Ist das Verhältnis zwischen den Generationen gestört? [Textfassung b]
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Ist das Verhältnis zwischen den Generationen gestört? Pädagogische Anmerkungen zu gegenwärtigen Jugendproblemen

1. Vorbemerkung

[074:1] Äußerungen zum sogenannten Jugendproblem häufen sich in jüngster Zeit derart, daß man sich fast genieren muß, die Reihe der Wortmeldungen noch zu verlängern, zumal es inzwischen unwahrscheinlich geworden ist, daß eine Vermehrung der Kommentare auch eine Bereicherung darstellt. Das Spektrum möglicher Einfälle zum Thema scheint erschöpft. Originalität kann man von einem neuerlichen Beitrag also nicht erwarten.
[074:2] Am besten wäre es in dieser Lage, wenn vorerst und für einige Zeit nur die empirische Jugendforschung zu Wort käme. Wie nützlich das ist, hat uns gerade erst die Studie
Jugend ’81
des Jugendwerks der Shell gezeigt. Allerdings steckt doch in allen Kommentaren, Studien, Appellen, Bestandsaufnahmen usw. eine gemeinsame Unterstellung, trotz verschiedenartiger Erklärungen, Bewertungen und Handlungsempfehlungen: Die Selbstdarstellungen eines großen Teils der jungen Generation, die Art ihrer
Lebensentwürfe
, die Formen ihrer Kommunikation werden von dem Kommentatoren nicht als normaler Vorgang adoleszenter Entwicklung erlebt, sondern als
Problem
. Nicht nur der
fürsorgerische
, der
polizeiliche
, der
klinische
Blick (Zinnecker 1981) auf die Jugendlichen, sondern auch die Deutung ihres Verhaltens als verstehbarer und gerechtfertigter
Protest
unterstellt eine bemerkenswerte Diskontinuität zwischen den Generationen. Ob man versucht, die als problematisch, d.h. ein Problem indizierend, betrachteten Merkmale jugendlichen Verhaltens durch Jugendberatung zu minimieren, ihnen durch Rückkehr zu pädagogischem Ordnungsdenken vorzubeugen, mühsame
Dialoge
anzuknüpfen, den Polizei- und Justizapparat einzusetzen oder dem Protestverhalten Spielraum und Artikulationsmöglichkeiten zu verschaffen: immer erscheint jugendliches Verhalten als eine Art Abweichung von kulturell erwarteten Normen; nur wird sie im einen Fall als Gefährdung geltender kultureller Standards, im anderen Fall als begrüßenswerte Dynamik kulturell-historischer Transformationen bewertet. Diese Differenz unterscheidet nicht etwa Politiker von Pädagogen, Jugendadministration von praktischer Jugendarbeit, an kultureller Kontinuität Interessierte von Propagandisten der Subkultur, sondern liegt quer zu solchen Gruppierungen. Die Frage, wie die |b 270|Ausdrucks- und Handlungsformen der jungen Generation im historisch-kulturellen Prozess lokalisiert und beurteilt werden sollen, erscheint mir deshalb als die Grundfrage des gegenwärtigen Generationen-Verhältnisses. Dazu werde ich einige Gedanken vortragen.
[074:3] Zuvor jedoch noch ein Selbsteinwand: Seit die Praxis, jugendliche Teilgruppen zu Repräsentanten der jungen Generation überhaupt zu hypostasieren, im Prinzip aufgegeben wurde, muß man bei Aussagen wie den obigen mit dem Vorhalt rechnen, daß es
die
junge Generation nicht gebe. Tatsächlich sind die Formen jugendlichen Verhaltens und Handelns spezifische Reaktionen auf spezifische sozialstrukturelle Lagen. Der 17jährige Gymnasiast hat – in bezug auf Elternhaus, Berufsaussichten, Klassenlage, Alltagsmilieu usw. – andere Probleme zu bewältigen als sein Altersgenosse, der in der Lehrlingswerkstatt eines Metallbetriebes in der Großindustrie arbeitet oder als einziger Lehrling eines Handwerksmeisters oder als ältester Sohn auf dem Hof eines niederbayrischen Bauern tätig ist. Für die Jugendforschung ist es deshalb selbstverständlich, derartige Differenzierungen vorzunehmen. Nur in derart spezifizierten sozialen Kontexten nämlich erschließt sich die Bedeutung dessen ganz, was der Jugendliche denkt, tut, will. Der Sinn solcher Differenzierung macht es indessen nicht falsch, auch nach allgemeinen Strukturen zu fragen. Immerhin sind Gymnasiasten, Lehrlinge, Arbeiter, Bauernsöhne usw. auch in einer gemeinsamen, wenn auch in sich heterogenen, Gesamtstruktur verbunden: sie alle besuchen zunächst die gleiche Schule, erfahren – sofern sie Bewohner größerer Städte sind – die gleichen Zumutungen öffentlichen Verkehrs und Warentauschs; die Discos zwischen München und Kiel (selbst über die Staatsgrenzen hinaus) unterscheiden sich nur unbedeutend; desgleichen die Fernsehprogramme, die Comics, die Betonwände und die darauf gesprühten Parolen. Auch der Typus familialer Kultur, mit dem sie sich auseinandersetzen müssen, ist für die Mehrzahl im Prinzip der gleiche (trotz
schichtspezifischer
Differenzen): zwei Generationen, zwei Geschlechter, in gemeinsamem Haushalt mindestens für 15 Jahre zusammengebunden, mit den Themen der Reproduktion befaßt, dauernd zu emotionalen Balanceakten genötigt, mit Ablösungsprozessen sich schwer tuend, gelegentlich hilfreich, liebevoll, Perspektiven entwickelnd, die Produktivität des Jugendlichen unterstützend, gelegentlich aber auch einengend, zwanghaft, Kommunikationsroutine, autoritär, nichts als der vergebliche Versuch, Versagungen zu kompensieren. Alles in allem: ein kultureller Habitus, dem wir alle unterworfen sind, der zwar Abstufungen im Erleben und in der Reaktion hervorruft je nach spezifizierterem sozialen Kontext, aber doch ein |b 271|Habitus, der bestimmte grundlegende und allgemeine Problemstellungen für den Jugendlichen enthält.
[074:4] Ich denke also, man muß beides tun: einerseits die konkrete historische Gestalt des Generationenverhältnisses für die sozialstrukturell relevanten Gruppierungen herausarbeiten; andererseits den übergreifenden Habitus der älteren Generation, der herrschenden Kultur ermitteln, um das Verhalten der Jugendlichen als eine Reaktion auf diesen, und damit radikaler als in seinen sozialen Spezifizierungen, zu verstehen. Wenn man jüngst in den
Jugendbewegungen
eine post-materialistische Wertorientierung entdeckt hat, dann weist dieser Befund genau auf dieses Problem hin: der Generationenkonflikt ist, wenn er denn eine langfristige Bedeutung haben und nicht nur eine zeitlich begrenzte, geschichtlich unerhebliche Beunruhigung der Erwachsenen sein sollte, ein Konflikt mit dem kulturellen Habitus.

2. Exposition

[074:5] Die Differenz im kulturellen Habitus tritt in vielen Beobachtungen deutlich hervor; sie artikuliert sich zwar in immer neuen und sehr verschiedenartigen Erscheinungen, Redeformen, Ausdrucksgesten; sie ist aber – denke ich – durch alle solche Verschiedenartigkeiten hindurch erkennbar.
[074:6] Ein
Punk
aus Berlin sagt:
[074:7]
Schließlich kommt es nicht darauf an, wie du rumläufst, sondern auf das Ding, das du in der Birne hast. Daß du keinen Bock darauf hast, dich bis 65 totzumalochen für ’ne Rente, dich da hinzustellen und die ganze Wichse mitzumachen. Daß du keinen Bock hast auf die ganze Scheiße, die hier abläuft mit Politik und so, die ganze Verarschung. Daß du gegen alles bist, gegen Deutschland und die ganze Welt, weil in diesem komischen Staat und auf dieser ganzen Erde nur Kacke abläuft
(zitiert in: Die Zeit, 6. 2. 1981)
.
[074:8] Ein
Skinhead
aus London sagt:
[074:9]
Überall gibt es Scheißbosse, sie versuchen überall zu sagen, was du tun sollst ..., egal, was du tust, wohin du gehst, immer sind sie schon da. Leute, die Macht haben, Leute, die dir sagen, was du zu tun hast, und die darauf achten, daß du es auch tust. Es ist das System, in dem wir leben, das System der Bosse. Schulen, zum Beispiel, da mußt du hingehen, stimmt doch, oder? Die Lehrer und die Schuldirektoren, sie haben die Macht. Sie sagen dir, was du tun sollst und du bist froh, wenn du da rauskommst und abhauen kannst. Die denken, weil du jung bist und weil sie dich bezahlen, daß sie dich behandeln können, wie sie wollen, und sagen können, was sie wollen. Dann gibt es noch die Gerichte ... sie sind alle Teil der Macht. Alle Offiziellen und alle Leute in Uniform. Jeder mit einer Marke am Jackett, die Fahrkartenkontrolleure, die Behördenvertreter und so was ... Ja, sogar der Hauswart im Wohnblock macht dich an. Und wenn du dann Feierabend oder Schulschluß |b 272|hast und in den Jugendclub gehst, dann kommen auch noch die Sozialarbeiter dazu
(J. Clarke u.a. Jugendkultur als Widerstand, Frankfurt/M. 1979, S. 171 f.)
.
[074:10] Ein deutscher Kultusminister sagt:
[074:11]
Wir sollten uns nicht bemühen, das Hemd naßzuschwitzen, um mit den Punks und Freaks und was da herumläuft in eine Diskussion zu kommen. Die sind nicht diskussionsbereit, wir Politiker waren es immer
(Frankfurter Rundschau, 2. 9. 1981).
[074:12] Was soll man dazu noch sagen? Die Resignation, Abwehr und Aggression, die aus den Äußerungen dieser Jugendlichen spricht, hat die Vergeblichkeit von Verständigungsbemühungen schon vorweggenommen. Der Kultusminister liefert nachträglich die Rechtfertigung. Und er hat nun auch wirklich recht: Weder er noch die Jugendlichen, für die die Zitate stehen, sind diskussionsbereit. Und selbst, wenn sie bereit wären: Sind sie angesichts derartiger Gräben überhaupt noch dazu in der Lage? Und ist es überhaupt sinnvoll,
Verständigung
zu wollen? Vielleicht sind solche Erwartungen ja eine gänzlich unangemessene oder doch wenigstens überflüssige Pädagogisierung oder Psychologisierung der Generationen-Beziehungen? Vielleicht ist es nützlich, von den sich aufdrängenden praktischen Problemen einigen Abstand zu halten und zu fragen, ob die Vorgänge in der jungen Generation, historisch gesehen, überhaupt die Bedeutung haben, die ihnen heute, zumal in den Massenmedien, zugeschrieben wird, und worin allenfalls die Bedeutung liegt. In einer solchen Fragerichtung liegt im übrigen meine einzige Chance: Liest man regelmäßig die Zeitung, hat man den Eindruck, daß zu den Phänomenen und Konflikten eigentlich alles Sagbare schon gesagt wurde; ich könnte dem nichts hinzufügen, es sei denn, ich ändere die Perspektive.
[074:17] Ich habe oben vermutet, daß das
Generationen-Problem
ein kulturelles Habitus-Problem sein könnte. Sollte es ein derartiges Problem sein, dann wäre jedenfalls jene fürsorgerische Attitüde, die die Pädagogik im Umgang mit Jugendlichen seit knapp 200 Jahren bevorzugt, unangemessen, es sei denn, man stellt sich auf die Seite einer
kolonialistischen
Mentalität, die nur das Interesse verfolgt, das angebliche
Abweichende
in die Bahnen des herrschenden Habitus zu integrieren. Stellen wir uns aber auf den Standpunkt der deutschen Pädagogik der Romantik (und der ist so antiquiert nicht, wie man meinen könnte), dann wäre diese Generationen-Differenz nichts, was zu emsiger pädagogischer und psychologischer Arbeit Anlaß gibt, sondern ein
normaler
Vorgang im Wechsel der Generationen: Nach einem Jahrhundert immer dichter werdender pädagogischer Betreuung, immer
effektiver
sich verstehender Organisationen und Institutionen (Jugendvereine, Jugendverbände, Jugendpflege, Jugendfreizeiteinrichtungen, Jugendbildungsarbeit, Jugendsozialarbeit, internationale Jugendbegegnung usw.) kehrt die junge Generation selbst wieder zurück zum Ausgangspunkt: sie fragt nach dem Sinn, der Begründung für die überlieferten Formen des kulturellen Habitus und seiner sozialen Durchsetzungsweisen.
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[074:18] Zu jenem
Ausgangspunkt
aber gibt es doch eine wichtige Differenz: erst heute wird sichtbar, daß die kulturelle (ökonomische, ökologische und soziale) Entwicklung vielleicht nicht das Vertrauen verdient, das zur Zeit der Romantik noch sinnvoll schien, obgleich W. v. Humboldt schon damals mit großer Eindringlichkeit und heftiger Kritik darauf hinwies, daß
das einseitige Verlangen, alle Naturen einer Richtschnur zu unterwerfen, nur zu allgemein verbreitet
sei. Um so wichtiger scheint mir, heute einerseits den Habitus zu ermitteln, der sich in den Verhaltensweisen von Jugendlichen andeutet und sich vom
herrschenden
abzugrenzen versucht, andererseits zu fragen, ob derartige Habitus-Differenzen pädagogische Intervention erübrigen oder nötig machen.

3. Zur Phänomenologie adoleszenten Verhaltens

[074:19] Zunächst einige Zitate:
[074:20]
Was tut ihr denn so, wenn ihr mit euren Kumpels zusammen seid?
Duncan:  
Na, einfach rumstehen und Quatsch reden. Über irgend etwas.
Tut ihr sonst noch was?
Duncan:  
Spaßmachen, Blödeln, sich aufspielen. Wozu wir grad Lust haben, wirklich.
Und das ist alles?
Duncan:  
Einfach irgendwelche Sachen. Letzten Samstag fing jemand an mit Flaschen zu schmeißen, und wir haben alle mitgemacht.
Was passierte dann?
Duncan:  
Eigentlich nichts.
(Clarke, S. 176)
.
[074:21]
Was macht ihr so an der Straßenecke?
Dick:  
Die Polizei hat uns nie erwischt, wie wir etwas anstellten, darum können sie uns nichts anhaben. Aber wir haben meistens so rumgespielt, Sachen zerschmissen.
Was für Sachen?
Dick:  
Eigentlich alles – weiß nicht warum – waren einfach so Ideen.
(Clarke, S. 177)
.
[074:22] Derartige Selbstaussagen und Situationen sind nichts Neues; sie sind uns allen vertraut, sie sind für Jugendliche in Zürich, London, Nürnberg ebenso charakteristisch wie für Göttingen. Obwohl an den beschriebenen Handlungen gewiß nur eine recht geringe Anzahl von Jugendlichen teilnimmt, enthält doch die geschilderte Ausgangslage Typisches. Die Grundstimmung möchte ich so beschreiben:
[074:23] Die eine, vielleicht fundamentale Komponente ist das Erlebnis eines sozialen
Nirgendwo
. Diese Komponente tritt in den Selbstaussagen derjenigen Gruppierungen von Jugendlichen, die von sich reden machen, zwar besonders deutlich hervor; aber wir finden es ebenso, und zwar in erstaunlicher Breite, bei anderen, die nach ihrer äußeren Erscheinung und ihren Aktivitäten zunächst gar keine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen.
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[074:24] Die zweite Komponente ist eine relative Unbestimmtheit des Wollens oder des Interesses. Zu fragen, warum dies oder jenes getan wird (zum Beispiel Flaschen zerschmeißen), heißt sinnlose Fragen stellen (
weiß nicht warum – waren einfach so Ideen
). Auch dies ist nicht nur charakteristisch für kleine Außenseiter – oder Aussteiger-Gruppen. Was beispielsweise Lehrer als
Motivationsverlust
beklagen, hat im Prinzip die gleiche Form: Es entschwinden die Gründe dafür, etwas Bestimmtes lernen zu wollen, jedenfalls das, was die Schule anbietet. Dabei ist die Differenz zwischen Gründen und Motiven wichtig: Motive halten sich vielleicht noch einige Zeit, auch wenn es schwierig wird, Gründe zu finden; und Motive können schon verloren sein, auch wenn der Verstand mir sagt, daß es doch gute Gründe für diese oder jene Anstrengung gibt.
[074:25] Die dritte Komponente folgt aus den ersten beiden – nicht im Sinne einer logischen, sondern im Sinne einer pragmatischen Schlußfolgerung: Wenn man sich schon in einem sozialen
Nirgendwo
befindet und über keine Gründe mehr für ein auf die Zukunft gerichtetes Wollen verfügt, dann liegt es nahe, sich den aktuellen, spontanen, dem Augenblick angehörenden Antrieben zu überlassen: also
einfach rumstehen ... Spaß machen, Blödeln ... wozu wir grad Lust haben
. Diese hedonistische Komponente, d.h. die Konzentration der Aufmerksamkeit auf die Befriedigungsmöglichkeiten, die die Situation bietet, ist vielleicht – nach Meinung vieler Interpreten – das Wichtigste. In ihr bündelt sich das Mißtrauen gegenüber den gesellschaftlichen/staatlichen Zukunftsversprechen, der Wunsch nach unkontrolliertem Leben, die kognitive Unfähigkeit, ein bestimmtes Anderes und Besseres zu wollen, und die gesellschaftliche Nötigung, aus der Abseitssituation noch irgendetwas zu machen, was subjektiv befriedigend ist.
[074:26] Dies ist die Ausgangssituation. Jedermann weiß, daß dieses abstrakte Tableau sich nun bebildert; denn: niemand, auch kein Jugendlicher, hält diesen Schwebezustand lange aus. Der Zustand muß sozial artikuliert werden – und das ist heute wie zu allen Zeiten und in allen Kulturen ein Akt der Symbolisierung. Neben den psychologisch diskutierbaren Adoleszenzproblemen war es vor allem dieser Vorgang, der die Aufmerksamkeit der Jugendforschung auf sich zog. Um die Fülle der Beobachtungen zu ordnen und sie mir verständlich zu machen, möchte ich drei Brennpunkte solcher Symbolisierungen unterscheiden:
  • o
    [074:27] Der Körper: Viele der bisweilen für Erwachsene schwer verständlichen Handlungen und Attitüden hängen – wenn ich recht sehe – mit dem Bedürfnis zusammen, den eigenen Körper wieder spüren zu können. Ich will die entsprechenden Beobachtungen hier nur an|b 275|deuten, sie sind uns allen vertraut: die Versuche, in der Kleidung etwas von sich selbst zu zeigen, die Blicke auf sich zu ziehen, Zugehörigkeit und Getrenntheit zu signalisieren; die Art, im Tanz nicht einer gleichsam mechanischen Tanzregel zu folgen, sondern den ganzen Körper in tätige Bewegung zu versetzen; die Musik, vor allem durch die Lautstärke und die dröhnenden Bässe, vom ganzen Körper hören zu lassen; aber auch erleben wollen, daß der eigene Körper noch etwas bewirken kann, daß es physische und physikalische Reaktionen gibt – beispielsweise wenn Glas zersplittert. – Von der Bildungstheorie des ausgehenden 18. Jahrhundert bis zu Piaget gehört es zu den entscheidenden Einsichten, daß der Bildungs- oder Lernprozeß des Kindes nur dann befriedigend verlaufen kann, wenn die Rezeptivität des Kindes im Gleichgewicht mit seiner Spontaneität ist, wenn es hinreichend viel Gelegenheit zu tätiger Auseinandersetzung mit der Umwelt hat – und das gilt mit Sicherheit nicht nur für das kognitive Verhalten. Insofern symbolisieren derartige Ausdrucksformen vermutlich einen Mangel, ein ungelöstes Problem der Elterngeneration, zumal innerhalb unseres Bildungssystems. (Daß so viele Abiturienten heute und im Vergleich zu früheren Quoten überproportional in handwerkliche Berufe streben, hängt nicht vom Arbeitsmarkt ab, sondern ist, wie ich denke, eine Reaktion auf diesen Mangel.)
  • o
    [074:28] Die Zeit: Für den Habitus des Erwachsenen in unserer Kultur gehört es vielleicht zu den empfindlichsten Provokationen oder gar Kränkungen, daß immer mehr Jugendliche scheinbar gleichgültig gegenüber Problemen der zeitlichen Planung sind. Was in der Sozialisationsforschung einmal als
    differed gratification pattern
    beschrieben wurde, als die für moderne Bildungsanforderungen unerläßliche Fähigkeit also, seine Handlungen über größere Zeitdistanzen hinweg planen und also auch Versagungen ertragen zu können, das scheint bröckelig zu werden. Ein berühmt gewordener Slogan im Rahmen der Züricher Jugendunruhen lautet:
    Wir wollen alles, und zwar subito!
    Nimmt man diese Forderung ernst und wörtlich, dann drückt sich darin ein Zeitbewußtsein aus, das dem vorherrschenden Habitus der industriellen Gesellschaft völlig fremd sein muß: Vergangenheit und Zukunft schrumpfen gleichsam zusammen auf den Augenblick; die Befriedigung in der je aktuellen Gegenwart wird tendenziell zum dominierenden Kriterium für die Beurteilung von Handlungen.
  • o
    [074:29] Der Raum: Soziale Handlungen brauchen ein Territorium. Das soziale
    Nirgendwo
    , das ich als eine Komponente der Ausgangsla|b 276|ge benannt habe, muß auf irgendeine Weise in Raumstrukturen überführt werden. Die Raumstrukturen unserer Familienwohnungen und Schulen, der Freizeitheime und der Stadtarchitektur fassen zusammen und sondern aus, folgen einer zweckmäßigen Klassifikation nach erwünschten und unerwünschten Tätigkeiten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß gerade das räumliche Verhalten, seit es ein Jugendproblem gibt, die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hat. Zunächst und vorwiegend an Arbeiterjugendlichen beobachtet, ist der Versuch, eigene Territorien zu schaffen, ein wesentliches Charakteristikum des Jugendalters schon seit langem. Was aber jahrzehntelang eher unter der Oberfläche öffentlich pädagogischer Wahrnehmung blieb, das tritt heute deutlicher und mit Selbstbewußtsein hervor und in Formen, die befremdlich wirken. So formuliert ein englischer Jugendforscher:
    Wenn man die Menschen zwingt, in einem übervölkerten Betondschungel zu leben, muß man gewärtigen, daß sie sich manchmal wie eine unterentwickelte Primatenspezies verhalten
    (Cohen in Clarke, S. 238)
    . Das Urteil ist sicher übertrieben, denn es handelt sich ja bei den Versuchen, eigene Territorien zu finden und zu strukturieren, um kulturelle Akte der symbolischen Formgebung – auch wenn es für andere Verständnisschwierigkeiten bereiten sollte. Die etwas pathetische Formel, mit der Züricher Jugendliche ihr
    autonomes Jugendzentrum
    bezeichneten, nämlich
    Befreites Gebiet
    , kann man so als den letzten und verallgemeinerten Ausdruck einer Problemlinie begreifen, die mit den territorialen Ansprüchen jugendlicher
    Gangs
    zu Anfang des Jahrhunderts – aber im Grunde wesentlich früher – begann.

4. Einige Reaktionen auf dieses Verhalten

[074:30] Die Liste von wesentlichen Merkmalen gegenwärtigen Jugendprotestes oder der Aussteigermentalität ließe sich gewiß noch verlängern. Vor allem wäre wohl etwas über neue Beziehungsstrukturen zu sagen, aber auch über die sowohl objektiv wie subjektiv problematischen und belastenden Konflikte, die in diesem Feld zwischen Strafrecht, Drogengefährdung und Suizid auftauchen. Ich möchte das indessen nicht tun; dafür gibt es kompetentere Interpreten. Stattdessen liegt mir daran, die Aufmerksamkeit eher auf historische und sozialstrukturelle Zusammenhänge zu lenken.
[074:31] Am Beispiel von drei typischen Reaktionen, die ich alle für falsch halte, möchte ich solche Zusammenhänge zunächst andeuten:
[074:32] Eine Reaktion, die zwar nicht unter Fachleuten, aber unter Bildungspolitikern neuerdings sich zu verbreiten beginnt, ist der moralische Appell und die Empfehlung von Techniken der moralischen Beeinflussung. Ich meine damit jene Empfehlungen, zumeist an Lehrer gerichtet, daß in der Schule wieder mehr auf Disziplin geachtet werden solle, moralische Werte stärker betont, Tradition und Religiosität gepflegt werden solle usw., bis zu jener unfreiwilligen Komik, die in der Annahme liegt, das Auswendiglernen von Gedichten und das Singen von Volksliedern könne etwas zur Veränderung der Situation beitragen. Derart unrealistische Capricen wären nicht erwähnenswert, wenn sie nicht gefährlich werden könnten. Sie unterstellen nämlich, daß die Jugendproblematik, vor allem die Motivations- und Leistungskrise, eine Randerscheinung sei, die durch ein wenig mehr Ordnung in den Bildungs- und Erziehungseinrichtungen zum Verschwindung gebracht werden könne. Ich glaube das nicht; mir scheint vielmehr, daß es sich dabei nicht um Randerscheinungen handelt, sondern um Momente einer langen geschichtlichen Reihe, die es nicht mit einzelnen pädagogischen
Versäumnissen
, die sich rasch korrigieren lassen, zu tun hat, sondern mit den Lebensformen der Erwachsenen. Noch nie in der Geschichte der Erziehung konnten gravierende Veränderungen durch moralische Appelle an die Erzieher bewirkt werden.
[074:33] Die zweite Reaktion, die mir bedenklich scheint, klingt schon eher nach Sachverstand: es ist der Appell an die pädagogischen Kräfte der Familieund also auch an die Familienpolitik. Diese Reaktion hat zunächst scheinbar viel für sich. Sie kann sich darauf berufen, daß immerhin der familiale Lebens- und Kommunikationszusammenhang zu den erklärungskräftigsten Bedingungen für die Entstehung und Entwicklung spezieller Verhaltensprobleme gehört. Aber die Unterstellung, die in jenem Appell enthalten ist, meint ja mehr: nämlich daß die skizzierten Probleme des jugendlichen Phänotyps durch die Familie als letzter oder doch wenigstens dominanter Instanz erzeugt wurden, während sich ebenso gut denken ließe, daß die Jugendproblematik und die Bedrängnisse, in die ja auch die Institution Familie schon seit langem gerät, gemeinsame Ursachen haben, die außer ihr liegen. Das ist nun auch – wenn ich so sagen darf – ein alter Hut.
[074:34] Eine dritte Reaktion will ich
falsche Solidarisierung
nennen. Das Erwachsenwerden ist immer schwieriger geworden und nimmt längere Zeitspannen in Anspruch. Besonders pädagogische Berufe eignen sich dazu, vor dem Erwachsensein auszuweichen oder noch unbewältigte Adoleszenzprobleme zu bearbeiten. Durch die Identifikation mit Jugendlichen kann man nachholen, was man glaubt versäumt zu haben. |b 278|Die meisten unserer Studenten stellen sich vor, in ihrem Beruf später mit Jugendlichen zu arbeiten und nicht mit Kindern. Das ist verständlich: mit 25 Jahren kann ich sicher sein, kein Kind mehr zu sein; im Hinblick auf das Kind also ist es sinnlos, die Generationen-Distanz zu verleugnen. Dem 17jährigen gegenüber aber kann ich mich gleich oder ähnlich fühlen. Das wird noch unterstützt durch eine Entwicklung in der Aus- und Fortbildung, die ich
Therapeutisierung
nennen möchte: unter dem Namen
Beratung
werden aus den orthodoxen Therapieformen Bruchstücke herausgenommen und als kommunikative Techniken eingesetzt; das Generationsverhältnis löst sich in verständnisvolle Gespräche auf. Der Sozialpädagoge versteht sich als
Berater
, gleichgültig, was geschieht.
[074:35] Diese Entwicklung ist ambivalent. Einerseits kann man es als Gewinn werten, daß die sozialfürsorgerische Attitüde, die noch in den 50er und Anfang der 60er Jahre beispielsweise für die Pädagogik der Jugendfreizeitheime charakteristisch war, stark zurückgegangen ist, daß Eltern mit ihren Kindern liberaler umgehen, daß Lehrer weniger häufig autoritäre Unterrichtsstile praktizieren, daß in der Jugendarbeit der Sozialpädagoge sich seltener als Besserwisser versteht, der
sinnvolle Freizeit
organisieren muß. Auch die Relativierung dessen, was der Pädagoge, seiner eigenen sozialen Herkunft nach, für sinnvoll hält, das Sich-Einlassen auf den kulturellen Habitus beispielsweise der Arbeiterjugend, die Parteinahme für deren Interessen, ist nichts anderes als pädagogisch vernünftig; ebenso auch die Sensibilisierung für psychische Probleme des einzelnen Jugendlichen, für Gruppenvorgänge, für Identitätsprobleme.
[074:36] Andererseits aber, gekoppelt mit jener Schwierigkeit, erwachsen zu werden, gerät die nachwachsende Generation in ein soziales Feld, in dem Erwachsene immer seltener werden, die bereit sind, sich auf den Ernst einer eigenen Biographie, damit auch auf kulturelle Bestände und Überzeugungen zu berufen. Ich fürchte, daß die Zahl von Sozialpädagogen nicht gering ist, die einerseits die traditionelle Kultur der Bourgeoisie verachten, deren avantgardistische Teile nicht kennen, an den jugendlichen Subkulturen partizipieren, aber selbst keine haben. Das klingt nun auch sehr besserwisserisch und von oben herab. Es ist nicht so gemeint, denn ich könnte mich selbst miteinbeziehen: Wir sehen dem Zerbröckeln unserer kulturellen Traditionen zu und wissen nicht, was daraus werden kann. In solcher Situation ist es gar nicht befremdlich, wenn auch Pädagogen am liebsten dort arbeiten, wo die Attitüden der Körper-Zentriertheit, des unbestimmten Wollens, der |b 279|hedonistischen Konzentration auf die pure Gegenwart vorzuherrschen scheinen.

5. Einige historische Bedingungen

[074:37] Liest man heute Berichte, vor allem Autobiographien, aus dem 18. Jahrhundert, dann trifft man auf Vertrautes: In einer Stadt wie Jena oder Gießen beispielsweise verging kaum eine Woche ohne den Krawall Jugendlicher; Bürger wurden angepöbelt und bedroht; Scheiben gingen zu Bruch; die Straße war häufig im Besitz der Jugendlichen, die Bürger blieben in ihren Wohnungen. Zwar begannen die Berichterstatter darüber zu klagen, aber im ganzen herrschte eine emotionale Gleichgültigkeit. Es war – wie auch in den Jahrhunderten davor – eher der Ärger über die Belästigung als die Sorge um die Zukunft dieser Generation oder dieser Gesellschaft. Schließlich starb ja auch fast die Hälfte der Kinder, ehe sie erwachsen wurde. Der Familienzusammenhalt war in der Regel nur locker; die Orientierung an und die Integration in Gruppen des gleichen Alters und des gleichen Status war mindestens so wichtig wie die Familienzugehörigkeit; wenn man es irgend bezahlen konnte, gab man die Kinder in fremde Haushalte und kümmerte sich dann häufig überhaupt nicht mehr um sie. Zwischen dem 15. und dem 18. Jahrhundert waren junge Menschen im Alter zwischen 12 und 20 Jahren entweder strikt in die Sozialform irgendeines Hauswesens eingebunden oder lebten ein gesellschaftliches Leben am Rande, in juristischen Exterritorien, als Übergang, allerdings höchst riskant. Sie forderten deshalb freilich auch nicht – wie beispielsweise Jugendzentrumsinitativen heute – die Fürsorglichkeit des Staates für ihre Belange ein. Andererseits aber ließ auch der Staat oder die Gemeinden sie gewähren. Die Bürger halfen sich gegen solche Gruppen, wenn Übergriffe beispielsweise gegen das Eigentum vorkamen, selber oder duldeten das Geschehen in der (begründeten) Hoffnung, es sei vorübergehend. Öffentliche Gewalt war noch erst wenig monopolisiert; weder wurden Kinder und Jugendliche durch besondere juristische und institutionelle Vorkehrungen vor Mißhandlung, Gleichgültigkeit, Ausbeutung geschützt, noch wachte ein Heer professioneller Pädagogen über deren Entwicklung, noch auch hatten die Jugendlichen Chancen, außerhalb der traditionellen Sozialformen irgendeine Sicherheit ihrer gegenwärtigen und zukünftigen Existenz garantiert zu bekommen. Wer sich aus den strikt reglementierten Ordnungen der Hauswesen, der Zünfte, der Kollegien usw. herausbegab, tat das auf völlig eigenes Risiko, hatte aber andererseits einen beträchtlichen, von |b 280|formeller Sozialkontrolle im Vergleich zur Gegenwart nur gelegentlich erreichten Handlungsspielraum.
[074:38] Wichtig sind nun für die weitere Entwicklung des Generationenverhältnisses drei Faktoren, die wir in der Regel als geschichtlichen Gewinn interpretieren:
  • [074:39] Es entsteht die Kleinfamilie mit der Betonung von Häuslichkeit, emotionalkommunikativer Dichte und relativer Abschließung nach außen;
  • [074:40] es entsteht, vor allem wohl unter dem Druck des kapitalistischen Warenmarktes, eine individualistische Orientierung, die die traditionell kollektivistischen Orientierungen verdrängt;
  • [074:41] es entsteht ein System von Erziehungseinrichtungen (vor allem die Pflichtschulen für die Jahrgänge über das 12. Lebensjahr hinaus), in denen die Bildungsprobleme der Jugendlichen kanalisiert werden.
[074:42] So grobschlächtig diese Beschreibung anmuten mag (in ihr sind sich die Historiker der europäischen Sozialisationsgeschichte einig): ich will es noch gröber auf eine vielleicht überpointierte Formel bringen: Das Jugendalter (also die Angehörigen dieser Altersstufe, nicht der Begriff, den sich die Kultur der Erwachsenen davon machte) ist von einer sozial relativ Undefinierten, mal längeren, mal kürzeren, im ganzen riskanten, häufig chaotischen Übergangsphase zu einem Objekt öffentlicher Fürsorge geworden. Diese Fürsorge ist totalitär, weil sie durch ein Zusammenwirken ordnungspolitischer, familienfürsorgerischer, bildungspolitischer, freizeitpädagogischer und therapeutischer Maßnahmen zu erreichen versucht, was unsere kulturellen und sozialstrukturellen Bestände nicht mehr hergeben. Ich kann den Beweis dafür hier in einem so knappen Rahmen nicht systematisch entwickeln. Aber einige unsystematische Beobachtungen sollen andeuten, was damit gemeint ist.
  • o
    [074:43]
    Die Entwicklung zur modernen Kleinfamilie oder
    Gattenfamilie
    hat uns nicht nur die Familienfürsorge eingetragen, sondern auch das ganze Geflecht von Beratungen und Therapien, die feinsinnigen psychologischen Strategien, vor allem aber die unzähligen semiprofessionellen Ratschläge für den Umgang mit Kindern in Büchern, Magazinen, Fernsehen usw. Diese Psychologisierung des Alltagslebens kann (kann!) problematische Folgen haben, zum Beispiel:
    • eine Übersensibilisierung für das angeblich nicht Normgerechte;
    • eine Schwächung der Fähigkeit, erwachsen zu sein und auch dazu zu stehen, also was man für einen Wert hält, auch zur Darstellung zu bringen;
    • |b 281|
    • eine Verbalisierung psychosozialer Probleme, die nur der momentanen Aufrechterhaltung eines familialen Systems dient, auf die Zukunft seiner Mitglieder, vor allem der Jugendlichen, aber wenig Einfluß hat.
    Was würde eigentlich geschehen, wenn es zwei Jahrzehnte lang bei uns kein Kindergeld mehr gäbe, alle sogenannte Familienberatung in Massenmedien und populären Ratgebern unterbliebe, die Institutionen sich nur auf Fälle von offensichtlicher Mißhandlung von Kindern beschränken würden usw.? Kann man das vorhersagen? Kann man das nach Gewinn und Verlust ausrechnen?
  • o
    [074:44] Seit es Familienwohnungsbau in überindividueller Regie gibt, also seit mindestens 150 Jahren, folgt er einer von französischen Architekten schon damals formulierten Regel: gerade soviel Raum, damit die Kleinfamilie Häuslichkeit entfalten kann, aber andererseits so wenig Raum wie möglich, damit nicht unverhofft ein Stück Öffentlichkeit durch viele Verwandte, Freunde, Gäste entsteht. Das erzwingt Privatheit, das fördert emotionale Überhitzung, das treibt den Jugendlichen aus dem Haus.
  • o
    [074:45] Dieser letzte Effekt konnte eine Zeitlang noch vermieden werden. Zunächst nämlich konnte die Elterngeneration tatsächlich glaubhaft machen, daß die Bindung der Jugend an den engsten Kreis und die begleitenden Bildungsinstitutionen bessere Zukunft garantiere. Schleiermachers Forderung, daß die junge Generation zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse gebildet werden müsse, war 1826 für Erwachsene (des Bürgertums) und für Jugendliche plausibel. Der
    klassische
    Generationskonflikt konnte sich daran entfalten, weil die Eltern immerhin noch eine Kultur repräsentierten, deren historische Tiefe und in die Zukunft gerichtete Anstrengung nicht nur Opposition, sondern auch Respekt verdiente. Aber das Ende kündigte sich schon an, als die bürgerliche Jugendbewegung auf ihrem ersten Höhepunkt war: 1914 wurde im Bayerischen Landtag die Jugendbewegung scharf angegriffen mit dem Hinweis darauf, daß sich da Atheismus und Revolutionsstimmung breit machten.
  • o
    [074:46]
    Im übrigen haben gerade die Jugendbewegungen durch die Wahl ihrer Ausdrucksformen seit 200 Jahren immer wieder auf die sich allmählich verschärfende Problematik, in der Regel unabsichtlich, hingewiesen:
    • Sturm und Drang und Romantik auf die Mißachtung der expressi|b 282|ven Bedürfnisse und das Recht auf wissenschaftlich nicht faßbare Subjektivität (Emotionalität, Religiösität);
    • die proletarische Jugendbewegung auf fürsorgerische staatliche Bevormundung und politische Konformitätserwartungen (soziale Ungleichheit)
    • die bürgerliche Jugendbewegung auf unglaubwürdig gewordene Autorität und Konventionalismus (inzwischen nämlich begann sich abzuzeichnen, daß die Zukunftsversprechungen, an die Schleiermacher noch glaubte, nicht eingelöst werden können);
    • die
      Halbstarken
      der fünfziger Jahre und die
      Rocker
      auf das Unwirtlichwerden unserer Städte, auf die Probleme des Arbeitsmarktes;
    • die Hippies und Freaks und ländlichen Wohngemeinschaften auf die alles vereinnahmende moderne Technologie;
    • die
      Mods
      und
      Skinheads
      und
      Punks
      auf die Zukunftslosigkeit ihrer sozialen Existenz;
    • sie alle im Zusammenhang mit der Häuserkampf-Szene auf die drohende
      Raumlosigkeit
      für jugendliches Leben.
[074:47] Obwohl immer nur Minderheiten diese Probleme zur Sprache brachten, waren es doch jeweils die Probleme von Generationen, wenn auch oft von nachfolgenden. Mit gutem Grund haben Sturm und Drang, Romantik und Jugendbewegung, die Halbstarken usw. den Elterngenerationen, immer auch zu denken gegeben.
[074:48] Was ich eingangs
Normalisierung
nannte, kann ich nun erläutern: Für normal halte ich die Empfehlung Schleiermachers zu Beginn des vorigen Jahrhunderts, sich im Hinblick auf die Lebensformen, mit denen die Jugend experimentiert, auch im Hinblick auf unkonventionelle Angriffe gegen die Lebensformen der Erwachsenen, Zurückhaltung aufzuerlegen und fürsorgerische, pädagogische, politische Reglementierungen zu minimieren. Das war offenbar ein glücklicher Moment in der Geschichte des pädagogischen Denkens: Die Verrechtlichung des Jugendalters hatte kaum erst begonnen; die bürgerliche Gesellschaft brauchte sich noch nicht vom Industrieproletariat, von sozialen Bewegungen und gesellschaftspolitisch-ökonomischen Krisen bedroht zu fühlen; die überlieferten Lebensformen erschienen einerseits noch hinreichend sinnhaft, andererseits einer Veränderung zugänglich, so daß an eine offene gesellschaftliche Zukunft relativ angstfrei gedacht werden konnte; der romantische Begriff des
Kindes
als Symbol für eine bessere Alternative gemeinschaftlicher Lebensformen signalisier|b 283|te Vertrauen in die mögliche Vernünftigkeit dessen, was sich in der nachwachsenden Generation regte. Die daraus folgende Einstellung zum Jugendlichen nenne ich
normal
, weil die moderne Statuspassage
Jugendalter
– davon bin ich überzeugt – auf die Dauer nur gelingen kann, wenn sie gesellschaftlich nicht als dichte Aufeinanderfolge von Rollen-Erwartungen konstruiert wird. In gegenwärtig politisch-modischer Terminologie ausgedrückt: Je weniger dem Jugendalter relativ
rechtsfreie Räume
zur Verfügung stehen, um so pathologischer wird der Prozeß.
[074:49] Und eben dies, die Pathologisierung des Jugendalters, ist das
Unnormale
, das seit 150 Jahren im Generationenverhältnis sich breit gemacht hat. Die Bemühungen der Sozialwissenschaft, Jugend immer wieder als gesellschaftliche Gruppe zu bestimmen, und sei es in ihren auf soziale Lagen hin spezifizierten Ausprägungen, auch die Selbstdarstellungen der Jugend in Bewegungen, Verbänden, Aktionen haben den pädagogischen Habitus nicht verändern können, nach dem diese Statuspassage fein instrumentiert, subsidiär gestützt, rechtlich geregelt, als Rollen-Folge beschrieben, durch Institutionen kanalisiert und als möglichst lückenlose Integration gedacht und betrieben wird. So etwas kann einen schon unwillig machen, oder resigniert, oder pessimistisch, oder aggressiv, oder krank. Ein pathologischer Habitus!
[074:50] Normal also ist an der gegenwärtigen Situation, daß die pathogenen Elemente des Habitus zurückgewiesen werden, daß man wieder (freilich ohne das selbst genau zu wissen) dort anknüpfen möchte, wo vor etwa 150 Jahren die Geschichte der Pathologisierung begann. An der Bruchstelle damals stand ja nicht nur Schleiermacher; seine Zeitgenossen Goya, Runge, C. D. Friedrich haben einen für Museen erstaunlichen Anteil jugendlicher Besucher in der Hamburger Kunsthalle angezogen; für viele
Alternative
sind die romantischen Anteile der Formenwelt des Jugendstils attraktiv; ein Slogan wie
Seid realistisch – verlangt das Unmögliche
könnte von Anré Breton, Max Ernst oder Kurt Schwitters stammen, Surrealismus oder Dada also, die ästhetisch-romantische Pointe vor 60 Jahren. Dies alles: eine subversive Geschichte der Romantik, die heute, von der Kunst-Bühne herabgestiegen, in den Alltag von Jugendlichen eindringt, das alles nenne ich
Normalisierung
. Und mehr noch: Warum eigentlich soll es für einen noch moralisch empfindenden und urteilenden Jugendlichen nicht normal sein, sich abzuwenden von gesellschaftlichen Institutionen, die kaum noch Sittlichkeit repräsentieren, kaum noch legitimierbare Lebensformen anzubieten haben: die faktische Verwahrlosung des Verfassungsprinzips von der Sozialbindung des Eigentums; die auf Wäh|b 284|lerstimmen zielenden
Blechworte
(von Hentig) vom
Dialog mit der Jugend
; die Perspektiven von Jugendarbeitslosigkeit; die moralische Öde auch in Teilen der beiden Kirchen, wenn es um soziale Ungerechtigkeit oder Friedensbewegung geht; die Schulen als
Verteilungsapparatur für Sozialchancen
(so diagnostierte Schelsky schon vor Jahrzehnten), nicht aber als Ort, wo sich, wenn auch vorübergehend, leben läßt; alles in allem: wir, die Erwachsenengeneration, argumentieren mit
Sachzwängen
, wo Jugendliche Argumente der Sittlichkeit (freilich nicht
Ordnung
,
Fleiß
,
Sauberkeit
usw.) erwarten. Kann ein Jugendlicher damit leben? Was daran soll noch
normal
sein? Normal erscheint mir, daß man sich abwendet. Und damit – mit dieser
Normalisierung
– bewegt sich tatsächlich die Jugendproblematik auf eine kritische Situation hin.
[074:51] Kritisch daran ist weniger das Verhalten der jungen Generation als vielmehr die innere Problematik unserer Lebensformen. Vielleicht geht es noch eine Zeitlang, die Brüchigkeit dieser Lebensformen durch Beschwörungsformeln auf Parteitagen und anderswo zu verbergen, zu verbergen, daß die Sittlichkeit unserer Verfassung – die doch immerhin eine auch würdige Geschichte der Neuzeit hinter sich hat – in den Institutionen dieser Gesellschaft ziemlich schlecht repräsentiert wird. Vielleicht ist das der Preis, den man für Industrialisierung, Massengesellschaft und materiellen Wohlstand zahlen muß. Ich weiß es nicht. Mir jedenfalls erscheint er reichlich hoch bemessen. Dieses Dilemma macht ratlos. Eine Elternvertreterin drückte das in ihrer Ansprache an die Abiturienten des letzten Jahres so aus:
[074:52]
Hätten Sie versucht, uns Konkurrenz zu machen, wir hätten Sie verstanden. Aber Ihre Lustlosigkeit und Ihr Leistungsunwillen, der Trend zur Flucht, dieses wenig ausgeprägte Standhaltenkönnen machten uns ratlos. Gegen Argumente hätten wir anreden können, aber die Interessenlosigkeit an unseren Themen – Ihrem Erbe! – machte uns erst hilflos und dann aggressiv. Wir haben zwei Jahrzehnte Berufsleben hinter uns, zwanzig ernstgemeinte Jahre, und deshalb, meine jungen Herren und Damen, lassen wir uns nicht einfach als Arbeitstrottel und Leistungsidioten abstempeln
(in: Die Zeit, 14. 8. 1981)
.
[074:53] Mir erscheint der Vorwurf, wir seien
Arbeitstrottel und Leistungsidioten
, noch vergleichsweise harmlos. Schwerer wiegt der unausgesprochene Vorwurf, der in der Schrumpfung der Zeitperspektive, in der hedonistischen Konzentration auf den Augenblick liegt. Der Umgang mit der Zeit ist immer tief in den Lebensformen verwurzelt. Er gibt nicht nur den menschlichen Tätigkeiten eine bestimmte Form, sondern auch |b 285|den Beziehungen zwischen den Personen und zu den Dingen. Er bindet die Gegenwart an die Erinnerung und an das zukünftig Mögliche. Unsere Kultur hat uns in dieser Hinsicht zweierlei eingebracht: einerseits das historische Bewußtsein, d.h. einen reflektierten Umgang mit den Traditionen, den kulturellen Beständen und ein planend verantwortliches Vorgreifen auf die Zukunft; andererseits den mechanischen Zeittakt industrieller Arbeit, der weit über die Arbeitsstätten hinaus bis in private Beziehungen eindringt, Bildungs- und Lernrhythmen bestimmt, die Freizeit reguliert usw. Da kann dann die Zeit als das immer Gleiche erscheinen, Zukunft als die mechanische Verlängerung der Gegenwart; Vergangenheit und Erinnerung werden unwichtig. Historisches Bewußtsein schwindet also nicht nur im Leben der Jugendlichen, sondern auch in unserem Leben. Die Disco-Kultur paßt deshalb nicht schlecht in die Freizeitkultur der Erwachsenen, und beide spiegeln die Perspektivenarmut unserer Lebensform. Mit welchen Gründen also können wir den Jugendlichen ihren Hedonismus, die Ablehnung unserer Leistungsmentalität, ihre Aussteigertendenzen ausreden wollen?
[074:54] Teil jeder guten Beratung ist eine sorgfältige Anamnese. Was würden wir in einer Anamnese sagen, in der die Rollen vertauscht wären? Peter Handke hat das Problem gut getroffen, als er sagte:
Wenn ich jemandem Mitgefühl, soziale Aufmerksamkeit, Freundlichkeit und Geduld beibringen will, befremde ich ihn nicht mit der abendländischen Logik, sondern versuche ihm zu erzählen, wie es mir selber einmal ähnlich erging, d.h. ich versuche, mich zu erinnern
(Handke: Als die Wünsche noch geholfen haben, Frankfurt/M. 1974, S. 80)
.

Literaturhinweise

    [074:55] Clarke, J. u.a.: Jugendkultur als Widerstand, Frankfurt/M., 1979.
    [074:56] Donzelot, J.: Die Ordnung der Familie, Frankfurt/M., 1980.
    [074:57] Giesecke, H.: Wir wollen alles, und zwar subito! In: deutsche jugend. Jg. 1981/6, S. 251 ff.
    [074:58] Gillis, J. R.: Geschichte der Jugend, Weinheim/Basel, 1980.
    [074:59] Haller, M. (Hg.): Aussteigen oder rebellieren. Jugendliche gegen Staat und Gesellschaft, Hamburg, 1981.
    [074:60] Shorter, E.: Die Geburt der modernen Familie, Reinbek, 1977.
    [074:61] Sozialdemokratische Partei der Stadt Zürich (Hg.): Eine Stadt in Bewegung. Materialien zu den Züricher Unruhen, Zürich 1980.
    [074:62] Zinnecker, J.: Jugendliche Subkulturen, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1981/3, S. 421 ff.