Wieviel kostet ein Kind? [Textfassung b]
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Wie viel kostet ein Kind?

Erziehungsheime sind der Gesellschaft teuer

[077:7] Sieht man sich unbefangen bzw. mit Naivität die Zahlen an, mit denen in Pflegesätzen operiert wird, dann ist man zunächst verblüfft: Da kostet also ein Kind im Heim täglich – sagen wir 150 DM. Das sind viereinhalb tausend Mark im Monat!
[077:8] Donnerwetter – denke ich; eine Menge Geld. Hätte ich zwei solcher Kinder in meiner Familie, dann hätte ich ein Haushalts-Netto-Einkommen von 9.000 DM. Soviel bekomme ich vom Staat nie für meinen augenblicklichen Sechs-Personen-Haushalt.
[077:9a] Aber ich will nicht an mich denken; das ist vielleicht unfair. Nehmen wir also den Haushalt einer Arbeiter-Familie: Warum bekommt nicht diese Familie das Geld, sondern irgendein Heim? Man sagt, diese Familie – deshalb sind die Kinder ja im Heim – sei nicht in der Lage, dem Kind einen befriedigenden Bildungsprozeß zu ermöglichen. Warum nicht? Man verschätzt sich vielleicht nicht allzu sehr, wenn man vorsichtig annimmt, daß ca. ein Fünftel der Kinder, die gegenwärtig in Heimen sind, deshalb dort sind, weil die materiellen Bedingungen zu Hause und deren Folgen für das Kind unterträglich werden. Welche Gründe sprechen dagegen, den Pflegesatz, oder sagen wir: nur einen Teil davon, diesem Haus halt zu zahlen?
[077:9b] Man sieht schon: Die Sache wird gefährlich! Unüberwindliche Erziehungsschwierigkeiten zu haben, würde einträglich.
[077:9c] Aber es gehört noch ein anderer Sachverhalt dazu: Im Grunde erbringen ja alle Familien schon mindestens die Hälfte dieses Pflegesatzes an täglicher Erziehungsarbeitszeit, und zwar ohne das Geld zu bekommen. Es ist schon merkwürdig: lebt ein Kind in der Familie, werden außerordentlich wenig öffentliche Mittel aufgewandt; lebt es in einem Heim, steigt der öffentliche Wert des Kindes sprunghaft um das fünf- bis zehnfache an.
[077:9d] Man könnte nun denken: Wunderbar! Soviel also sind uns die schwachen Glieder unserer Gesellschaft wert! Unter Sozialpädagogen ist je die moralische Formel beliebt, die Humanität einer Gesellschaft sei soviel wert, wie sie für die Schwächsten leistet. Aber das ist ein schiefer Blick: denn erstens – ein alter Hut – muß man mit anderen Positionen sich fragen, warum das Geld nicht unmittelbar den Familienhaushalten gegeben wird. Was wäre eigentlich, wenn es die soziale Erfindung der Heimerziehung nicht gäbe?
[077:11] Wenn ich mir die Pflegesätzez. B. aller niedersächsischen Heime anschaue, die der Pflegesatzvereinbarung beigetreten sind, dann kann ich mich – mit naivem Blick – schon wundern: Im billigsten Heim kosten die Kinder am Tag 67,– DM am Tag, im teuersten DM 194,. Warum das? Liegt es im Belieben eines Trägers, den Wert eines Kindes zu veranschlagen? Oder sind die Erzieher im ersten Heim vielleicht Idealisten, die dauernd unbezahlte Überstunden machen? Oder sparen die an den Kindern, um billig sein zu können, damit die Platzzahl möglichst ausgelastet ist? Oder kann vielleicht ein kleines Heim einfach rentabler wirtschaften? Gut; das ist eine Hypothese, die man prüfen kann. Ich rechne also.
[077:12] Aber dabei kommt nichts heraus. Es gibt keine signifikante systematische Beziehung zwischen Heimgröße und Pflegesatz (in Niedersachsen). Kleine Heime sind ebenso häufig billig oder teuer wie große.
[077:13] Aber vielleicht entspricht dem Preis ja die Qualität der Arbeit? Diese Frage wage ich gar nicht erst weiter zu verfolgen. Woran wollen wir Qualität messen? An den Mängelrügen der Heimaufsicht? An irgendwelchen
Erfolgsquoten
? An der Zahl der Kinder, die weglaufen?
[077:14] Zurück zu den Zahlen; mir fällt noch etwas auf, und zwar die Position
Kosten für Verwaltungsbedarf
. Jetzt bekommt die Sache sogar noch eine gewisse Komik: Je kleiner das Heim, umso höher die Verwaltungskosten, und außerdem: Da werden manche Kinder mit zwei Markam Tag, andere mit 9,50 DM verwaltet. Können die einen schneller schreiben als die anderen? Und was verwalten die anderen täglich 250,– DM, wenn sie 26 Kinder haben?
[077:15] Es ist also ganz klar: Das |b 10|stimmt überhaupt nicht. Hier schafft sich offenbar die gute pädagogische Vernunft einer sorgsamen Haushaltung ein wenig Luft gegenüber den Auflagen der Pflegesatzbehörde. Denn für jene 250,– DM am Tag wird eben nicht
verwaltet
, sondern das Geld wird – wie ich vermute – vernünftigerweise für die Betreuung der Kinder verwendet; man hat eine zwar kleine aber immerhin bewegliche Masse. Oder anders ausgedrückt: Wenn man schon mit einer Finanzierungskontrolle leben muß, die pädagogischer Vernunft im Wege steht, dann darf man wenigstens ein bißchen mogeln.
[077:16] Derartige Beobachtungen bestärken die Vermutung, die eigentlich der rote Faden ist, der sich durch die ganze Diskussion hindurch zieht: Die wesentlichen Schwierigkeiten, diejenigen nämlich, die die Erziehungskraft eines Heimes tangieren, liegen weniger in der Frage, welche Geldsumme für ein einzelnes Kind aufgewendet wird, als vielmehr darin, mit welchem Modus öffentlicher Kontrolle ein Haushalt leben muß, dessen einziger Zweck die Erziehung von Kindern sein soll.
[077:17a] Das System der öffentlichen Ersatzerziehung ist, ebenso wie das System der Familienhilfe, aus dem Geist öffentlicher Kontrollinteressen wie auch aus der Tatsache der Bevölkerungsexplosion entstanden. Mit der seit dem 16. Jahrhundert erkennbar werdenden Vermehrung der europäischen Bevölkerung und dem ungefähr gleichzeitig entstehenden kapitalistischen Warenmarkt erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, daß Kinder, die in einem Haushalt zur Welt kommen, nicht mehr befriedigend sozialisiert werden. So entsteht ein eigentümlicher Widerspruch:
  • [077:17b] Einerseits bildet sich das bürgerliche Leitbild von der besonderen pädagogischen Potenz der Familie aus, das, zunächst von den Konfessionen, von Humanisten, Medizinern, Pädagogen propagiert, vom Staat übernommen wurde und zu jenem Wetteifer geführt hat, in dem gegenwärtig die Parteien sich über eine den Familien dienliche Sozialpolitik befinden.
  • [077:17c] Andererseits entsteht eine Bereitschaft, überall dort einzugreifen, wo die familialen Erziehungsbedingungen jenem Leitbild nicht entsprechen. Der Eingriff erfordert Personal, und dies verursacht Kosten.
[077:17d] Die Frage, wieviel ein Kind kostet kann überhaupt erst auf der Grundlage dieser Mentalität entstehen: Was sich diesem Modell nicht fügen kann bedarf zusätzlicher Intervention und erfordert Kosten, z.B. in Form der Heimerziehung.
[077:17e] Als vorzügliche Interventionsagenturen bieten sich zunächst die Kirchen an; sie verfügen über Kapital und Personal. Später übernimmt der Sozialstaat die materielle Komponente. Er nimmt diese Kosten bereitwillig – was nicht heißt, daß er sich nicht zugleich auch möglichst niedrig zu halten versucht: so kann er die Abweichungen von jenem Familienleitbild und den diesem Leitbild entsprechenden Erziehungsleistungen am ehesten kontrollieren. Auf eine Formel gebracht: Der Respekt vor der privaten Selbständig|b 11|

Zusammenstellung

einer Reihe von Dienstleistungen und ihrer Kosten, berechnet für einen Tag der Inanspruchnahme
1. Kindertagesstätte 14,53 DM (235 Betreuungstage)
2. Gesamtschule 28,21 DM
3. Gymnasium 26,15 DM (203 Schultage p.a.)
4. Grund-, Haupt-, Volksschule 22,82 DM
5. Realschule 21,49 DM
6. Berufsschule 40,95 DM (78 Schultage p.a.)
7. Studenten 78,30 DM
a) Wirtschaftswissenschaften 17,54 DM (158 Studientage p.a.)
b) Medizin incl. Veterinärmedizin 201,82 DM
8. Heimplatz 93,65 DM (Bundesdurchschnitt 1979)
9. Gefangener 75,42 DM
10. Soldat 43,11 DM (bezogen auf 365 Tage)
66,67 DM (bezogen auf 236 Arbeitstage)
11. Krankenhaus 69,87 – 279,26 DM
Dialyseabteilung – 661,40 DM
Gehälter
12. Beamter 148,– –890,– DM
13. Angestellter 144,– –384,– DM (209 Arbeitstage p.a.)
14. Arbeiter 123,– –193,– DM
15. Vorstand Deutsche Bank 3.883,– DM
Bertelsmann 4.188,52 DM (236 Arbeitstage p.a.)
Allianz 1.890,– DM
Öffentliche Subventionen:
16. Opernplatz 83,– –100,– DM je Vorstellung
17. Turnhallenstunde 128,– DM je Belegstunde
18. Eissporthallenstunde 273,– DM je Belegstunde
19. Schwimmbad 9,– –10,– DM je Besuch
(Aus:
Was kostet ein Kind?
. Beiträge zur IGFH-Jahrestagung 1981)
|b 12|keit der familialen Haushalte, der sich in nicht rechenschaftspflichtigen Zuwendungen ausdrückt, endet da, wo diese Haushalte einen Weg nehmen könnten, der dem Leitbild nicht entspricht. Und das lassen wir uns was kosten!
[077:18] Da es sich um öffentliche Mittel handelt, muß ihre Verwendung – jedenfalls in einer Demokratie – kontrolliert werden. Niemand soll sich privat an öffentlichen Mitteln bereichern dürfen.
[077:19a] Aber dieser Grundsatz führt im Falle der Heimerziehung zu einer pädagogischen Skurrilität: Kontrollieren kann man umso besser, je genauer man differenziert, jedenfalls dann, wenn die Kontrolle hierarchisch und nicht solidarisch ausgeübt wird. Das gilt für Wohnungsbau, Städteplanung, Unterrichtsfächer usw. so gut wie für die Kosten, die ein Kind im Heim verursacht. Also wird in den Pflegesatzfeststellungen eine differenzierte Kostenaufstellung nötig, die genauso, wie sie aufgestellt wurde, auch eingehalten werden muß
[077:19b] Nun weiß aber jeder, daß das nicht geht, es sei denn, man unterwirft den Erziehungsalltag einer Regel, nach der Unvorhersehbares möglichst eliminiert wird, Spontaneität unerfreuliche Störung ist, besondere Interessen und Vorhaben nur zulässig sind, wenn sie um ein Jahr voraus kalkuliert werden und hier einmal verzichten ,um dort besonders Vergnügen haben zu können ,eine unerwünschte Form von Planung ist. Natürlich geschieht dies alles dennoch in den Heimen. Aber durch wieviel Skrupel, Gewissensbisse, Rechnereienund Ärger wird das erkauft? Und in manch einem Heim geschieht es dann vielleicht wirklich nicht! Ein Haushalt, der auf Erziehung hin angelegt ist, ist seiner Natur nach etwas anderes als der Haushalt eines Universitätsinstitutes, eines Krankenhauses, einer Kaserne. Die pädagogische Leistungsfähigkeit familialer Haushalte beruht u.a. auf ihrer ökonomischen Flexibilität, darauf, nicht an die festen Größen von Haushaltspositionen gebunden zu sein. Allerdings benötigen auch sie einen stabilen Sockel zur Befriedigung der wichtigsten Bedürfnisse wie Wohnung, Ernährung, Kleidung und, zwar ohne um seine Sicherung Jahr um Jahr besorgt sein zu müssen.
[077:19c] Neben dem Interesse an Sozialisations- und Finanzierungskontrolle sehe ich noch ein drittes Motiv, das den herrschenden Modus der Bemessung von Heimkosten für ein Kind und die Folgen für das Verhältnis der Heime zueinander bestimmt: Das Subsidaritätsprinzip. Dies ist nun ein heikles Thema, weil hier Verfassungsnormen angesprochen sind.
[077:20-21] Aber dieses Prinzip und die mit ihm verbundene Pluralität der Träger hat nicht nur das Gute, daß es private Initiative möglich macht – jedenfalls eher als z. B. im Schulsystem. Es ist auch eine der Quellen für die Konkurrenz der Heime um volle Belegungen ihrer Plätze. Aber: Liegt der gravierende Unterschied zwischen den Heimen wirklich in der
Grundrichtung
der Träger? Spielt der Wille der Eltern, bei der Wahl dieses oder jenes Heimes konfessionellen oder ähnlichen Kriterien zu folgen, wirklich noch eine dominierende Rolle? Ich weiß es nicht. Ich vermute aber, daß – |b 13|abgesehen von den Machtansprüchen weniger großer Verbände – derartige Gesichtspunkte längst außer Kraft sind. Im Vordergrund steht demgegenüber die Qualität der pädagogischen und therapeutischen Bemühung. Mit gutem Grund entscheiden Eltern heute, z. B. beim Schulbesuch ihrer Kinder, nicht über Konfessionen sondern zwischen Hauptschule und Gesamtschule.
[077:22] Gewiß wird die in der Jugendhilfe geschaffene Situation vorerst so bleiben, obwohl sie anachronistisch erscheint. Aber man kann doch vielleicht überlegen, ob nicht Elemente aus dem allgemeinbildenden Schulwesen übernommen werden könnten: Die Garantie von Personal und Wohnung beispielsweise. Ein großer Teil der Pflegesatz-Differenzen, die gegenwärtig durch unterschiedliche Gebäude- oder Schulden-Lasten entstehen und dem schuldfreien Träger einen Pflegekosten-Vorteil oder größere pädagogische Spielräume verschaffen, würde dann verschwinden. Dann erst würde auch ein alter, besitzreicher Träger in eine echte pädagogische Konkurrenz eintreten können mit einem jüngeren, der sich seine Wohnungen erst schaffen müßte. Und dann wird vielleicht auch die
Grundrichtung der Erziehung
weniger durchschlagend sein als die Frage, was dem Wohle des Kindes dienlich ist.
[077:23] Wir befinden uns gegenwärtig vermutlich in einer historischen Situation, in der es allmählich ein schwer zu rechtfertigender Luxus wird, den Bürgern
Geld fürs Fortpflanzen zuzuschießen
(Heinsohn), und dies nicht etwa nur aus Gründen knapper Staatskassen. Eins der kräftigsten Motive staatlicher Familien- und Erziehungspolitik in der Neuzeit war die Bevölkerungsvermehrung um durch vermehrte Arbeitskräfte den nationalen Reichtum steigern zu können. Allerdings wurde das Kind auf diesem Wege zu einem Gegenstand öffentlichen Interesses. Es entstand, über einige Jahrhunderte hinweg, jener Habitus in der Einstellung zum Kind, der von vielen Sozialhistorikern heute übereinstimmend beschrieben wird; nämlich: Zunächst die medizinische Fürsorge, dann die Sorge um eine pädagogisch akzeptable Säuglings- und Kleinkinderpflege, die Überwachung und Beratung der Familie, das Lerntraining usw.. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts finden wir diesen Habitus bereits ausgebildet vor. Die Folgezeit befaßt sich im wesentlichen mit der Frage der Durchsetzung.
[077:24] Zu diesem Habitus gehört merkwürdigerweise auch die Individualisierung des Kindes. Es wird nun weniger als – mehr oder weniger wichtiges – Teil einer Familie, einer Haushaltung betrachtet, sondern als einzelner
Lerner
. Die Umwelt ist für diesen Lerner – besonders nach Maßgabe der Humanwissenschaften, die in diesem Prozeß kräftig eingreifen – das Ensemble von Bedingungen, die seine individuelle Lernfähigkeit und Lerngeschwindigkeit fördern oder beeinträchtigen können. Der Haushalt, in dem das Kind aufwächst, verblaßt in solcher Perspektive zur Lernbedingung. Die individualisierenden Errechnungen von Kinder-Kosten-Sätzen sind nur ein Steinchen in diesem Mosaik des neuzeitlichen Habitus.
[077:25] Dazu aber steht eine andere Tradition in eigentümlicher Differenz: Unter Bedingungen einer familienwirtschaftlich organisierten Ökonomie, die entweder gar nicht oder nur locker mit größeren Märkten verknüpft ist, war das Interesse am Kind von anderer Art. Zwar war es auch hier zukünftige Arbeitskraft, aber in einem anderen Sinne: |b 14|Die Arbeitskraft war ein konkretes, unmittelbar erfahrbares, für die wirtschaftende Gruppe lebensnotwendiges Datum. Dazu gehört dann allerdings auch der Familien-Zyklus von Armut (wenn die Kinder nur essen und noch nicht arbeiten) und Wohlstand (wenn sie mehr arbeiten als sie essen). Und es gehört dazu jene emotionelle Gleichgültigkeit, die es angesichts des individuellen Überlebens der Kinder gab: Aussetzung, Kindersterblichkeit, Kindestötung. Es gehörte aber auch dazu das Interesse an Kontinuität der Generationen-Folge und des Hauswesens im Ganzen, Kinder als Träger des Namens, nicht nur des materiellen sondern auch des kulturellen Erbes. Unter solchen Bedingungen ist nicht das Kind für sich von Interesse, sondern nur als Moment dieses ökonomisch-kulturellen Zusammenhanges. In der alten Ökonomik, der Lehre vom Hauswesen, tauchen deshalb Kinder und ihre Erziehung bis ins 15. Jahrhundert hinein nur an untergeordneter Stelle auf, wenn überhaupt. Die bürgerliche Familien- und Erziehungsphilosophie knüpfte nun hier an und versuchte, Heterogenes zusammenzubinden: Die pädagogische Individualisierung in der Betrachtung des Kindes und den Versuch, dennoch an der Idee einer lebensperspektivisch bedeutsamen Einbindung des Individuums in familiale Haushalte festzuhalten. Die Kapriolen, die wir in der familienpolitischen Diskussion heute beobachten können, hängen mit dieser Schwierigkeit zusammen.
[077:26] Ich habe diesen historischen Hintergrund – freilich recht grobschlächtig und ohne die Ursachen-Frage genauer zu diskutieren deshalb skizziert, weil ich denke, daß es gut ist, sich bewußt zu machen, daß unsere aktuellen Denk-, Zuordnungs- und Verteilungsgewohnheiten nicht einem aktuellen und unvermeidlichen Sachzwang folgen, sondern in Jahrhunderten gebildeten Einstellungen folgen. Wenn wir etwas wirklich ändern wollen, müssen wir diese Einstellung ändern. Das gilt für die großen Probleme der Ökologie, der Kriegsgefahr, der sozialen Ungerechtigkeit, des Verkümmerns von produktiven Zukunftsperspektiven so gut wie für die vergleichsweise bescheidene Frage, wieviel Geld wir auf welche Weise für unsere Kinder aufbringen.
[077:28] Wenn wir also einen Haushalt, dessen Zweck in der umfassenden Erziehung von Kindern besteht, finanzieren, dann müssen wir zwar peinlich darauf achten, daß jedes einzelne Kind zu seinem Recht kommt. Wir müssen oder sollten uns aber ebenso jene Perspektive wieder zu eigen machen, die – vor der bürgerlichen Familienideologie – in dem Mehr-Generationen-Haushalt, der selbständig und deshalb anpassungsfähig auf seine Umweltprobleme wie auf die Bedürfnisse seiner Mitglieder reagieren kann, die notwendig – freilich nicht immer hinreichende – Garantie für eine befriedigende Sozialisation sieht.
[077:29] Mindestens zwei unzeitgemäße Bedingungen sind erforderlich, um das zu bewerkstelligen:
  • [077:30a] Man muß, um etwas Wichtiges an der einen Stelle zu machen, an einer anderen Stelle beliebig einsparen dürfen, und zwar sofort!
  • [077:30b] Man muß die Rolle des Erziehers entspezialisieren, d.h., sie als komplexe Haushaltsfunktion sehen lernen und nicht als spezialisierte Fachtätigkeit zum Zwecke der Aufrechterhaltung oder Optimierung von psychischen Funktionen. Einen guten Sinn macht nur beides zusammen. Eines allein geht nicht!

[077:31] Kann man aus derartigen Überlegungen irgendetwas gewinnen? Ich will ein knappes Resümee in wenigen Maximen versuchen:
  1. 1.
    [077:32] Es sollten keine Kinder, sondern pädagogisch |b 15|funktionsfähige Haushalte in Abhängigkeit von Größe und Zusammensetzung des Haushaltes finanziert werden. Ein Heim könnte durchaus mehrere Haushalte umfassen.
  2. 2.
    [077:33] Wie bei jedem Familienhaushalt auch, sollten die einzelnen Positionen wechselseitig deckungsfähig sein. Das ist eine entscheidende ökonomische Bedingung für pädagogische Flexibilität.
  3. 3.
    [077:34] Über eine Sockelfinanzierung benötigen die Heime ein Minimum an materieller Bestandsgarantie. Das betrifft vor allem Personal und Wohnung.
  4. 4.
    [077:35] Die einzig legitime Form von Konkurrenz der Heime – wenn man das dann noch so nennen darf – ist die über die pädagogischen bzw. therapeutischen Konzeptionen. Das wird nur gelingen, wenn die Pflegesätze sich derart annähern, daß tatsächlich die Differenzen nicht mehr ausdrücken, als eine Differenz der Konzeption.
[077:36] Das darin enthaltene Prinzip kann ich als Frage so formulieren: Nicht – wieviel kostet ein Kind? sondern: Wieviel braucht ein Haushalt, in dem einer Handvoll nicht recht glücklicher Kinder eine befriedigende Gegenwart und eine realistische Zukunftsperspektive vermittelt werden kann. Ob unserer Gesellschaft in dieser Frage ein Umdenken gelingt, weiß ich nicht.