppen
mit verschiedener Ausbildung keine signifikanten Unterschiede zeigten.
Die Unterschiede entstehen erst durch unterschiedliche und
langandauernde Praxis.
Diese Einstellung scheint der
Volksschullehrerschaft selbstverständlich zu sein. Aber auch für den
Gewerbelehrer ist diese Vermutung zulässig, wenn man Lempert folgen will, der feststellte, daß nur 10 Prozent der Lehrer seiner Stichprobe den Erwartungen der Handwerksmeister
entsprechen und – in einer anderen Gegenüberstellung – nur 19 Prozent sich nicht mit den Reformvorstellungen der
pädagogischen Theorie identifizieren. Das ist möglich, weil einerseits die Vagheit der Erwartungen dem
Lehrer einen großen Spielraum läßt, weil aber andererseits nur ein
beschränkter Teil seines pädagogischen Verhaltens der sozialen Kontrolle
unterworfen ist. Wesentliche Teile des didaktischen und methodischen
Vorgehens, Feinheiten in der Behandlung der Schüler, pädagogische
Überschußleistungen sind durch die sozialen Rollen nicht festgelegt. In
diesen Lücken kann sich die Selbstrolle entfalten; allerdings sind diese
»sozialen Erwartungslücken«
erst im Laufe einer
Entwicklung entstanden, an der die Selbstrolle als ein nicht unwichtiger
Faktor beteiligt war. Die in diesen Zusammenhang
gehörende Behauptung Lemperts, die Rivalität der Bezugsgruppen sei die beste Sicherung
für die erzieherische Autonomie, ist allerdings so kaum zu halten, obwohl ist, daß gerade diese Rivalität den
Gedanken der pädagogischen Autonomie evoziert hat.
[009:18] Anstatt von der pädagogischen Selbstrolle
zu sprechen, wäre es daher auch möglich und sinnvoll gewesen, den Begriff
der pädagogischen Autonomie zu explizieren. Sie nämlich scheint mir der Sinn
dieser Selbstrolle zu sein, soweit mit dem Begriff unter anderem eine pragmatische Absicht |b 102|bezweckt wird – und das steht außer Frage. Die autonome Erziehungstheorie kann daher als derjenige theoretische
Zusammenhang von Aussagen verstanden werden, der die Selbstrolle begründen
und stützen soll: als die – in einem weiten Sinn verstandene – Ideologie der Selbstrolle. Diese Theorie hat sich
ein sozial wirksames Instrument in den pädagogisch-akademischen
Ausbildungsstätten geschaffen, sie hat – was der Rollen-Begriff ja bereits
impliziert – die der Selbstrolle korrespondierende Bezugsgruppe
hervorgebracht. Seit es die pädagogische Selbstrolle gibt, kann der Erzieher auf die an ihn herangetragenen Verhaltenserwartungen mit Gegenfragen antworten.
»Die Wirkung der Fragen auf den Fragenden ist eine
Hebung seines Machtgefühls; sie geben ihm Lust, noch mehr und mehr
zu stellen. Der Antwortende unterwirft sich um so mehr, je häufiger
er den Fragen nachgibt. Die Freiheit der Person liegt zum guten Teil in einem Schutz vor Fragen ...
klug ist eine Antwort, die dem Fragen ein Ende macht. Wer es sich
erlauben kann, kommt mit Gegenfragen; unter Gleichen ist dies ein
erprobtes Mittel der Abwehr«
14
|b 265|14E.Canetti: Masse und Macht, Hamburg 1960, S. 328.
. Mit der vom Lehrer gestellten Gegenfrage entsteht auch das komplizierte Spannungsverhältnis im pädagogischen Rollenfeld, oder – von der Erziehungswissenschaft her formuliert: Die pädagogische Reflexion erst bringt die für unsere Gesellschaft charakteristische pädagogische Struktur des Rollenfeldes hervor. Wo auch immer Erwartungen, Fragen an die Schule herangetragen werden, begegnen sie heute der aus der pädagogischen Selbstrolle stammenden Gegenfrage. Dieses Phänomen schlechtweg als Kulturkritik oder gar Kulturpessimismus zu bezeichnen15
|b 265|15Damit soll freilich der wirklich vorhandene Kulturpessimismus
nicht legitimiert, sondern nur darauf hingewiesen sein, daß jedes
Denken, das sich nicht am Faktischen normativ orientiert und auf ein Handeln bezogen ist,
sich diesem Faktischen gegenüber dialektisch verhalten, d. h. unter
anderem distanziert und relativierend verfahren muß.
, wäre
zumindest ungenau.
[009:19] Es lassen sich also, um den Begriff zu differenzieren, mindestens
zwei Ebenen der pädagogischen Selbstrolle
unterscheiden: zunächst die soziale Tatsache, daß in einer bestimmten
gesellschaftlichen Lage der Lehrer sich einer Konstellation von Erwartungen
gegenübersieht, denen er nicht mehr konfliktlos entsprechen kann; er tritt
zu ihnen in eine kritische Distanz und bildet einen eigenen
Motivationszusammenhang für sein beruflich-pädagogisches Verhalten aus.
Parallel dazu entsteht eine Theorie, von eben denselben Erfahrungen
ausgehend, die in geisteswissenschaftlichen Interpretationen den neuen
Motivationszusammenhang stützt und sanktioniert: eine theoretische Rollenkonzeption als Entsprechung der realen
Veränderung des Rollenfeldes. Beide, pädagogische Selbstrolle und
theoretische Rollenkonzeption, verhalten sich ihrer Intention nach kritisch gegenüber der Gesellschaft, das heißt gegenüber den Erwartungen der an der Erziehung beteiligten
Bezugsgruppen.
|b 103|
Die Schüler als Bezugsgruppe
[009:20] An einem Einzelproblem, dem Verhältnis des
Lehrers zu seiner Klasse, läßt sich einiges noch deutlicher machen.
Ein Blick auf die deutschen Verhältnisse scheint zu zeigen, daß dem Schulehalten
»Schulehalten«
bei uns faktisch ein anderes Verständnismodell zugrunde liegt als in den USA und daß vermutlich auch ausdrücklich an ihm festgehalten wird. Das muß
nun allerdings nicht heißen, daß das Rollenmodell nicht anwendbar wäre. Es
zwingt nur zu einer genaueren Differenzierung des Phänomens, wie das etwa
von Gordon oder Homans schon versucht wurde16
|b 265|16C. W.Gordon: Die Schulklasse als soziales System, in: Soziologie der
Schule ... hrsg. von P.Heintz;G. C.Homans: Theorie der sozialen Gruppe, Köln und Opladen
1960.
. Der Lehrer richtet sich nach den Verhaltenserwartungen seiner Schüler
offensichtlich nur in einem eingeschränkten Sinne. Allerdings hat es
innerhalb der pädagogischen Reformbewegung eine Tendenz gegeben, die eine
entgegengesetzte Deutung nahelegt; sie war aber nicht von langer Dauer, denn
sie widersprach den Fundamenten unseres Erziehungsverständnisses und hatte nur einen polemischen Wert. Geblieben ist
aber die Formel, Erziehung habe
»zum Wohle des Kindes«
zu
geschehen, habe das Kind und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt des
Interesses zu stellen. Hier wird aber nur der
Anschein erweckt, daß die Erwartungen der Schüler ein Maß für das Verhalten
des Lehrers bedeuten. Tatsächlich ist das
»Wohl des
Kindes«
diesem selbst ja verborgen; es ist eine Antizipation des
Erziehers; er kennt das Wohl des Kindes, bzw. es scheinen ihm in den konkreten Situationen unter vielen Verhaltensmöglichkeiten
jeweils eine oder mehrere dem Wohl zu dienen oder nicht zu dienen. Das
Kriterium ist seine gelernte Theorie, nämlich diejenigen pädagogischen Fundamentalsätze, die die Grundlage bilden für die
Verhaltenserwartungen seiner Selbstrolle. Das
»Wohl des
Kindes«
ist die Projektion der Selbstrolle des Lehrers in die Klasse, ohne daß diese dadurch zu einer echten Bezugsgruppe würde. Die
Verhaltenserwartungen der Klasse werden nicht als solche akzeptiert, sondern
vom Lehrer interpretiert nach Maßgabe seiner pädagogischen Theorie. Sie sind
uninteressant im Hinblick auf die Normen; sie finden nur taktische, nicht
aber strategische Berücksichtigung. Der Lehrer steht nicht dem Kinde
»an sich«
gegenüber, sondern seiner Anthropologie des Kindes.
[009:21] Das kann nun aber keinesfalls bedeuten, daß die Klasse nicht als
Bezugsgruppe anzusprechen wäre. Im Gegenteil hat das bisher Dargestellte –
falls es richtig ist – gezeigt, daß im Hinblick auf den Umgang mit Schülern
im konkreten Einzelfall – aber auch nur in diesem – das Verhalten des
Lehrers eine Resultante zweier Bezugsgruppen ist, wobei noch anzumerken |b 104|wäre, daß der gegen die Erwartungen der Schüler
völlig gleichgültige Lehrer auch der pädagogischen Selbstrolle nicht
entspräche: Eine autoritäre Schulpraxis widerstreitet den Grundlagen seiner Theorie,
die in der Spontaneität des Kindes das entscheidende Bezugsphänomen sieht.
Weiterhin ist zu bemerken, daß die Schülererwartungen als Gruppenerwartungen
nicht individuell-spontan sind, sondern ihrerseits zur Schüler-Rolle
gehören, das heißt den Verhaltenserwartungen Dritter entsprechen. So gehört es bei uns offenbar zur Rolle des Schülers, dem Lehrer
Autonomie gegenüber den aktuellen Schülerwünschen, Neigungen und Sympathien
einzuräumen, ja zu erwarten, daß dieser seine Autonomie zur Geltung bringt, das heißt eine respektheischende Figur ist. Diese Erwartung allerdings kann
leicht in eine autoritäre Struktur des pädagogischen Rollenfeldes
umschlagen, sie muß es aber nicht notwendig17
|b 265|17Insofern bedeuten Daten, wie die von Kob in
»Das soziale Berufsbewußtsein ...«
oder in
soziologischen Erhebungen über die Lage der Jugend mitgeteilten, im
Hinblick auf das Verlangen nach
»autoritärer«
pädagogischer
Führung, sehr wenig. Dieses Verlangen nach einer sogenannten
»Autorität«
ist ein viel zu komplexes Phänomen, als
daß es mit so groben Mitteln aufzuklären wäre, besonders |b 266|wenn für das pädagogische
Verhalten aus solcher Aufklärung Gewinn gezogen werden soll.
.
[009:22] Damit gehört die Anerkennung der Selbstrolle des Lehrers und ihre Berücksichtigung im eigenen Verhalten zur Rolle des Schülers. Lehrer-Rolle und Schüler-Rolle entsprechen sich, da ihnen beiden ein dieses Sozial-Verhältnis übergreifendes Muster zugrunde liegt18
|b 266|18Dies wäre ein circulus vitiosus, wenn die Reziprozität des realen Rollenverhaltens eine
vollständige wechselseitige Determination implizieren würde. Vgl. zu
dieser Problematik und ihrer prinzipiellen Bedeutung für die Soziologie
und Anthropologie F. H.Tenbruck, Zur deutschen Rezeption der Rollentheorie, in: Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 1961, S. 1 ff.; ferner H.Pleßner, Soziale Rolle und menschliche Natur, in: Erkenntnis und
Verantwortung, Festschrift für Theodor Litt, hrsg. von J.Derbolav und F.Nicolin.
: Erwartungen, die die Gesellschaft sich selbst
zumutet im Hinblick auf den Umgang von Erziehern mit Unerzogenen.
[009:23] Damit sind aber die Rollenverhältnisse in
einer Allgemeinheit beschrieben, die die besondere Lage in der gegenwärtigen
Gesellschaft noch unbestimmt läßt. Das
ȟbergreifende
Muster«
, die
»Erwartungen, die die Gesellschaft sich
selbst zumutet«
, koinzidieren nur formal im Repräsentanten der Erziehung, dem Lehrer. Im Hinblick auf die Inhalte
nämlich zeigt sich, daß er keineswegs bloß der verlängerte Arm der
Gesellschaft ist, sondern daß diese ihm, in der Offenheit der Richtlinien
und Lehrpläne deutlich dokumentiert, ausdrücklich eine relative Autonomie
einräumt. Im Prinzip soll daher das Verhalten des Lehrers nicht durch die
Erwartungen der Bezugsgruppen motiviert werden, obwohl es faktisch häufig so
sein mag. Der Lehrer hat die in der Struktur der
gegenwärtigen Gesellschaft begründete Möglichkeit, seine eigenen
pädagogischen Motive ins Spiel zu bringen und nach ihnen zu
entscheiden. Er ist in diesem Sinne Fachmann. Er kann sein
Verhalten innerhalb der Schulklasse nach Maßgabe seiner pädagogischen
Theorie bestimmen. Nun ist aber der
»Fachmann«
durchaus
als Rolle zu begreifen. Das Dargestellte wäre also nichts für den Lehrer
Charakteristisches, wenn nicht seine Rolle Merkmale hätte, die sie der Art
nach von anderen Fachleuten innerhalb der Gesellschaft unterschiede.
Selbstrolle, Erziehungstheorie und
Bildung
[009:24-25] Eingeschichtlicher Rückblick mag das
verdeutlichen. Der Hof- und Schulmeister des 18. Jahrhunderts war
rollenmäßig festgelegt. Seine Aufgabe war die standesgemäße,
berufsentsprechende, wissensmäßige Einübung des Zöglings in eine
bestimmte Rolle und nur in diese. Diese Rolle wurde von Erziehungspersonen selbst repräsentiert bzw. demonstriert. Der Zögling lernte sie durch Nachahmung. Mit dem Auftauchen des Individualitäts-
und Bildungsbegriffs aber wird dieses einsinnige Verhältnis gestört.
Mit dem Individualitätsbegriff beginnt eine Analyse und
Differenzierung des Seelenlebens, entsteht die
»Innerlichkeit«
als ein reflektierendes Gegenstück zu den
äußeren sozialen Tatsachen, geschieht eine Sensibilisierung der
»sozialen Wahrnehmung«
. In dem Bildungsbegriff
werden diese Momente zusammengenommen und formiert zu einer
Forderung an das Subjekt, zu einer Aufgabe der Lebensführung, und
zwar unabhängig von bestimmten sozialen Rollen und gleichbleibend in
diesen allen. Dieses neue anthropologische Modell und das ihm
korrespondierende Verhalten hält sich nicht lange in den
intellektuellen Zirkeln und Pfarrhäusern verborgen, sondern gewinnt
einerseits soziale Mächtigkeit, andererseits wird es von der
Erziehungspraxis und ihrer Theorie aufgenommen und ausgebaut. Die
pädagogische Reflexion nimmt fortan den mit dem Bildungsbegriff
gemeinten Sachverhalt zu ihrem
Ausgangspunkt: eine allgemeine Bildung, die unabhängig von
bestimmten gesellschaftlichen Positionen gilt. Damit aber ist dem
Lehrerstand eine gemeinsame Basis geschaffen, der Lehrerstand als
eine soziale Gruppe entsteht überhaupt erst. Die
Lehrer-Rolle wird nicht mehr durch bestimmte Berufe, Stände oder
Wissensinhalte präformiert, sondern durch den ihr
berufsspezifisch eigenen Auftrag der Allgemeinbildung.
Diese Distanz zu den tradierten Rollenerwartungen und der in ihnen gesellschaftsspezifisch festgelegten
Interpretation des Phänomens Erziehung wird in einer neuen Forderung
deutlich: Statt technischer Ausbildung verlangt der Lehrer wissenschaftliche Bildung. Er tritt damit in einen kritischen Gegensatz zu den auf
bestimmte Positionen und Verhaltensweisen festgelegten Erwartungen
der Gesellschaft, das heißt er wird ein eigenständiger sozialer Faktor zugleich mit der
Eigenständigkeit seiner theoretischen Konzeption. hat das sehr gut gewußt und damit die Fakten
bestätigt. Seine Regulative sind als ein Versuch zu verstehen,
die Entwicklung der pädagogischen Selbstrolle rückgängig zu machen.
Die akademische Lehrerbildung scheint mir das bisherige Ende dieser
Entwicklung zu sein.
|b 106|
[009:26] Auf eine
andere Eigentümlichkeit in der Geschichte der pädagogischen
Selbstrolle muß noch hingewiesen werden. Nicht nur, daß der
Lehrer sich kraft seiner Selbstrolle von den ständisch
festgelegten Verhaltenserwartungen distanzierte; in diesen
Erwartungen selbst tauchten Differenzen auf, die eine solche
Distanzierung und die damit einhergehende Reflexion
beförderten. Einen vergleichsweise harmlosen Niederschlag
fand dieses Problem in Schleiermachers Formulierung, die Erziehung habe den Heranwachsenden an die disparaten Lebensbereiche Kirche, Staat, Wissenschaft und den geselligen Verkehr abzuliefern. Bei Diesterweg (1834) liest es sich radikaler, aktuell
und politisch:
»Gar mancherlei Ansprüchen muß der
Schullehrer genügen. Ich habe es erlebt, daß
innerhalb weniger Monate eine Schule nacheinander
besucht wurde von dem Schulinspektor, dem Landrate,
dem Schulrate und dem Chefpräsidenten der Regierung.
So verschieden waren die Gesichtspunkte, aus welchen
die verschiedenen Vorgesetzten die Schule und deren
Hauptzweck betrachteten. Es fehlten nur noch der
Pfarrer, der Konferenzdirektor, der Seminardirektor,
der Oberpräsident oder auch ein Ministerialrat oder
der Herr Minister selbst. Es gibt keinen anderen
Beamten, der so viel Vorgesetzte hätte, die sich
mitunter direkt um ihn kümmern, keinen Beamten, an
welchen so verschiedene Anforderungen gemacht werden.«
19
|b 266|19
A.Diesterweg, Wegweiser zur Bildung für deutsche Lehrer
(1834), zit. nach Schuh, a. a. O., S. 40 f.
H. Tuggener kommt in seinem umfangreichen Buch (Der Lehrer, Studien über Stand, Beruf und Bildung
des Volksschullehrers, Zürich 1962) zu
ähnlichen Ergebnissen. Mit den Begriffen
»Vieldimensionalität«
und
»Ambivalenz«
versucht er, den Funktionsraum der modernen Volksschule
zu charakterisieren:
»Sie (Vieldimensionalität
und Ambivalenz) haben sich wesentlich in den
letzten 150 Jahren Schulgeschichte langsam
herausgebildet. Eigentlich werden sie von dem
Augenblick an sichtbar und immer deutlicher, da
die Schule als eine allgemeine
Volksschule ... konstituiert wird«
(S. 168)
. Aber: Der damit zugleich entstandenen Heteronomie
tritt bald
»die Autonomie des (schulischen)
Funktionsraumes gegenüber. Es hat sich im Verlaufe
der Ausweitung des Funktionsraumes mit der Zeit
die Tendenz entwickelt, die geistige
Selbständigkeit des Funktionsraumes zu
konstituieren oder zu postulieren«
(S.
172)
.
»Der Anspruch auf
Eigenständigkeit gegenüber den heteronomen
Zumutungen aus den kulturellen Außenbezirken des
Funktionsraumes verstärkt sich nämlich gerade mit
der stetig sich differenzierenden Heteronomie«
(S. 187)
.
[009:27] Die Entwicklung einer eigenständigen
pädagogischen Theorie und damit der schon erwähnten theoretischen
Rollenkonzeption läuft mit der institutionellen und ideologischen Differenzierung der Gesellschaft nicht nur
parallel, sondern wird von dieser geradezu provoziert. Die
Forderungen nach wissenschaftlicher Ausbildung
des Lehrerstandes, die Entstehung der Erziehungswissenschaft und das Bedürfnis nach
ideologischer Neutralität sind nur verschiedene Aspekte dieser
theoretischen Rollenkonzeption. Damit gehört aber Kulturkritik strukturell zu dieser Konzeption, wenn man
bereit ist, das kritische Abwägen der heteronomen, im Raum der
Erziehung sich Geltung verschaffenden Erwartungen der Gruppen einer Kultur so zu nennen.
[009:28] Diesem kulturkritischen Moment, mit dem die oft
behauptete und beschriebene eigentümliche Dialektik in
das pädagogische Denken gekommen ist, entspricht ein
zweites. Bildung ist nicht als das Attribut einer Elite20
|b 266|20Bildung ist dies jedenfalls nicht an ihrem
historischen Ursprung. Daß der Begriff im Verlauf
des 19. Jahrhunderts zu einer elitären Qualität
verarmte oder spezifiziert wurde, verstellt immer
wieder die geschichtlichen Quellen, aus denen er stammt, und die Phänomene, die mit ihm bis hin zu
Schleiermacher und Diesterweg benannt werden sollten. Freilich ist
die
»verarmte«
Fassung des
Begriffs soziologisch handlicher, weil
schichtenspezifisch.
, sondern als eine
allgemeine Bildung gemeint, als eine in allen
gesellschaftlichen Positionen und Rollen mögliche
Qualität, gleichsam als Supra-Rolle. Die Aufgabe des
Lehrers an allgemeinbildenden Schulen ist es deshalb |b 107|nicht, ausschließlich auf
bestimmte, als Verhaltenserwartungen gesellschaftlicher
Gruppen formulierbare Rollen vorzubereiten und in sie
einzuführen. Vielmehr liegt die von ihm vermittelte
Bildung vor oder über diesen Erwartungen und dann
als eine mögliche gemeinsame Qualität aller in ihnen allen. Mit dem
Bildungsbegriff ist die mögliche Distanz, Kritik und
Freiheit gemeint, die ein einzelner seinen Rollen
gegenüber haben kann. Zu diesem Modell paßt weder eine
frühzeitige Fixierung auf, noch eine unkritische und
reflexionslose Einübung in bestimmte Rollen (etwa in der
Berufsausbildung). Der Lehrer soll als Gebildeter –
gemäß dieser Bildungstheorie – der jungen Generation
gegenüber diese Kritik und Reflexion repräsentieren, er
soll ihr die
»Rolle des Gebildeten«
vermitteln. Diese Rolle nun erheischt
die Autonomie des Lehrers den an der Schule
interessierten Gruppen gegenüber. Sie fordert
von ihm, daß er unparteiisch bleibt, sich aber alsvermittelnde Instanz etabliert.
Das ist der Bildungssinn einer demokratischen Schulverfassung. Insofern ist der
Bildungsbegriff politisch. Damit ist allerdings nicht
die Wirklichkeit der Schule beschrieben, sondern sind
bestimmte Voraussetzungen expliziert, die überall dort
gemacht werden, wo von Bildung die Rede ist. Es sind
Postulate, die sich aus dem normativen Charakter des
Bildungsbegriffs ergeben und denen die Praxis zwar mehr
oder weniger entsprechen mag, die aber selbst ein Moment
dieser Praxis darstellen. Denn was in der theoretischen
Analyse leicht zu konstatieren und als Idealtypus zu
formulieren ist, das stößt in der Schulpraxis offenbar
auf außerordentliche Schwierigkeiten, wenn wir den
zitierten empirischen Untersuchungen glauben dürfen, und
zwar deshalb, weil die Sanktionen, die die
außerpädagogischen Gruppen zur Verfügung haben, in
keinem Verhältnis zu den geringen Kontrollmöglichkeiten
der rein pädagogischen Bezugsgruppe stehen. Jedenfalls
zeigt die Untersuchung von Gahlings und Moering, daß unter solchen Umständen schon
nach wenigen Jahren sich die Fragilität der durch die
Ausbildung vermittelten Verhaltenserwartungen erweist.
Die im sozialen und ideologischen Pluralismus als
vermittelnde Instanz verstandene Selbstrolle der
pädagogischen Berufe droht immer wieder an der
objektiven Gewalt außerpädagogischer Sanktionen und
Verhältnisse zu zerbrechen21
|b 266|21Zu diesen Verhältnissen gehören nicht nur die
Interessengruppen, sondern ebenso die Phänomene der
»Halbbildung«
oder auch die
tiefenpsychischen Mechanismen, denen der Lehrer
unaufgeklärt erliegen kann, wenn anders
»Selbstrolle«
,
»Bildung«
,
»Reflexion«
Begriffe sein sollen, die
»Aufklärung«
implizieren. Vgl. dazu Th. W.Adorno: Theorie der Halbbildung, in: Th. W.Adorno und M.Horkheimer: Sociologica II, Frankfurt/Main 1962; und W.Hochheimer: Zur Tiefenpsychologie des pädagogischen
Feldes, in: Psychologie und Pädagogik. Neue
Forschungen und Ergebnissehrsg. von J.Derbolav und H.Roth, Veröffentlichungen der Hochschule für Internationale
Pädagogische Forschung II, Heidelberg
1959.
. An dieser Stelle setzt dann dasjenige ein, was
als Isolierung, Resignation oder
Kulturpessimismus der Lehrerschaft bezeichnet
wird.Die erwähnte Autonomie des Lehrers den Erwartungen
seiner Klasse gegenüber wird ihm
zwar eingeräumt, weil sie nämlich den Interessen der am
Erziehungsgeschäft beteiligten Gruppen dient –
allerdings nur solange, als seine
Strategie den Erwartungen dieser Gruppen entspricht; sie
wird |b 108|ihm faktisch nicht
eingeräumt im Hinblick auf diese Erwartungen, bzw. ihm als Kulturkritik verübelt.
[009:29] Dies allerdings ist eine für den
gegenwärtigen Stand der pädagogischen Rollenforschung – sofern
überhaupt davon zu sprechen ist – recht weit ausgreifende Hypothese.
Es wäre verschiedenes zu prüfen: so z. B. ob es Schulsysteme oder
Schulformen gibt, in denen modellhaft die so verstandene Funktion der Selbstrolle verwirklicht ist; ob
sie für sich selbst
»lebensfähig«
in dem konkret
sozialen Sinne des Wortes oder nur als kritische Reflexion möglich
ist; ob sie überhaupt in einem auch anderen Gruppenerwartungen
vergleichbaren Sinne internalisiert wird, oder – noch weitergehend –
ob sie überhaupt internalisierbar ist; ob sie, als Konzeption einer sozialen Rolle, nicht
utopische Züge trägt.
[009:30] Auf diese Fragen kann hier nicht mehr
geantwortet werden. Indessen will ich noch einige
Differenzierungen andeuten, die die vorgenommenen
Verallgemeinerungen abschließend wenigstens teilweise wieder
auflösen und näher an die praktischen Probleme heranführen.
[009:31] Zunächst ist darauf hinzuweisen, daß
sich die beschriebene Problematik in den verschiedenen Schulen in je
besonderer Weise darstellt. Das gilt für die Schultypen wie auch für die soziale
Lagerung der einzelnen Schulen. Die Arbeiten Schuhs, Kobs und Lemperts machen daher auch deutlich, daß in Volks-, Höheren und Gewerbeschulen nicht nur Unterschiede dem Grade, sondern der Art nach
bestehen. Eltern, Kirchen, Berufsverbände und Erwartungen, die der
Praxis der wissenschaftlichen Disziplinen entstammen, strukturieren
das Rollenfeld der Schule in je typischer Weise. In den höheren Schulen scheint sogar die Problematik der Selbstrolle,
wenigstens in der dargestellten Weise, gar nicht zu existieren, da
die Rollenkonkurrenz offenbar nicht in ein und demselben Subjekt,
sondern nach
»Typen«
getrennt auftritt. Allerdings sind Hypothesen in der einen
oder anderen Richtung hier noch kaum möglich.
[009:32] Auch nach der sozialen Situation der einzelnen Schulen müßte
differenziert werden. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land sind
in den vorliegenden Analysen deutlich hervorgetreten. In jedem
einzelnen Fall aber ist es ja entscheidend, mit welcher Intensität
die Erwartungen an die Schule herangetragen werden, mit welchen
Mitteln der Verkehr des Lehrers mit den Bezugsgruppen abläuft,
welche Rolle der Lehrerschaft und damit der Schule schon
traditionell in dieser ihrer Gemeinde zugesprochen wird.
[009:33] Sodann wäre zu fragen, ob die Selbstrolle überhaupt je ihre hier angedeutete kritische
Möglichkeit hat entfalten können. Die Schule als relativ |b 109|eigenständiger Komplex im Kulturganzen entfaltet als
Verwaltungsapparat und Beamtenhierarchie,
die eigenen Tendenzen folgt, auch eigene soziale Mächtigkeit. Sie
muß nicht notwendig in Richtung und Inhalt dem ursprünglich
gemeinten Sinn der Selbstrolle folgen. An Stelle einer
außerpädagogischen Heteronomie tritt die gleichsam innerpädagogische
der
»verwalteten Schule«
. Im institutionellen
Zusammenhang des eigenen Hauses muß der Lehrer den Konflikt zweier
Erwartungskomplexe austragen, nämlich zwischen dem
»informellen System«
der Klasse und dem
der Schulleitung bzw. Schulverwaltung. Der Lehrer ist zudem Repräsentant einer
sozialen Schicht, deren Werte er verinnerlicht hat und die
durch ihren Mittelschicht-Standard die Entfaltung eines
kritischen Rollenverständnisses behindert, mindestens aber
erschwert.
[009:34] Sicherlich muß auch die Einsicht in die
Reziprozität des Rollenphänomens
Anwendung finden. Selbstrolle und außerpädagogische Erwartungen
stehen sich nicht fremd gegenüber, um erst durch das
Erziehungsgeschäft in Kontakt zu kommen. Es läßt sich im Gegenteil
sinnvoll sagen, daß erst der Kontakt der Gruppen das Rollenfeld
strukturiert, das heißt die Erwartungen sich gegenseitig hervorbringen. So bildet
sich unter Umständen eine Gemeinde ihre Lehrer und modifiziert dabei, in der
Auseinandersetzung mit deren Selbstrolle, ihre eigenen Erwartungen;
so prädisponiert andererseits die besondere Form einer Schule – etwa
eines Internats, einer Waldorfschule – die Erwartungen, die an sie
gerichtet werden können. Was im Hinblick auf das Ganze einer Schule
oder Lehrerschaft gesagt werden kann, gilt vermutlich auch vom
einzelnen Lehrer. Es muß sogar für ihn gelten, soweit er die
pädagogische Selbstrolle akzeptiert, da das kritische Reflektieren
der besonderen Situationen, ihre analytische Durchdringung und das
vermittelnde Verhalten in einem mehrsinnigen Rollenfeld Bestandteile seiner Selbstrolle sind.
[009:35] Ein schon bei Pestalozzi und dann immer wieder auffälliges Phänomen soll
noch andeutend erwähnt werden. Es scheint eine Eigentümlichkeit der
Selbstrolle zu sein, nur in der Theorie rein zu existieren.
Auffällig ist nämlich, daß die Unterrichtspraxis, entgegen den formulierten
Intentionen, eine zweite Selbstrolle ausbildet, die von dem durch
die Praxis motivierten Trend zur Mechanisierung und Methodisierung
hervorgebracht wird. Diese faktische Entfremdung, die sich im
Auseinanderklaffen von Theorie (als Selbstverständnis) und Praxis
(als Verhalten) dokumentiert, hat auch eine tiefenpsychische Seite,
auf die Hochheimer nachdrücklich hingewiesen hat. Danach verhindern allzu häufig nicht durchschaute Per|b 110|sönlichkeitsstrukturen die Bildung des Lehrers; die Entfremdung in der Unfreiheit des so erworbenen Rollenverhaltens bleibt solange manifest, wie nicht eine Selbstaufklärung die
Hindernisse übersteigbar macht und damit auch die Verwirklichung der pädagogischen
Selbstrolle ermöglicht.
[009:36] Indessen könnte sich zeigen, daß, aufs
Ganze gesehen, die Selbstrolle eine Konzeption spekulativer Theorie, aber kein bedeutender Faktor der pädagogischen
Praxis ist, oder auch, daß hier die Praxis überinterpretiert wurde. Würde
sich erweisen, daß die Selbstrolle nur in einer unbedeutenden
Minderheit zur praktischen Wirklichkeit käme, dann läge in der Tat
die Vermutung nahe, daß in der Geschichte der Erziehung wiederum ein
neuer Abschnitt beginnt; der
Bildungsbegriff wäre funktionslos geworden. Stellte sich dagegen
heraus, daß sie nur durch ständige Frustrationen abgedrängt würde, vor der faktischen Gewalt
außerpädagogischer Gruppen und Interessen resignierend, dann
bedürfte die ihr entsprechende und sie stützende theoretische Konzeption einer die realen Widerstände nachdrücklicher miteinbeziehenden
Veränderung.
Nachwort 1971
[009:37] Die
»Rollenproblematik des Lehrerberufs«
wurde vor fast neun Jahren niedergeschrieben. Sie spiegelt nicht nur den
damaligen – unter gegenwärtigem Gesichtspunkt unzureichenden –
wissenschaftlichen Stand des Verfassers, sondern dokumentiert zugleich
auch die historische Distanz, die das letzte Jahrzehnt der deutschen
Erziehungsgeschichte gesetzt hat. Deshalb sind einige Bemerkungen
angebracht, die die Richtung denkbarer Korrekturen andeuten sollen.
1.
[009:38] Die Arbeit geht von einer Position aus, die ich heute
als einen funktionalistischen Optimismus bezeichnen möchte. Das
dokumentiert sich am deutlichsten darin, daß das Gefüge von
Bezugsgruppen und der ihnen entsprechenden Rollenerwartungen im
Sinne einer Pluralismus-Vorstellung interpretiert wird, die die
Annahme enthält, die Pluralität der Erwartungen sorge dafür,
»daß der Lehrer durch
solche Struktur des Rollenfeldes in eine kritische Distanz
zu dem ihm begegnenden gesellschaftlichen System ...
gedrängt wird«
. Ich vermute, daß dieser Satz
nur richtig ist unter der Voraussetzung eines Begriffs von
»Kritik«
, der sich auf den Spielraum
individuellen Verhaltens beschränkt und den Rahmen sowohl einer
mittelständischen Wertorientiertung wie auch eines formalen Demokratie-Be|b 111|griffs nicht überschreitet. Dieser Einwand wird
bestärkt einerseits durch die inzwischen erschienenen Untersuchungen
zum politischen Bewußtsein und zum Gesellschaftsbild von Lehrern,
andererseits durch die Rolle, die die Lehrerschaft in den
Schulkonflikten der letzten Jahre gespielt hat.
2.
[009:39] Damit erweist sich auch der Begriff der
»Selbstrolle«
als eine empirisch nicht recht
haltbare Kategorie. Sie hat etwas Münchhausenartiges: aus der
Divergenz der Rollenerwartungen soll – und darin erweist sich der
Begriff auch analytisch als inkonsequent – als Reaktion eine neue
Erwartung und eine dieser Erwartung korrespondierende Motivation
entstehen. Woher? Der Lehrer kann allemal nur seinen eigenen Schopf
packen! Eine kritische Deutung seiner eigenen Situation, die
Ausbildung
»einer eigenen Rolle«
, entsteht eben
nicht funktional aus den vorhandenen Erwartungsdifferenzen – gerade
der affirmative Charakter der deutschen
»autonomen Pädagogik«
belegt das,
sondern offenbar nur in einer kritischen, auf das gesellschaftliche
Ganze bezogenen Reflexion des Rollenensembles. Dennoch scheint mir,
daß im Begriff der Selbstrolle etwas der Sache nach Richtiges, wenn
auch dem Vokabular nach Falsches steckt: die Frage nach den
Bedingungen der Entstehung eines widerstandsfähigen Selbstbildes,
das in der Berufssituation sich den Rollenerwartungen gegenüber
kritisch behaupten kann, z. B. durch die Fähigkeit,
gesellschaftliche Sanktionen in einem relativ breiten Spielraum zu
ertragen. Das setzt natürlich voraus, daß der Lehrer in
Bezugsgruppen existiert, die die Stabilisierung eines derart
widerstandsfähigen Selbstbildes in einem flexiblen
Kommunikationszusammenhang ermöglichen. Ausbildungsstätten könnten
unter Umständen einen solchen Zusammenhang darstellen. Aber das ist
ein Optativ, kein Indikativ. Es empfiehlt sich deshalb an dieser
Stelle auch weniger der Bezug auf die Sozialpsychologie Hartleys, wie in dem Aufsatz geschehen, sondern eher die
Anknüpfung an den symbolischen Interaktionismus.
3.
[009:40] Akzeptiert man die vorstehenden Korrekturen, die im
wesentlichen die Elemente eines falschen Idealismus revidieren, dann
folgt daraus auch, daß die These, der
Lehrer sei als
»Fachmann«
pädagogisch-autonom, nur relativ wahr sein kann. Diese
»Autonomie«
ist beschränkt durch die Grenzen des
Entscheidungsspielraums; diese aber werden vermutlich von den
Reproduktionserwartungen gesellschaftlich herrschender Instanzen,
vor allem der Wirtschaft, gesetzt. Der Hinweis auf den Auftrag der
»Allgemeinbildung«
ist irreführend, wenngleich
nicht sinnlos: das Allgemeinbildungspostulat hatte zur Zeit des
Neuhumanismus gewiß eine emanzipatorische Dimension; heute fungiert
es indessen eher affirmativ, das heißt die bestehenden|b 112|Rollenerwartungen unkritisch bestätigend, es sei denn,
Allgemeinbildung heißt: die Heranwachsenden auf kritisch-politische
Beteiligung vorbereiten. Die entsprechende wissenschaftliche Bildung
der Lehrer wäre dann auch nicht nur eine fach- und
erziehungsspezifische, sondern eine solche, die die
wissenschaftliche Kalkulation der politischen Folgen des
Erziehungshandelns einschließt. Erst die Konsequenz kann den
»kritischen
Gegensatz zu den auf bestimmte Positionen und
Verhaltensweisen festgelegten Erwartungen der
Gesellschaft«
wahrscheinlich machen.
4.
[009:41] Vollends defizitär erscheint heute die in dem Aufsatz
beschriebene Beziehung zwischen Lehrer und Schüler. Eine derart
formale Beschreibung deutet kaum mehr als einige Momente des
analytischen Rahmens an, innerhalb dessen die inhaltlichen Probleme
jener Beziehung diskutiert werden müssen. Einen Hinweis darauf
liefert die Beobachtung, daß die Schülerbewegung nicht nur die Form
der Lehrer-Schüler-Beziehung aufgegriffen und eine neue
Beziehungsdefinition versucht hat, sondern auch die Inhalte dieser
Beziehung zu revidieren trachtet. Darüber hinaus ist durch sie und
die Form der entstandenen manifesten Konflikte deutlich geworden,
daß die Analyse der Rollenbeziehung Lehrer–Schüler nur sinnvoll ist
im Zusammenhang einer Analyse der materiellen und organisatorischen
Bedingungen der Schule. Das bedeutet, daß eine Rollenanalyse
mindestens drei Aspekte zu berücksichtigen hat: die curricularen
Elemente und Entscheidungen (Inhaltsaspekt), die Verhaltenselemente
auf der Ebene der Rollen- und Beziehungserwartungen
(Beziehungsaspekt) und die Verwertungsinteressen, die an die
Ausbildungsinstitutionen geknüpft werden (gesellschaftspolitischer
Aspekt).