Ich, Rolle, Ironie [Textfassung b]
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Ich, Rolle, Ironie

Eine bildungstheoretische Skizze zum darstellenden Spiel

[083:1] Bei der Durchsicht der theaterpädagogischen Literatur aus den letzten eineinhalb Jahrzehnten stieß ich auf die folgenden beiden Äußerungen; die eine stammt aus dem Jahre 1970, die andere aus dem Jahre 1980:
[083:2]
»Das Schultheater muß ... zu allererst die Einheit von Produktion, Distribution und Zuschauern herstellen. Es gibt keine Rampe. Es gibt keine Rollentrennung von Schauspielern und Zuschauern. Es gibt keine Textvorlage. Es gibt keinen Regisseur... Alles, was es gibt, ist der sinnliche Dialog zwischen Menschen, die sich zu einem Kollektiv zusammengeschlossen haben, um Ich-Stärke, Liebesfähigkeit, Frustrationstoleranz, Ausdrucksfähigkeit und Solidarität lustvoll am anderen zu erfahren.«
[083:3] Es geht darum,
»auf pädagogische Kontrolle und Bewertung von ästhetischen Lernprozessen bei Kindern und Jugendlichen«
zu verzichten.
»Nur so, mit dieser animativen Offenheit der Bildungsarbeit, sind kulturnormierende und -pädagogisierende Momente in der Interaktion und Kommunikation zwischen Heranwachsenden und Erwachsenen aufzuheben.«
[083:4] Beide Zitate signalisieren ein Verständnis von Theaterpädagogik, das ich für falsch halte, und zwar in, der Sache nach, wesentlichen Hinsichten. Was ich demgegenüber für richtig halte, kann ich am besten dadurch erläutern, daß ich den zitierten Positionen andere entgegensetze und zugleich mögliche Begründungen skizziere. Ich mache dabei allerdings eine folgenreiche Voraussetzung, die vielleicht nicht von jedermann geteilt wird: Theaterpädagogik ist ein Teil der ästhetischen Bildung. Ihr Beitrag zum Bildungsprozeß des Kindes und des Jugendlichen muß deshalb mindestens auch in der Eigenart des Ästhetischen begründet werden. Sie ist nicht etwas, das vielleicht ebenso gut auch durch andere Formen des Lernens oder Sich-Bildens ersetzt werden könnte. Sie hat eine
»eigenständige«
Problemstellung. Dies ist die erste und wesentliche didaktische Voraussetzung, die ich für das Folgende geltend machen möchte.
[083:5] In fünf knappen Thesen möchte ich diese Annahme erläutern und damit zugleich den beiden Eingangszitaten widersprechen:
  1. 1.
    [083:6] Die zitierten theaterpädagogischen Meinungen scheinen die Differenz zwischen dem ästhetischen Spiel und dem
    »Alltagsleben«
    einzuebnen oder zu verwischen. Um den
    »sinnlichen Dialog zwischen Menschen ... um Ich-Stärke, Liebesfähigkeit, Frustrationstoleranz, Ausdrucksfähigkeit und Solidarität lustvoll am anderen zu erfahren«
    , brauche ich nicht unbedingt das Theaterspiel; dafür gibt es andere, vielleicht sogar bessere geeignete Handlungsfelder. Deshalb möchte ich geltend machen (das ist in gewisser Weise eine Trivialität): Theater ist nicht das Leben; Theater ist eine Abstraktion des Lebens; und gerade diese Tatsache, die Erfahrung dieser Differenz, hat einen guten Bildungssinn.
  2. 2.
    [083:7] Die zitierten Positionen erwecken den Anschein, als solle es in der Theaterpädagogik in erster Linie oder gar ausschließlich darum gehen, Probleme der praktischen Lebensführung der Kinder und Jugendlichen unmittelbar lösen zu helfen, und als müsse deshalb das darstellende Spiel vorwiegend oder gar ausschließlich nach derartigen praktischen Gesichtspunkten beurteilt werden. Demgegenüber möchte ich geltend machen: Was im Spiel geschieht, muß ästhetisch bewertet werden.
  3. |b [2]|
  4. 3.
    [083:8] Es wird behauptet, daß der Pädagoge auf
    »pädagogische Kontrolle und Bewertung von ästhetischen Lernprozessen bei Kindern und Jugendlichen«
    verzichten solle. Eine solche Behauptung verkennt m. E. nicht nur die Natur des Ästhetischen, sondern auch die Natur von Bildungsprozessen. Bildungsprozesse sind keine allmähliche Entfaltung dessen, was im Kinde sozusagen immer schon vorhanden ist, sondern sind Prozesse, die durch Konfrontationen hindurchlaufen. Erziehung und Bildung beginnen nicht an einem kulturellen Nullpunkt. Der Pädagoge, sofern er überhaupt an der Kulturentwicklung teilhat, hat Qualitätsurteile. Diese Urteile muß er ins Spiel bringen; andernfalls würde er den Prozeß der Urteilsbildung an die gesellschaftlich erzeugten Jugendmoden, Subkulturen, Massenmedien u. ä. abgeben. Begründete Urteile wachsen nicht aus dem kindlichen oder jugendlichen Innenleben gleichsam zwanglos heraus, sondern bilden sich in der Konfrontation mit dem, was der Erwachsene für gut und richtig hält. Damit ist freilich nur das Prinzip benannt; auf welche Weise es im pädagogischen Prozeß zur Darstellung kommt, ist damit keineswegs vorentschieden. Schädlich für den Bildungsprozeß des Kindes und Jugendlichen ist nur, dieses Prinzip überhaupt zu leugnen. Daraus folgere ich die Gegenthese: Wer prinzipiell auf Bewertungen verzichten will, sollte sich von Kindern und Jugendlichen fernhalten.
  5. 4.
    [083:9] Wenn das Theater (das darstellende Spiel mit Kindern und Jugendlichen) eine Abstraktion aus dem Leben ist, dann kann man das auch so ausdrücken: Das Spiel ist die Codierung unseres Alltags oder unserer Alltagsprobleme auf einer anderen Ebene. Man muß sich also über das
    »Andere«
    dieser Ebene Klarheit verschaffen, wenn man den Bildungssinn des darstellenden Spiels ermitteln möchte. Die Einebnung, so als sei Theaterspielen nichts als eine kontinuierliche Verlängerung des Lebens, liquidiert die Bildungsbedeutung.
  6. 5.
    [083:10] Damit hängt zusammen, was insbesondere gelegentlich soziologisch interessierte Theaterpädagogen leicht vergessen: die
    »Rollen«
    , die der Soziologe, und die, welche der Regisseur meint, sind von je anderer Art. Freilich gibt es auch im Alltagsleben
    »Theatralisches«
    , aber gerade dies hebt sich aus dem Strom der Alltagspraxis dadurch heraus, daß es bewußt inszeniert ist. Bewußte Inszenierung hat etwas damit zu tun, daß wir, als Menschen und der Möglichkeit nach, immer sowohl
    »bei uns«
    als auch
    »außer uns«
    sind, bzw. sein können. Im Alltagshandel
    »sind«
    wir in gewisser Weise die
    »Rollen«
    , die wir
    »spielen«
    . Aber zugleich können wir auch der sein, der diese Rollen sieht, und der deshalb eine ironische Distanz zu den Rollen, die er (soziologisch gesehen) spielt, aufrecht erhält. Es existiert also eine Art
    »Grenze«
    zwischen zwei verschiedenen
    »Ichs«
    : die Grenze zwischen dem Ich, das ich im Leben, empirisch, bin und dem anderen Ich, das imstande ist, etwas darüber auszusagen, was
    »ich bin«
    . In der Rolle, die ein Jugendlicher im darstellenden Spiel spielt, ist diese Differenz das Thema. Theaterspielen von Jugendlichen hat es deshalb zu tun mit dem Verhältnis der beiden
    »Ebenen«
    zueinander, mit der Reflexion von
    »Ich«
    auf
    »mich«
    .
[083:11] Der Bildungssinn des Theaterspiels mit Jugendlichen muß also von beiden Seiten her bedacht werden: Wir müssen fragen, was das Spiel mit dem eigenen Körper und den eigenen Wörtern
»für mich«
bedeutet (kann ich das, was ich empirisch bin, so zur Darstellung bringen, daß andere es verstehen und ich mich dabei selbst nicht verfälsche?); und gelingt es mir, das, was
»ich bin«
, aus einer fremden |b [3]|Perspektive zu sehen, aus einer
»Rolle«
, die ich zwar nicht
»bin«
, die ich aber
»spielen kann«
?
[083:13] Von einer Theorie der Theaterpädagogik darf mit Recht erwartet werden, daß sie nicht nur allgemeine Prinzipien erläutert und begründet, sondern daß sie auch auf die Entwicklungsbewegung Bezug nimmt, in der sich Kinder und Jugendliche befinden.
[083:14] Ich formuliere dazu die folgende Hypothese: In der wissenschaftlichen Diskussion zu der Frage, wie sich in unserem Kulturkreis die Bildungsentwicklung des Kindes darstellt, scheint Einigkeit darüber zu bestehen, daß es mindestens drei markante Stadien oder Stufen dieser Entwicklung gibt. Hebt man an diesen drei Stadien dasjenige hervor, was theaterpädagogisch bedeutsam sein könnte, dann kann man sie in folgender Weise bestimmen: Das erste Stadium ist u. a. dadurch charakterisiert, daß in ihm Formen des symbolischen Austauschs zwischen dem Kind und seiner Umwelt die entwicklungstypische Form der Auseinandersetzung ist; im zweiten Stadium dominieren die Probleme des konkreten Rollenhandelns; im dritten Stadium endlich erwirbt das Kind – inzwischen zum Jugendlichen geworden – die Kompetenz einer formal distanzierten Interaktion. Ich möchte das skizzenhaft erläutern, für jedes der drei Stadien das zum jeweiligen Entwicklungsstand passende Problem der ästhetischen Bildung schlagwortartig benennen und schließlich auch diejenigen Gesichtspunkte vorschlagen, die für die pädagogisch-ästhetische Bewertung auf den Maßstab hinweisen, mit dem sowohl das Kind wie auch der Pädagoge sich auseinandersetzen muß.
  • 1. Stadium des symbolischen Austauschs
    [083:15] In diesem Stadium (genaue Altersangaben sind freilich nicht sinnvoll; aber wir können davon ausgehen, daß es bis in die Grundschulphase hineinreicht) setzt sich das Kind mit seiner Umwelt, mit Lebendigem und Unlebendigem, mit Dingen und Menschen vorwiegend identifikatorisch-nachahmend auseinander. Man könnte auch sagen: es
    »tauscht«
    die Gesten und Gebärden seiner Um- und Mitwelt; es ist noch nicht an
    »Rollen«
    interessiert; das Wichtigste ist ihm die
    »Verlebendigung«
    ; es weiß zwar, daß es nicht nur
    »Leib ist«
    , sondern auch einen
    »Körper hat«
    ; das heißt, es weiß sich durchaus abzugrenzen von dem, was es selbst nicht ist; aber es sucht die Ähnlichkeit alles Lebendigen. Diesem Entwicklungsstadium entspricht, zur Seite der ästhetischen Kompetenz hin, das Symbolspiel, in dem beliebige Objekte und Figuren als Symbole für das auftauchen können, was dem Kind im Hinblick auf seine eigene Lebendigkeit wichtig ist. Das pädagogische Bewertungskriterium, das hier ins Spiel kommt, betrifft die Intensität, die Echtheit der gestischen Nachahmung; eine solche kindliche Geste dürfen wir dann
    »schön«
    (angemessen, gelungen usw.) nennen, wenn erkennbar ist, daß diese Geste mit Erleben gefüllt ist, wenn gleichsam der Spieler mit dem nachgeahmten Objekt (beispielsweise ein Tier)
    »verschmilzt«
    .
  • 2. Das Stadium des konkreten Rollenhandelns
    [083:16] In diesem Stadium setzt sich das Kind mit den sozialen Typisierungen des Verhaltens zwischen den Menschen auseinander; diese Typik kommt ihm zum Bewußtsein; es lernt, die Handlungsfelder, in denen es sich bewegt, nach solchen Typisierungen zu
    »erkennen«
    ; es begreift die
    »Komplementarität«
    von Rollen; es kann sich auch in andere Rollen
    »hineinversetzen«
    , und zwar deshalb, weil es deren Passung versteht; es versteht auch, wie Handlungssequenzen bis hin zu dramatischen Situationen sich aus solchen Rollenverhältnissen ergeben können. Die ästhetische Kompetenz, die diesem |b [4]|Stadium entspricht, ist die Fähigkeit, so zu tun,
    »als ob«
    ; freilich spielt es immer noch
    »seine eigene Rolle«
    am besten; es kann sich von sich selbst, von dem, was es alltäglich ist, noch nicht wirklich distanzieren; aber es kann die Handlungsdramatik, die sich aus dem Zusammenspiel von Rollen ergibt, zur Darstellung bringen; die pädagogisch-ästhetische Bewertung muß deshalb darin ihr Kriterium suchen: in der Schlüssigkeit der Darstellung einer konventionellen Handlungsdramatik bzw. der Komplementarität von Handlungsstrukturen; in der
    »Schönheit«
    einer Interaktionslogik und darin, ob das Netzwerk von Beziehungen und Rollen wirklich verstanden worden ist.
  • 3. Stadium der formal distanzierten Interaktion
    [083:17] Distanzierung von konkret erlebten Interaktionen bedeutet, einen Punkt außerhalb dieser Interaktionswirklichkeit zu finden. Der Jugendliche (um dieses Alter geht es jetzt) sucht diesen gleichsam
    »exzentrischen Punkt«
    an zwei verschiedenen Stellen: er sucht diesen Punkt einerseits in sich selbst und andererseits in verallgemeinerbaren Prinzipien. Das Suchen nach dem Punkt
    »in sich selbst«
    bedeutet, daß nun die Frage aufgeworfen wird, wie sich denn eigentlich das
    »Ich«
    zu den Rollen, die dieses Ich spielt, verhält. Der Jugendliche beginnt zu begreifen, daß das, was er
    »scheint«
    , nicht identisch ist mit dem, was er
    »ist«
    ; daß es einen Unterschied gibt zwischen Wesen und Erscheinung; daß das
    »Sollen«
    nicht schon einfach und umstandslos aus dem
    »Sein«
    gefolgert werden kann; kurz: Er befaßt sich (theaterpädagogisch gesprochen) mit der Frage, was seine
    »Existenz«
    mit seinen
    »Inszenierungen«
    zu tun hat, ob das eine sich mit dem anderen verträgt, oder ob überhaupt erwartet werden darf, daß das eine mit dem anderen verträglich sei. Damit ist zur Seite der ästhetischen Kompetenz hin diejenige Bildungsstufe erreicht, in der
    »Theaterspiel«
    zum ästhetischen und anthropologischen Thema wird; jedes Theater ist eine Abstraktion, aber wovon? Jedes Theater ist eine Symbolisierung, aber wofür? Jedes soziale Zeichen (Gesten, Worte, Kleidung, Bewegung usw.) bekommt nun eine doppelte Bedeutung: diese Zeichen verweisen sowohl auf das, was
    »ich bin«
    , und sie verweisen auf das, was ich – der Möglichkeit nach – sein könnte oder sein will, und sie verweisen darüber hinaus auf den Zusammenhang sozialer Handlungen, die einerseits relative Eindeutigkeit signalisieren, von denen ich aber andererseits mit Gewißheit sagen kann, daß ich nicht der bin, als der ich erscheine. Aus dieser Problemlage ergibt sich als Bewertungskriterium für das Gelingen/Mißlingen: Gelingt es dem Jugendlichen, die
    »Künstlichkeit«
    dieser Art von Rollendistanz zur Darstellung zu bringen? Kann er die
    »Schönheit«
    dieses Spiels präsentieren? Ist seine Darstellung den ästhetisch-formalen Anforderungen, die in einem solchen Fall gestellt werden dürfen, gerecht geworden? Kann er ein
    »ironisches«
    Verhältnis zu
    »sich«
    und zur
    »Welt«
    in Szene setzen?
[083:19]
»Die Auffassung des Rollenspiels als Conditio Humana ist eine ironische von Grund auf, und das Theater ist die ursprüngliche Gestaltung der ironischen Weitsicht. Nicht nur hat alle Kunst einen ironischen Einschlag – das Theater thematisiert diese Ironie ..., in seiner Entwicklung hat es die ironische Spiegelung bis ins Unendliche vorwärts getrieben. Die Hinsicht auf den Sinnzusammenhang der menschlichen Interaktion ... sieht die Welt sub specie ironiae; die Bewußtheit des Betrachters selbst wird relativiert, sie wird zur (nie ganz vollziehbaren)
privileged awareness
. Die Distanzierung ist jedoch keine totale: wer die Welt ironisch durchschaut, wendet sich von ihr nicht mit Abscheu oder Verzweiflung ab, sondern mit Interesse zu«
.
(Uri Rapp: Handeln und |b [5]|Zuschauen, Darmstadt/Neuwied 1973, S. 2339)
[083:20] Ironie, so wie sie von Rapp in unausgesprochenem Rückgriff auf die ästhetische Theorie der Frühromantik, aber auch wohl mit Bezug auf Brecht, bestimmt wird – ist eine
»erwachsene«
Haltung. Sie ist eine Komponente derjenigen Form von Humanität, die als
»kritische«
seit der Aufklärung zur
»modernen«
Form unserer Kultur gehört. Der Jugendliche aber befindet sich immer noch auf dem Wege dorthin. Könnte er diese Haltung vollständig realisieren, wäre er nicht mehr jugendlich, sondern erwachsen.
[083:21] Schließlich noch ein weiterer Zusatz: Es könnte so scheinen, als wäre die Problematik, die für jedes der drei Stadien charakteristisch ist, mit dem Übergang in ein neues Stadium damit gleichsam erledigt. Das aber wäre, wie mir scheint, ein falsches Verständnis der Natur von Bildungsbewegungen. Vielmehr muß man sich das Verhältnis der verschiedenen Stadien zueinander so denken, daß die vorangegangenen in den nachfolgenden jeweils
»aufgehoben«
werden. Das bedeutet, daß – im Falle einer
»gesunden«
Entwicklung – jedes Stadium das vorangegangene nicht nur
»überwindet«
, sondern auch
»bewahrt«
. Sehr knapp veranschaulicht: Wenn
»Ironie«
ein kritisches Verhältnis zwischen dem reflektierenden
»Ich«
und dem, was
»ich bin«
, inszeniert, dann muß auch dieses
»ich bin«
wahrhaftig und verständlich sein, das heißt: ich muß noch mit den imitativen Gesten meines Körpers in Kontakt, ich muß noch mit den Formen des symbolischen Austauschs (der ersten Bildungsstufe) vertraut sein und sie als meiner Person zugehörig erleben und darstellen können. Die Stufe der
»Ironie«
darf also nur dann
»gebildet«
genannt werden, wenn in ihr die früheren Bildungsstadien nicht dem Vergessen oder dem Verdrängen anheimgefallen sind.
[083:22] Das alles sind freilich nur Andeutungen, die der weiteren Erläuterung und zumal der Begründung dringend bedürftig sind. Aus ihnen aber darf man vielleicht jetzt schon folgern:
[083:23] Der Blick- oder Fluchtpunkt der Theaterpädagogik ist nicht das professionelle Theater, der Profession des Schauspielers oder Regisseurs, sondern die Position eines reifen, gebildeten
»Ich«
, der kompetente und selbstkritische Teilnehmer an sozialen Inszenierungen des Alltags wie auch an Inszenierungen des professionellen Theaters (Publikum). Theaterpädagogik soll helfen, den jungen Menschen bei seiner Entwicklung zum kompetenten Teilnehmer und Kritiker seiner eigenen Sozialrolle zu bilden. Theaterpädagogen haben dabei ihren pädagogischen Kollegen etwas Wichtiges voraus: Sie sind mit dem Anspruch der großen Kulturproduktion vertraut, sie wissen (oder könnten doch zumindest wissen), worin der Bildungssinn eines ästhetischen Qualitätsurteils liegt; sie sind andererseits, in ihrer theaterpädagogischen Alltagspraxis den Kindern und Jugendlichen so konfrontiert, wie diese sich, auf dem Stand ihrer jeweiligen Ich-Entwicklung, präsentieren können – sie sind, in anderen Worten, den Problemen konfrontiert, die Kinder und Jugendliche mit sich, ihrem Leib und ihrer Rolle in der Welt haben. Aus genau dieser Differenz zwischen kulturellem Anspruch einerseits und dem Sein und Wollen der Kinder/Jugendlichen andererseits entfaltet sich gute Pädagogik.
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Literatur:

    [083:25] Goffman, E.: Wir alle spielen Theater, München 1976 (3. Aufl.).
    [083:26] Habermas, J.: Universalpragmatische Hinweise auf das System von Ich-Abgrenzungen, in: Seminar Kommunikation, Interaktion, Identität, hrsg. von M. Auwärter, E. Kirsch, K. Schröter, Frankfurt/M. 1976.
    [083:27] Mead, G. H.: Geist, Identität, Gesellschaft, Frankfurt/M. 1968.
    [083:28] Nitsch-Berg, H.: Kindliches Spiel zwischen Triebdynamik und Enkulturation, Stuttgart 1978.
    [083:29] Piaget, J.: Nachahmung, Spiel und Traum, Stuttgart 1970.
    [083:30] Piaget, J.: Einführung in die genetische Erkenntnistheorie, Frankfurt/M. 1973.
    [083:31] Pleßner, H.: Zwischen Philosophie und Gesellschaft, Bern 1953 (darin vor allem:
    »Die Deutung des mimischen Ausdrucks«
    , S. 132 ff. und
    »Zur Anthropologie des Schauspielers«
    , S. 180 ff.).
    [083:32] Rapp, U.: Handeln und Zuschauen, Darmstadt/Neuwied 1973.
    [083:33] Broich, J.: Spiel- und Theaterpädagogik. Systematischer Literaturnachweis und Beratungsdokumentation 1975–1981, Verlag für Pädagogische Dokumentation GmbH, Duisburg 1981.