Individuum [Textfassung b]
|b 278|

Individuum

[071:1] In der ursprünglichen (lat.) Wortbedeutung meint der Ausdruck I. das
Unteilbare
, in der antiken Philosophie sowohl auf belebte wie unbelebte Natur angewendet. In der neuzeitlichen Geistesgeschichte hat sich ein Sprachgebrauch durchgesetzt, der sich nur noch auf den Menschen bezieht; gleichwohl aber ist die Rede vom Menschen als eines je einzelnen, unverwechselbar mit sich Identischen, von anderen Unterschiedenen und die darin ausgedrückte Sichtweise ein Charakteristikum der abendländischen Geschichte, das sich in mindestens vier Formen manifestierte: in der
Entdeckung des Ich
(Snell) im Übergang von der archaischen zur klassischen Periode der griechischen Antike, in der frühen mittelalterlich-christlichen Philosophie (Augustinus), in Renaissance und Humanismus (Erasmus), in der idealistisch-bürgerlichen Philosophie des 18. und 19. Jh. Diese philosophische Problemstellung, besonders dort, wo sie auf Probleme des Handelns bezogen wurde, also in Politik und Pädagogik, hatte es immer auch mit der Frage zu tun, wie denn dieses einzigartige I. zum Zusammenleben mit anderen fähig, also ein zwar unteilbares, aber dennoch gesellschaftliches Wesen sein könne. Die Antworten auf diese Frage verteilen sich zwischen zwei Extremen, die – zumal in der neuzeitlichen Problemgeschichte – immer wieder zur Sprache gebracht wurden:
  1. 1.
    [071:2] Das I. entfalte seine
    Individualität
    , seine unverwechselbaren Wesenszüge also, aus sich selbst, nach einem gleichsam inneren Programm, und da dieses Programm (beispielsweise als
    Monade
    bei Leibniz, als
    Natur
    bei Rousseau) hinreichend viel Allgemeines, mit anderen Exemplaren der Menschengattung Gemeinsames enthalte, sei auch soziales Leben möglich;
  2. 2.
    [071:3] die andere Extremposition behauptet demgegenüber, daß der Mensch zunächst eine tabula rasa, ein unbeschriebenes Blatt sei, daß seine Individualität sich erst allmählich bilde, und zwar nach Maßgabe der Sinneseindrücke (Locke) bzw. der sozialen Bedingungen, unter denen das I. heranwächst. Über das I. reden heißt also, immer auch die Bildung von Individualität und Sozialität sich zum Thema machen. Da beide Positionen hervorragend handlungsrelevant sind und im Extremfall sich ausschließende prakti|b 279|sche Entscheidungen nahelegen oder rechtfertigen können – beispielsweise im ersten Fall eine Pädagogik des
    Wachsenlassens
    , im zweiten Fall eine Pädagogik der autoritären Formung oder Prägung – beide aber auch ein Moment von Wahrheit zu enthalten scheinen, haben sich Philosophen wie Pädagogen und Sozialtheoretiker immer wieder um eine mögliche Vermittlung bemüht.
[071:4] Diese Bemühungen haben auch ihren Grund darin, daß die beiden Extrempositionen notwendig in Aporien führen, zu unbeantwortbaren Fragen: Die These, das I. entwickelte seine Individualität und damit auch seine Sozialfähigkeit nach einem inneren Programm, gerät in Beweisnot angesichts der Tatsache, daß faktisch solche Entwicklung gar nicht anders stattfinden kann, als unter dem Eindruck äußerer Sinneswahrnehmung und sozialer Erfahrung. Die andere These, das I. werde zur Individualität und Sozialität gebildet nur durch die Umstände, unter denen es lebt, gerät in Beweisnot angesichts der Tatsache der faktisch unendlichen Vielfalt von Individuen; sie müßte so viele Umwelten konstruieren wie es Individuen gibt, und diese wiederum bestünden ja zu einem wesentlichen Teil auch aus Individuen; verstehbar würde also zwar die Tatsache, daß Individuen in einer Reihe von Merkmalen übereinstimmen, nicht aber die Tatsache, daß sie auch in einer Reihe von Merkmalen sich unterscheiden. Dieses theoretische und zugleich praktisch bedeutsame Dilemma ist nur aufzulösen – so scheint es – wenn das Verhältnis von
Individuum und Gemeinschaft
(Litt) bzw. Individualität und Welt zum Ausgangspunkt des Nachdenkens gemacht wird. Humboldt und Schleiermacher z.B. betrachteten dieses Verhältnis als Wechselwirkung, dergestalt, daß das I. seine Kräfte in Auseinandersetzung mit der dinglichen und sozialen Wirklichkeit bildet, daß das Ich
die Masse der Gegenstände sich selbst näher
bringt, daß es zu dem übergeht, was außer ihm ist, sich aber in dieser
Entfremdung
(Humboldt) nicht
verlieren
dürfe, sondern die Mannigfaltigkeit der Bildungen als Sinneinheit des eigenen Daseins zusammenhalten müsse. Dieser Gedanke bekommt seine
materialistische
Wendung in der These Marx’, daß die Basis dieser Auseinandersetzung des I. mit der Welt in der Arbeit als der gesellschaftlichen
[071:5] Auseinandersetzung mit der Natur zu suchen sei. Stand bei Humboldts Betrachtungen die Individuation (als Prozeß) und Individualität (als deren Ergebnis) im Vordergrund, so bei Marx die Sozialisation und Sozialität des einzelnen. Diese Problematik des Verhältnisses von Individualität und Sozialität des I. wurde im 20. Jh. genauer aufgeklärt, beispielsweise von der Sozialphilosophie G. H. Meads, der Psychoanalyse S. Freuds und der kognitiven Entwicklungstheorie J. Piagets: Die Anpassung des menschlichen Organismus an seine Umwelt wird nun verstanden als eine Folge produktiver Akte des I., in denen es sowohl sich selbst im Hinblick auf seine Umwelt als auch die Umwelt im Hinblick auf sich selbst verändert; diese Produktivität hat einerseits eine Triebbasis (Antriebe, Motivationen usw.) andererseits eine Sozialbasis (Werkzeuge, Instrumente der Verständigung und Weltbewältigung usw.). Da sowohl Trieb- wie Sozialbasis nur durch Interpretationen, die das I. vornimmt, für es bedeutsam und handlungsrelevant werden, ist jede Form von Determinismus ausgeschlossen (sowohl ein psychologischer wie ein ökonomischer). Diese Interpretationen nehmen die I. vornehmlich mit Hilfe der Sprache vor. Sie teilen sich so wechselseitig ihre Deutungen, Erfahrungen und Handlungserwartungen mit; auf diese Weise vollzieht das I. beides: Seine Bildung zur Individualität und zur Sozialität.
[071:6] Für die SozArb/SozPäd ist dieser Problemkomplex besonders bedeutsam geworden, und zwar in verschiedener Hinsicht: (1) Die besondere Situation, in der jemand zum
Klienten
wird, läßt sich i.d.R. als Beschädigung der Individualität und/oder der Sozialität dieses I. interpretieren. Dieser Interpretationsspielraum kann als eine Quelle für Ideologien angesehen werden, sofern beide Interpretationen ohne Rücksicht auf die tatsächliche Lage des Klienten nach Maßgabe eines Interesses der
behandelnden
Instanzen, Institutionen, Gruppen oder des einzelnen SozArb/SozPäd ins Spiel gebracht werden können; die Ideologie einer
individualistischen
Hilfe (auf den einzelnen Fall beschränktes case-work, Pädagogisierung von sozialpolitischen Problemlagen, Isolierung von I. aus ihren sozialen Erfahrungskontexten usw.) ignoriert die Tatsache, daß Individuation sich nur im sozialen Bezugssystem entfalten kann und nur im Hinblick auf dieses voll verstehbar ist, ersetzt damit die Frage nach der richtigen Politik durch die Frage nach dem individuell richtigen Bildungsprozeß; die Ideologie einer
kollektivistischen
Hilfe (die alte Armenfürsorge, die Redu|b 280|zierung von Problemen des I. auf Probleme der
Klassenlage
usw.) ignoriert die unleugbare
Individuallage
(Pestalozzi) solcher I. und ihrer Probleme und ersetzt die Fragen nach dem richtigen Bildungsprozeß der I. durch Fragen nach der richtigen Politik. (2) Die Alternative der Sichtweisen hat etwas zu tun mit der gesellschaftlichen Lage der Klienten selbst; die Thematisierung des I. und seiner Individualität ist vermutlich ein Privilegierungsprodukt (da die Quellenlage für unterprivilegierte gesellschaftliche Gruppen, jedenfalls in der vormodernen Geschichte, mager ist, kann gegenwärtig eine solche Behauptung nur hypothetischen Charakter haben). Die Bildung und Kultivierung persönlicher Eigentümlichkeit setzt vermutlich ein Niveau materieller Sicherung und Arbeitsteilung voraus, von dem i.d.R. nur gesellschaftlich herrschende Schichten profitieren (z.B. die antike Aristokratie, das Patriziat in den Stadtstaaten der italienischen Renaissance, das neuzeitliche Bürgertum bürgerlich-kapitalistischer Gesellschaften); unter Bedingungen materieller Deprivation haben – so scheint es – an der Individualitätskomponente des Bildungsprozesses orientierte Hilfekonzepte geringere Chancen als solche, die sich an der Sozialitätskomponente orientieren. (3). Die Verabsolutierung der Individualitätskomponente tendiert zum
praktischen Solipsismus
(Sohn-Rethel), die Verabsolutierung der Sozialitätskomponente tendiert zum Konformismus, zur unkritischen Solidarität, zum Kampf der Gruppen gegeneinander, zur Bevorzugung von Freund-Feind-Schemata. Dem Individualitätskonzept drohen demnach gegenwärtig vor allem zwei Gefahren: durch die Hypostasierung des Individuums in einer quasi-therapeutisch, meditativ oder neo-kosmologisch vorgetragenen Option für Lebenseinigungs- oder Verschmelzungsphantasien und durch einen soziologischen Reduktionismus, in dem
Individualität
nur noch als
Vereinzelung
vorkommt. Die Aufgabe der SozArb/SozPäd bestünde demnach darin, zwar den Ausgangspunkt und die einzelnen Schritte der Hilfe an der Lebenswelt des Klienten als den Bedingungen des Hilfehandelns zu orientieren, dabei aber weder den kollektiven Charakter von Problemsituationen noch die Individualität, und d.h. auch die Selbständigkeit des einzelnen, in der Bestimmung des Handlungszieles einander zu opfern.
[071:7] Literatur: P. L. Berger/T. Luckmann: Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt/M 1970; M. Buber: Ich und Du, Berlin 1936; T. Litt: Individuum und Gemeinschaft, Leipzig/Berlin 1924; K. Löwith: Das Individuum in der Rolle des Mitmenschen, Tübingen 1928; G. H. Mead: Geist, Identität, Gesellschaft, Frankfurt/M 1962; M. Parmentier: Frühe Bildungsprozesse: Zur Struktur der kindlichen Interaktion, München 1979.