Sozialpädagogik [Textfassung b]
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[013:1] Sozialpädagogik. Begriff und Geschichte. Das Wort Sozialpädagogik hat sich als Bezeichnung für einen bestimmten Umkreis pädagogischer Aufgaben und Einrichtungen und deren Theorien eingebürgert. Die Sozialpädagogik umfaßt alle jene Aufgaben, die in industriellen Gesellschaften als besondere Eingliederungshilfen notwendig geworden sind und gleichsam an den pädagogischen Konfliktstellen dieser Gesellschaft entstehen. Es gibt sie in diesem Sinne erst, seit die gesellschaftlichen Vorgänge einer pädagogischen Kritik unterzogen werden und es augenfällig wurde, daß die traditionellen Erziehungswege nicht mehr ausreichen, um den Vorgang des Heranwachsens zu sichern.
[013:2] Auf der erziehungsideologischen Ebene haben vorwiegend drei Motive ihre Entstehung bestimmt:
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[013:3-4] (1) die Idee einer allgemeinen Volkserziehung; sie bewirkte, im Gefolge der Aufklärung und im Zusammenhang mit ersten Demokratisierungstendenzen, daß die ganze Breite der heranwachsenden Generation in ihrer gesamten Lebenswirklichkeit ein Gegenstand des pädagogischen Interesses und der pädagogischen Bemühung wurde; (2) die Kenntnis der sozialen Bewegung Frankreichs und die Sorge angesichts des
»Pauperismus«
, die soziale Bewegung könnte sich weiter ausbreiten; man mobilisierte die pädagogischen Kräfte, diesen Entwicklungen zu begegnen, die befürchtete revolutionäre Entwicklung zu verhindern und die neuen Lebenssituationen des Menschen in Stadt und Industrie zu bewältigen; der sozialpädagogische Begriff
Gefährdung
hat hier seinen Ursprung; (3) die
Jugendverwahrlosung
, die erst jetzt als ein pädagogisches Problem betrachtet wurde, nämlich sofern offensichtlich wurde, daß die mit diesem Begriff gemeinten Erscheinungen eine Funktion der sozialen und der Erziehungssituation des Menschen sind. Die Funktion dieses Begriffes ist aber von Beginn an auch eine sozial-integrative: es werden mit ihm Anpassungsleistungen an die bürgerliche Klassengesellschaft bewertet. Aus der pädagogischen Reformbewegung im ersten Drittel des 20. Jhs. erwuchsen die Anfänge einer sozialpädagogischen Theorie (Ch. J. Klumker, A. Fischer, G. Bäumer, H. Nohl), die teilweise ihre juristische Entsprechung im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1924 und im Jugendgerichtsgesetz von 1923 gefunden hat. Jugendpflege, Jugendfürsorge und Gefängniserziehung waren diejenigen Einrichtungen der pädagogischen Praxis, von denen das sozialpädagogische Bewußtsein und die sozialpädagogische Theorie ihren Ausgang nahm. Seither hat sich das sozialpädagogische Feld durch Umformungen und Erweiterungen verändert und differenziert, so daß heute die vielen Arten der Heimerziehung, der vor- und nebenschulischen Kindererziehung, der Jugendarbeit und Jugendsozialarbeit, der ambulanten und halbstationären Formen der Jugendhilfe in Wohnkollektiven, der Erziehung, Eltern- und Familienberatung, der organisatorischen Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes u. ä. noch dazuzurechnen sind.
[013:5] Gemeinsam ist allen diesen Einrichtungen, daß sie – neben den kontinuierlich das Heranwachsen steuernden oder begleitenden Erziehungswegen von der Familie durch Schule und Berufsbildung bis zur Erwachsenenbildung – und als Einrichtungen der
»Jugendhilfe«
zusammengefasst – ein teils bewegliches, teils noch konservativ starres System von Maßnahmen |b 292|bilden, die im je besonderen Erziehungsfall entweder planvoll eingesetzt werden können oder als helfende Institutionen für ad hoc auftauchende Erziehungsprobleme bei Familien, Kindern und Jugendlichen bereitstehen.
[013:6] Sozialpädagogik als Terminus für einen bestimmten Aufgaben- und Einrichtungskomplex ist etwas anderes als das mit dem Begriff Sozialerziehung Gemeinte; dieser Begriff bezeichnet lediglich einen bestimmten Aspekt nahezu aller Erziehungsvorgänge, gleichgültig, ob sich diese Vorgänge nun in der Familie, der Schule, an der Arbeitsstelle oder in einer sozialpädagogischen Institution abspielen. Der Begriff Sozialpädagogik ist demgegenüber an Erziehungseinrichtungen von einer bestimmten Aufgabenart gebunden und so wenig ein Aspekt der Erziehung im allgemeinen Sinne, wie es Familien-, Schul- oder Erwachsenenpädagogik sind. Er kann deshalb auch als Synonym für
»Theorie der Jugendhilfe«
verwendet werden. Das schließt nicht aus, daß die institutionelle Trennung nicht immer gelingt und auch kaum durchgehend zu wünschen ist. Erziehungsberatung und Schule, Erwachsenenbildung und Jugendpflege, Familienerziehung und Fürsorge haben, wie viele andere pädagogische Einrichtungen, nicht nur mannigfache Berührungsstellen, sondern dringen häufig eine in die andere ein und übernehmen dort wechselseitig Aufgaben, wo nur in solcher Kooperation die pädagogische Aufgabe zu bewältigen ist. Andererseits aber ist nicht zu übersehen, daß es die Sozialpädagogik besonders nachdrücklich mit dem sozialerzieherischen Aspekt zu tun hat. Ihre Einrichtungen, als ein dritter pädagogischer Ort neben Familie und Schule, entwickeln sich immer mehr und mehr zu eigenständigen, nachholenden oder begleitenden Stätten der Sozialerziehung, die angesichts der fundamentalen Erziehungsprobleme, welche Industrialisierung und Demokratisierung, vor allem aber die durch soziale Ungleichheit produzierten Deprivationen in den Lebens- und Lernchancen von einzelnen und sozialen Gruppen stellen, von Familie und Schule allein nicht mehr zu lösen sind; denn die Anforderungen, die die moderne Gesellschaft an die Soziabilität ihrer Bürger stellt, sind höher als die sozialen Fähigkeiten, die sich im pädagogisch nicht vermittelten Hineinwachsen in diese Gesellschaft bilden.
[013:7] Grundprobleme. Eine Reihe von Problemen, die an sich in allen pädagogischen Institutionen und Vorgängen eine Rolle spielen, treten in der Sozialpädagogik in charakteristischer Weise hervor und bestimmen ihr Profil.
[013:8] 1. Die Sozialpädagogik ist nicht nur gleichzeitig mit der industriellen und bürgerlichen Gesellschaft entstanden, sondern sie hängt auch der Art nach eng mit dieser zusammen. Sie kommt |b 294|überall dort ins Spiel, wo die soziale Entwicklung das Heranwachsen gefährdet, wo sie dem Menschen Schaden zugefügt hat oder zuzufügen im Begriffe steht. Sie kann daher nur begrenzt von den sozialen und kulturellen Traditionen ausgehen und an diesen Halt finden, denn sie sieht sich dem Werden einer Gesellschaft gegenüber, deren Unvollkommenheiten dem Sozialpädagogen unmittelbar als materielle und psychische Ausbeutung, Benachteiligung und Beschädigung, Unterdrückung und Disziplinierung von Menschen entgegentreten. Das aber bedingt, daß der sozialpädagogischen Tätigkeit immer auch ein sozialpolitischer Gedankengang innewohnt. Die in der Praxis täglich neu erfahrene subjektive Entsprechung einer problematischen gesellschaftlichen Lage im einzelnen Erziehungsfall weist die Erziehungstätigkeit auf diese Lage zurück als auf die Bedingungen der individuellen Erziehungsbedürftigkeit. Die sozialpädagogische Erziehungsrichtung nimmt daher nie nur den direkten Weg auf den einzelnen zu, sondern schließt die Absicht zur Veränderung der Erziehungsbedingungen (Stadtteilarbeit, Gemeinwesenarbeit, politische Aktion) mit ein. Neben den pädagogischen Bezug tritt die Erziehungsplanung die bisweilen sogar zur ausschließlichen pädagogischen Tätigkeit werden kann. Das enge Verhältnis zwischen Sozialpädagogik, Institutionenkritik, Sozialstaatsproblematik und ökonomischen Problemen hat hier seinen Grund.
[013:9] 2. Die sozialpädagogische Praxis geschieht in einem Spannungsfeld zwischen dem als normal Geltenden und den vielen Formen von Abweichungen bis hin zur juristisch definierten Kriminalität. Sie will das
»Normale«
stützen und fördern, den Abweichungen vorbeugen und, sofern das mit pädagogischen Mitteln zu leisten ist, die eingetretenen Schäden aufheben. Es fällt aber schwer, das
»Normale«
positiv zu beschreiben, da einerseits Minimalforderungen pädagogisch unfruchtbar sind – der Erziehungsprozeß würde erstarren – und andererseits Maximalforderungen die Breite der heranwachsenden Generation nicht erreichen würden; zwischen beiden liegt ein Spielraum, der dem der Gruppen, Konfessionen und Weltanschauungen entspricht, die je einen besonderen Begriff von
»Normalität«
vertreten. Solche Normalitäts-Vorstellungen sind ideologisch, sofern sie von institutionalisierten und interessegebundenen Erwartungen ausgehen. Sie koinzidieren negativ im Begriff der Dissozialität. Mit Hilfe dieses Begriffs oder seiner Äquivalente (z.B. Verwahrlosung) definieren die gesellschaftlich mächtigen Gruppen die Grenzen zwischen erwünschtem und unerwünschtem Verhalten. Das schließt nicht aus, daß der Ausdruck Dissozialität auch objektiv eine be|b 295|stimmte Menge von Verhaltensproblemen bezeichnet, deren Erscheinung und Genese wissenschaftlich aufgeklärt werden kann. Psychologie, Psychoanalyse, Psychiatrie, die soziologische Anomie-Theorie des Interaktionismus u. a. Forschungsrichtungen haben für diese Aufklärung Entscheidendes geleistet. Dennoch gilt, daß die als dissozial zu bezeichnenden Erscheinungen in der geschichtlichen Entwicklung je nach den ökonomischen Bedingungen, den Herrschaftsverhältnissen, den besonderen Erziehungsaufgaben und den je besonderen Situationen wechseln. Diesem historischen Wechsel unterliegen allerdings die verschiedenen Dissozialitätserscheinungen in verschiedenen Graden.
[013:10] Dasselbe gilt für jene Phänomene, die in der sozialpädagogischen Diskussion unter dem Begriff Gefährdung zusammengefaßt werden. Auch ihre Bestimmung hängt von dem normalen Aspekt der Erziehung ab. Die Sorge um die Gefährdung der Jugend kann sogar als der wesentliche Impuls der gesamten Sozialpädagogik seit ihren Anfängen bezeichnet werden. Die in diesem Begriff und seiner allgemeinen Anwendung vorausgesetzte Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den Bedingungen eines gesunden Heranwachsens führt allerdings in der Regel zu Ideologien. Eindeutig kann der Begriff nur dort sein, wo durch bestimmte Einwirkungen die physische Existenz des jungen Menschen in Mitleidenschaft gezogen wird (z.B. Drogenmißbrauch, Verkehr, Kinderarbeit) oder eindeutig beschreibbare psychische Schäden auftreten. In einem pädagogisch verantwortbaren Sinne kann darüber hinaus überall dort von Gefährdung gesprochen werden, wo die Bedingungen der Autonomie und Initiative bedroht sind. Das kann also auch für sozialpädagogische Einrichtungen selbst (z. B. Jugendstrafvollzug, polizeiliche Maßnahmen, Heimerziehung) gelten.
[013:11] 3. Da diese Leistungsfähigkeit sich nicht im Prozeß des Heranwachsens gleichsam von selbst herstellt, sondern ihre Entwicklung nachdrücklich gefördert werden muß, liegt alles daran, die Bedingungen für die Entfaltung von Autonomie und Initiative zu erkennen. Die entsprechenden Überlegungen und Versuche sind in den Diskussionen um das Problem der Grundbedürfnisse formuliert worden. Offenbar gibt es eine Reihe von Bedürfnissen, ohne deren Befriedigung nur eine deprivierte Existenz möglich ist. Es sind dies zunächst die primären Bedürfnisse der vitalen Existenz, wie das Bedürfnis nach Nahrung, Schlaf, Schutz für das leibliche Dasein, nach Freiheit von Furcht, aber auch nach erotisch-sexuellen Beziehungen.
[013:12] Ihre Befriedigung reicht aber zur Existenzerhaltung nicht aus, |b 296|solange dem Kinde nicht zugleich fundamentale Erfahrungen zuteil werden, deren Ausbleiben im extremen Fall zum sog. Hospitalismus-Syndrom führen kann (Entwicklungsstillstand, Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Wimmern, motorische Verlangsamung, Kontaktstörung bis zur Kontaktunfähigkeit, idiotieähnliche Symptome, erhöhte Sterblichkeitsgefahr). Es handelt sich dabei um die – jeweils verschieden formulierten – Erfahrungen der seelischen Geborgenheit, der
»affektiven Zufuhr«
(Spitz) und der Sprache. Entbehrt das Kind sie über einen längeren Zeitraum, treten nahezu irreversible Schädigungen auf – eine Einsicht, die für alle Familien- und Heimerziehung fundamental ist. Ist die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse die Bedingung für vermutlich jede Form humaner Existenz, so ist darüber hinaus noch eine Anzahl von Qualitäten zu nennen, die für die kulturelle Existenz unseres Kulturkreises als Bedingungen angegeben werden können. Erikson nennt: Vertrauen, Autonomie, Initiative, Intimität, Produktivität, Ich- Integrität. Folgt man Erikson hierin, dann wäre es die Aufgabe der Sozialpädagogik, die Entfaltung dieser Qualitäten zu schützen, Versäumtes nachzuholen und ihre Bewährung im Erziehungsraum zu ermöglichen.
[013:13] 4. Für die Sozialpädagogik ist es charakteristisch, daß nicht der Staat ihr ausschließlicher Träger ist, sondern daß private Erziehungsinitiative in ihr eine hervorragende Rolle spielt. Das Jugendamt hat zwar die Durchführung der im Jugendwohlfahrtsgesetz vorgesehenen Maßnahmen, vor allem die Berücksichtigung des Rechtes des Kindes auf Erziehung (§ 1) zu überwachen; der Vollzug selbst aber verteilt sich unter eine Vielzahl von Trägern und Trägerverbänden (Arbeiterwohlfahrt, Caritas-Verband, Innere Mission, Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband usw.). Diese Träger-Vielfalt wird mit dem Pluralismus-Prinzip gerechtfertigt und hat im Jugendwohlfahrtsgesetz im Begriff der pädagogischen
»Grundrichtung«
, die in der Kompetenz von Trägern und Eltern (Elternrecht) liegen, seinen Niederschlag gefunden. Faktisch aber bedeutet das eine Minderung demokratischer Kontroll-Möglichkeiten, besonders der demokratisch legitimierten Jugendämter.
[013:24] Zur
»Theorie«
der Jugendhilfe.
Eine Theorie, die die Gesamtheit der sozialpädagogischen Phänomene zum Gegenstand hat, ist gegenwärtig noch problematisch. Der Ausdruck
»Theorie«
würde unter solchen Umständen entweder zu einem Sammelnamen für eine Vielzahl unzusammenhängender theoretischer Sätze und Begriffe verblassen, oder aber die Theorie müßte – etwa als Theorie pädagogischer Dysfunktionen in bestimmten |b 296|historischen Kontexten – dem sozialpädagogischen Gegenstand gegenüber auf einer Ebene von Allgemeinheit angesiedelt sein, die sie für das sozialpädagogische Handlungsfeld wenig brauchbar machen würde. Es erscheint daher zweckmäßig, eine Mehrzahl von Theorien anzustreben, die sich je nach dem Handlungsobjekt des Erziehungshandelns in Jugendhilfe-Institutionen unterscheiden. Dabei ist zu beachten, daß eine pädagogische Theorie etwas anderes ist als die Theorie der Genese eines Konfliktes, der pädagogische Interventionen erfordert. So ist z. B. eine Theorie, die die Entstehung devianten Verhaltens zum Gegenstand hat, nur begrenzt für die Planung pädagogischer Interventionen tauglich; aus dem Nachweis eines durch frühe Muttertrennung erzeugten Traumas als Ursache für spätere Dissozialität sind spätere Therapie-Möglichkeiten nur vage vorgegeben. Sozialpädagogische Theorien sind also Theorien für bestimmte pädagogische Interventionen und damit Theorien des institutionalisierten Erziehungshandelns.
[013:25] 1. Eine Schlüsselfunktion kommt den sozialpädagogischen
»Verteilungsinstanzen«
zu; das am ehesten durchschaubare Exempel dafür ist das Jugendamt. Was hier institutionalisiert ist, das ist u. a. ein Klassifikationssystem für interventionsbedürftige Probleme von einzelnen oder Gruppen (Cicourel). Interventionsbedürftigkeit wird dabei nicht von den Klienten definiert, sondern von den intervenierenden Organisationen, also den Fürsorgeverbänden (Peters), den Jugendämtern und Jugendgerichten (Cicourel, Quensel). Völlig ungeklärt ist dabei, ob die Interventionsinstanzen überhaupt eine signifikante Anzahl derjenigen Fälle erreichen, die nach ihrer Definition interventionsbedürftig sind. Da es kaum eine Rückmeldung gibt im Hinblick auf die Frage, wie wirkungsvoll das Interventionssystem ist; und da überdies die Interventionsinstanz dem Klienten gegenüber immer in der Situation des Mächtigeren ist, ist es wenig wahrscheinlich, daß die Klienten ihren Kriterien für relevante Probleme im Interventionsprozeß Geltung verschaffen können. Wahrscheinlich ist vielmehr, daß sie angesichts bevorstehender oder schon eingeleiteter Intervention ihre Probleme nach den Klassifikationsstandards der Institution umdefinieren. Zunächst werden hier nur Verhaltensmerkmale als Indizien für Interventionsbedürftigkeit identifiziert: Das Entscheidende daran ist, daß solche Verhaltensmerkmale im Kontext der Institutionen eine andere Bedeutung haben als für den betroffenen Klienten. Verhaltensmerkmale (Schulschwänzen, Kleindiebstähle, Arbeitsbummelei etc.) sind zugleich Elemente eines Klassifikationssystems, in dem es nicht nur beschreibend klas|b 297|sifikatorische Ausdrücke gibt, sondern in dem zugleich bestimmte Erklärungsmuster enthalten sind: sie sind Teil einer Vorstellung von devianten Karrieren (Quensel); das zunächst scheinbar in nur einem Merkmal als deviant klassifizierte Individuum wird im antizipierten Rahmen dieser Karriere interpretiert. Ihm wird, wiederholt und verstärkt sich dieser Vorgang, eine deviante Rolle zugeschrieben. Was an dieser Stelle mit dem betroffenen Individuum geschieht, ist in anderem Zusammenhang als
»Stigmatisierung«
(Goffman) beschrieben worden und damit – im Sinne eines Zirkels – als ein zusätzlicher Faktor bei der Entstehung und Verfestigung devianter Karrieren.
[013:26] 2. Die persönliche Biographie des Klienten aber hat primär ihren Ort nicht in bezug auf eine Einrichtung der Jugendhilfe, sondern im Rahmen der
»Lebenswelt«
des Klienten, als deren Komponenten die materielle Lage, der Ort im System gesellschaftlicher Arbeitsteilung und die Subkultur bzw. die Bezugsgruppen, denen er angehört, gelten können. Diese Lebenswelt ist für ihn der Konstitutionszusammenhang seiner Relevanz-Kriterien, d. h. derjenigen Gesichtspunkte, nach denen er Bedeutsames von weniger Bedeutsamem unterscheidet, Situationen, Probleme und Problemlösungen definiert. Man kann auch sagen: Die Lebenswelt ist das System von Definitionsregeln, in dem sich das Individuum alltäglich bewegt. Genauere Betrachtung bringt jedoch schnell zum Vorschein, daß eine solche Formulierung nur vorläufig sein kann: Die Regeln, mit denen das Individuum alltäglich konfrontiert wird und die zu akzeptieren ihm angeraten werden, sind nicht notwendig kongruent, sie können sogar widersprüchlich sein. Außerdem ist seine Beteiligung an diesem System nicht als passives Reagens zu denken, sondern als Interaktion, in der Beziehungen neu definiert, Regeln damit auch modifiziert werden können. Primäre Lebenswelten, z. B. eine Familie im Kontext ihrer Bezugsgruppen, können danach beurteilt werden, wie weit sie imstande sind, auftauchende Probleme (Diskrepanzen in Beziehungen und Regeln, Störungen durch psychische Belastungen, signifikante Personen etc.) zu lösen (Hansen/Hill). Damit stellt sich die Frage nach den Ressourcen, über die eine Lebenswelt mindestens verfügen muß, damit Probleme lösbar werden: die Frage nach den sozio-ökonomischen Bedingungen und damit den materiell
»definierten«
Spielräumen, den Bezugsgruppen usw. und die Fragen nach dem Niveau, auf dem überhaupt Problem-Lösungen antizipiert werden können: für die Familie in einer Obdachlosen-Siedlung z. B. sind die realistischen Problemlösungs-Strategien vermutlich vergleichsweise außerordentlich restringiert |b 298|(Haag). In diesem Sinne ist die Ausarbeitung eines differenzierten und gesellschaftlich präzisierten Begriffs der
»Lebenswelt«
einer der wichtigsten Forschungsaufgaben im Felde der Jugendhilfe und Sozialarbeit. Gleichwohl ist es sinnvoll, eben diese Lebenswelten von dem mit Sanktionen und also mit Macht ausgestatteten Bedeutungs-Kontext der Interventions-Instanzen zu unterscheiden, weil erst durch solche Unterscheidung die Frage nach der Gerechtigkeit (hier: der Angemessenheit an die Lebenswelt des Klienten) der Maßnahmen beantwortet werden kann und eine kritische Theorie der Jugendhilfe möglich wird.
[013:27] 3. Die Interventionsinstanzen können als vermittelnd zwischen den Erwartungen der
»Gesellschaft«
und den
»Lebenswelten«
der Klienten angesehen werden. Die Institutionen produzieren vermutlich ihr Klassifikationssystem für
»problematische Fälle«
nicht selbst, sondern folgen darin gesellschaftlich herrschenden Erwartungen, vermutlich also den mit Macht ausgestatteten und deshalb einflußreichen Gruppen (Autorenkollektiv, Gefesselte Jugend). So wäre z. B. die Frage zu prüfen, in welchem Umfang Klassifikationen von Verhalten als
»deviant«
ihre Rechtfertigung nur in ökonomischen Qualifikationserwartungen haben und welche Funktion in diesem Zusammenhang dem Sozialstaat zukommt. Welche
»Partei«
der Sozialarbeiter oder Sozialpädagoge nimmt, zeigt sich im Konfliktfall nicht so sehr an seinem pädagogischen Verfahren, den methodischen Schritten im Umgang mit den Klienten oder dem Klima positiver Zuwendung, das er zu schaffen versucht, sondern daran, welche Probleme er als interventionsbedürftig interpretiert.
[013:28] 4. Die oft beschworene Diskrepanz von
»Innendienst«
und
»Außendienst«
bzw. von
»Administration«
und
»Treatment«
erscheint so theoretisch wie praktisch in einem neuen Licht. Der im praktischen Umgang mit den Klienten (Treatment) tätige Sozialarbeiter ist einem Berufsrollenproblem konfrontiert, dessen Lösung ihm institutionell außerordentlich erschwert wird: Einerseits ist er abhängiger Agent einer Institution, die an einem relativ starren System von Problem- und Lösungs-Klassifikationen festhält; er kann aber andererseits innerhalb dieser Institution keine stabile Berufstätigkeit aufbauen, da seine tägliche Praxis ihn mit den originären Problemen der Lebenswelt des Klienten konfrontiert, denen gegenüber die institutionalisierten Klassifikationen als dysfunktional erscheinen. Die Probleme des Treatment-Systems haben deshalb immer mindestens zwei Aspekte: die Frage nach den angemessenen Behandlungsverfahren und die Frage der sozialpädagogischen Berufsrollenprobleme.
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[013:29] Bei dieser Problemfeld-Beschreibung handelt es sich nicht um eine Theorie, sondern um einen Begriffs- und Beziehungsrahmen für Probleme. Dieser Rahmen ist zwar aus theoretischen Elementen konstruiert – so z. B. aus Sozialisationstheorien, Stigma-Theorie, Devianz-Theorien, ökonomischer Theorie, therapeutischen Theorien – kann aber für sich selbst nicht den Status einer Theorie beanspruchen. Ob eine
»Theorie der Jugendhilfe«
bzw. eine
»Theorie der Sozialarbeit«
auf diesem Niveau von Komplexität überhaupt möglich ist, ist zweifelhaft. Das wird noch deutlicher, wenn man sich vor Augen hält, daß in unsere Rahmenskizze psychologische und medizinische Daten noch gar nicht aufgenommen wurden. Die Komplexität der Praxis selbst ist also hier schon beträchtlich reduziert worden. Gleichwohl scheint es sinnvoll zu sein, mit solchen Rahmenvorstellungen zu arbeiten, innerhalb derer Theorien lokalisierbar werden, um damit Hypothesen formulieren zu können, deren Relevanz im Rahmen des faktischen sozialpädagogischen Feldes, sowohl praktisch wie theoretisch, bestimmbar ist.
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