Terrorismus, Jugend und Erziehung [Textfassung b]
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Jugend und Terrorismus

Wider den pädagogisch-politischen Aberglauben

Pädagogik und Politik

[067:2] Einer der Gemeinplätze bundesrepublikanischer Bildungspolitik scheint das Meinungsstereotyp zu sein, Politik und Pädagogik, politisches Handeln und die Struktur individueller Bildungsverläufe seien untrennbar und direkt ineinander verwoben. Diese Alltags-Doxa hat auf der einen Seite zu dem – wie mir scheint – naiven Postulat geführt, Erziehung müsse immer und überall Erziehung zum Klassenbewußtsein, wenn nicht zum Klassenkampf sein; sie hat auf der anderen Seite – nicht erst als Reaktion auf jenes Postulat – zu den ideologischen Blüten der bayerischen (und freilich nicht nur bayerischen) Schul- und Schulbuchzensur bis hin zu den Praktiken der Ausführung des sogenannten Radikalenerlasses geführt (eine Art Wiederbelebung dessen, was für den Bereich der Jugendhilfe spätestens 1911 aus Anlaß des preußischen Jugendpflegeerlasses gang und gäbe war); soweit also sind wir heute gekommen.
[067:3] In solchen Positionen ist eine Art pädagogisch-politischen Aberglaubens enthalten, den ich durch drei (Pseudo-)Theoreme charakterisieren und auf das
Terrorismus
-Phänomen beziehen möchte.
[067:4] Pädagogische Omnipotenz-Phantasien. Die Erziehungswissenschaft kennt das Phänomen; es tauchte zunächst bei Comenius, später aber bei Rousseau und Fichte auf: Die Vorstellung nämlich, die Zukunft der Gesellschaft sei manipulierbar oder gar determinierbar durch die Art, in der der Erziehungs- und Bildungsprozeß organisiert wird. Die vulgäre Fassung dieser Doxa kennen wir aus den periodisch wiederkehrenden Behauptungen, die Volksschullehrer oder die Lehrer überhaupt seien schuld an allerlei Unerfreulichem der jeweils gegenwärtigen Gesellschaft. Wie wenig indessen Lehrer oder andere Erziehungspersonen im Hinblick auf spätere politische Parteinahme ihrer Zöglinge vermögen, das zeigen uns nicht nur die Studien von einzelnen Biographien, sondern auch Untersuchungen zur Sozialisation. Merkmale des Sozialsystems sind im Regelfall allemal wirksamer als die Merkmale des pädagogischen Umgangs einschließlich der Medien (Bildungsinhalte), deren sich dieser Umgang bedient.
[067:5] Aber selbst diese Behauptung ist weniger solide als sie klingt: Von einer gründlichen Aufklärung des Erziehungsgeschehens und seiner Wirkungen sind wir – mit Ausnahme vielleicht einiger extremer Merkmale dieses Prozesses – noch relativ weit entfernt.
[067:6] Es ist deshalb auf eine gefährliche Art leichtsinnig, die Erscheinung des
Terrorismus
auf bestimmte Merkmale des pädagogischen Handelns zurückführen zu wollen. Ebenso leichtsinnig ist es deshalb aber auch, aus der Betroffenheit durch den
Terrorismus
sich zu pädagogischen Handlungsprognosen hinreißen zu lassen und beispielsweise eine Änderung der Erziehungspraxis (vgl.
Mut zur Erziehung
) als Heilmittel zu empfehlen. Das sind – um im Bild zu bleiben – eher die Rezepte von Kurpfuschern, nicht aber Empfehlungen, wie sie aus einem aufgeklärten Begriff des Erziehungsgeschehens sich ergeben könnten.
[067:7] Die Ohnmachtsphantasien. Der Versuch, das Verhältnis von Politik und Pädagogik zu bestimmen, hat gelegentlich auch zu einer scheinbar entgegengesetzten Meinung geführt. Pädagogische Anstrengung wird dann als ohnmächtige idealistische Unternehmung etikettiert; das Erziehungsgeschehen – bis hin zu den Intentionen der Erzieher und Lehrer – erscheint als eine notwen|b 43|dige Folge politischer oder sozialstruktureller Verhältnisse; der Erzieher als moralisch verantwortliches und bewirkendes Subjekt wird ausgelöscht zugunsten eines sozial-deterministischen Weltbildes. In solcher Version erscheint es, als sei es irreführend, überhaupt die Frage aufzuwerfen, ob
Terrorismus
und Erziehung in irgendeiner Weise etwas miteinander zu tun haben könnten. Der
Terrorismus
selbst wird nur begriffen als notwendige Folge der sogenannten strukturellen Gewalt gesellschaftlicher, vornehmlich politischer und ökonomischer Verhältnisse.

Linear-kausale Wirkungsketten

[067:8] In beiden Stereotypen ist ein Deutungsschema enthalten, das mindestens problematisch, für pädagogisches Handeln jedenfalls völlig unbrauchbar ist: die Konstruktion linear-kausaler Wirkungsketten. Dieses in gewisser Weise naive Deutungsschema mag zur Rechtfertigung für Interessen, zur Stabilisierung von Alltagswissen, zur Identifizierung vermeintlich Schuldiger bisweilen nützlich sein: Zum Verständnis pädagogischer Problemlagen trägt es in der Regel nichts bei. Es verführt uns höchstens zu Kurzschlüssen in der Erklärung und zu Fehlreaktionen im Handeln (wie beispielsweise die Behauptung, der
Terrorismus
sei eine Folge der Studentenbewegung oder man müsse ihm durch das Herauszensieren von Gewalt-Darstellungen aus Büchern begegnen und ähnliches).
[067:9] Die Warnung vor derartigen Stereotypen hat einen pädagogischen Sinn; sie hat mit der Gestalt (oder
Struktur
) der Tätigkeit zu tun, die wir
Erziehen
nennen. Ich möchte die Denkfigur, in der wir uns diese Tätigkeit begreifbar |b 44|machen können, durch einige Worte wenigstens andeuten: Wenn wir nicht wollen (und das ist ein sowohl ethisches als auch politisch bedeutsames Postulat), daß der Erziehungs- und Bildungsvorgang als eine Art Dressur-Akt organisiert wird, bei dem der erwachsene Erzieher, des anzustrebenden Ergebnisses sicher, nichts anderes tut, als die zur zweckentsprechenden Konditionierung nötigen Schritte oder Mittel zu wählen; wenn wir aber auch andererseits ebensowenig wollen, daß Erziehung nichts ist als eine Art von Sich-Entfalten-Lassen des Kindes, freilich dann immer unter den Einwirkungen der vorgefundenen Verhältnisse, aber ohne gezielte Willensstellung des Erziehers –, dann bewegen wir uns in dem Bereich, der in der philosophischen Tradition
Praxis
genannt wird. In ihm geht es um die Bemühung um
richtiges
Handeln bzw. um die Erörterung dessen, was als
richtiges
Handeln gelten soll. Insofern soll Erziehung nicht nur
Technik
sein, sondern eben auch
Praxis
. Das bedeutet, daß prognostisches Wissen – und kausal-analytische Sätze über Zweck-Mittel-Relationen sind prinzipiell von dieser Art – nur begrenzt verwendet werden kann. In Prognosen nämlich wird notwendig unterstellt, daß die heute formulierten Handlungsbedingungen auch morgen noch zutreffen, daß also Zwecke und Randbedingungen gleich bleiben. Das aber ist offensichtlich eine Voraussetzung mit politischem Gehalt. Dieser politische Gehalt mag wünschbar sein; der darin liegende pädagogische Sinn dagegen ist höchst problematisch: Wir müßten die Idee aufgeben, daß, nach bürgerlichem Verständnis, die Würde der Erziehungsaufgabe darin liegt, daß die erwachsene Generation sich der praktischen Herausforderung durch die jüngere stellt, dergestalt, daß sie mit ihr im Erziehungsfeld einen gemeinsamen Erfahrungsraum schafft, dessen Effekte nicht prognostisch gesichert werden können, sondern in dem Sinne
riskant
bleiben, in dem
praktisches
auf die Subjektivität des anderen sich einlassendes Handeln das immer ist.
[067:10] Was hat das mit
Terrorismus
zu tun? In der Erwartung,
Terrorismus
und Erziehung zusammenzubringen, steckt eben jene Verführung, den Zusammenhang technisch zu sehen. Gegen diese Verführung hat die Pädagogik sich zu wehren, wenn sie nicht ihr seit Rousseau eigentümliches Ethos aufgeben will, keine bloße Fortsetzung von Politik, nur mit pädagogischen Mitteln, zu sein, sondern der Politik gegenüber Selbständigkeit zu bewahren. Dies ist – so paradox das klingen mag – der politische Sinn jenes pädagogischen Ethos.

Terrorismus, Jugend und Erziehung

[067:11] Will man sich überhaupt auf die Suche nach Zusammenhängen begeben, dann ist es zunächst gut, sich zu vergewissern, daß unser Wissen dürftig ist. Ich meine damit freilich nicht die überquellende Fülle von einzelnen Fakten – Fetscher, Salewski und Lanz haben sie ja gerade kürzlich zusammengestellt –, sondern das Wissen über Hintergründe und Motive, über Wirkungen und angemessene Reaktionen. Wir können also nur mit Vermutungen operieren.
[067:12] Zwei Beobachtungen scheinen mir bedeutsam: erstens die Ähnlichkeit der Gewaltäußerungen in zunächst scheinbar so verschiedenartigen Phänomenen wie den
Halbstarken
der fünfziger Jahre, den
Rockern
und den deutschen
Terroristen
; zweitens die Bereitschaft eines großen Teils der jungen Generation, mit der Möglichkeit gewalthafter Selbstdarstellung wenigstens in der Phantasie zu spielen, und dort, wo sie auftritt, von ihr eher beeindruckt als abgeschreckt zu sein. Soll also von der Wirkung des
Terrorismus
auf die junge Generation die Rede sein, dann müssen wir zu verstehen suchen, was jene Kontinuitäten, Ähnlichkeiten oder Affinitäten bedeuten können.
[067:13] Mir scheint, daß in diesen Jahrzehnten das Verhältnis der Generationen zueinander in eine verdeckte Dramatik geraten ist, die im Vergleich zu früheren Generationen-Konflikten eine neue Qualität hat. Der klassische bürgerliche Generationen-Konflikt und die Lösung der in ihm auftauchenden Identitätsprobleme vollzogen sich im Medium einer Auseinandersetzung mit der Realität; für diese war die eigene Familie, insbesondere der Vater, das Modell. Der Konflikt war offen, auch bisweilen dramatisch; er hatte seine Szene, er hatte eine identifizierbare Form. – Diese für die Adoleszenz seit langem typische Suche nach Identität präsentiert sich in jüngster Zeit in zunehmend deutlich sichtbarer Weise anders: Der Konflikt mit den Älteren verliert seine sichtbare Dramatik; die Jugendlichen entfernen sich einfach; ihre Suche nach einem Lebensstil führt sie weg, sie begeben sich in die schwach strukturierten Gleichaltrigen-Gruppen hinein, leben an den Eltern vorbei, suchen einen eigenen Lebensstil nicht mehr in der Auseinandersetzung, in der offenen Opposition, die mit Widerstand der Erwachsenen rechnet und die diesen Widerstand auch will, sondern gleichsam vom Nullpunkt der eigenen Existenz aus, ohne Kontakt zur Tradition, ohne den langwährenden Streit mit den Eltern, also auch ohne Geschichte. Sie brechen die Kommunikation ab. Ich kenne keine geschichtliche Epoche, in der es in der jungen Generation eine derartige Fülle von versuchsweisen alternativen Gruppen gegeben hat wie heute. Zugleich dokumentiert sich darin eine selten kompromißlose Ablehnung der etablierten Lebensformen, die derart radikal ist, daß das Gespräch mit den Erwachsenen als sinnlos empfunden wird.
[067:14] Mir scheint, daß in diesem neuen Habitus eine unerhörte pädagogische Herausforderung liegt, für die wir indessen denkbar schlecht vorbereitet sind (an späterer Stelle will ich das erläutern). Auf diese Weise bleiben die Jugendlichen – viel stärker als das früher der Fall war – mit ihrer Problematik allein. Identitätsverbürgende Sicherheit suchen sie dort, wo sie das Versprechen einer alternativen Lebenspraxis, und seien es nur deren Symbole, finden oder zu finden wähnen: im kommerziellen Angebot der Idole und der damit verbundenen Verhaltensmuster, in ökologischen, religiösen oder neuerdings auch therapeutischen Lebensgemeinschaften, in politischen Theorien und den sie propagierenden Gruppen und Sekten. Die Überlebenschancen solcher Alternativen sind relativ gering. Um so wahrscheinlicher wird es, daß das Gefühl drohender Vergeblichkeit, das Zerbrechen der Realitätskontakte und die Dogmatisierung von Lebensentwürfen sich wechselseitig verstärken und Realitätserfahrungen nur noch in hoch stilisierter Auswahl zulassen. Die gleichsam einprogrammierte hohe Wahrscheinlichkeit des Scheiterns läßt den Gedanken an gewalthafte Lösungen mindestens als Phantasie zu: Die Schwelle wird niedriger.