„Es ist freilich mit dem
Erziehn eine eigene Sache. Ob ich Talent dazu habe, weiß ich
nicht; meine Schlobittensche Erfahrung reicht nicht hin die
Frage zu entscheiden, aber Erfahrung habe ich genug und mache
täglich mehr, und Lust auch und es ist mir wirklich bisweilen
bange danach, daß ich nichts zu erziehn habe. Wenn ich bei
Eichmann’s oder bei Sack’s bin, oder wenn ich der Herz ihre
jüngste Schwester und ein paar gute Freundinnen von ihr, gar
liebe gute Mädchen, alle von 17 Jahren, beisammen habe, so
erziehe ich immer ein wenig an ihnen, aber das ist alles, was
ich vor der Hand thun kann. Im Winter, habe ich versprochen,
will ich sie allerlei lehren. Es scheint mir die
unnachläßlichste Pflicht eines jeden Menschen zu sein, andre zu
erziehn, es mögen nun Alte sein oder Kinder, eigne oder fremde.
Ich habe dieser Pflicht noch lange nicht Genüge gethan, und da
ich nicht weiß, wie es in Zukunft werden wird, so thue ich sehr
wohl, wenn ich keine Gelegenheit vorbeigehn lasse. Manchmal will
ich mir einreden, wenn man Bücher schriebe, erzöge man auch an der Welt nach bestem Wissen; es ist aber
nicht wahr, es ist nur ein wunderliches Treiben ohne Leben, ohne
Anschauung, ohne Nuzen. Das Predigen ist wohl etwas mehr, aber
nach der gegenwärtigen Einrichtung doch auch wenig genug.“
1
1Aus Schleiermachers Leben.
In Briefen; hg. von L. Jonas und W. Dilthey, Bd. 1, Berlin 1858, 190.
[088:2] Schleiermacher
schreibt dies in Berlin 1798 an seine Schwester Charlotte, und es klingt merkwürdig genug. In mir
jedenfalls erzeugt es eine Art spontaner Antipathie, wenn ich lese:
„es ist mir bisweilen bange danach, daß ich nichts zu
erziehn habe“
, oder wenn es über die beiden Mädchen heißt:
„ich erziehe immer ein wenig an ihnen“
. Das tönt in
unseren Ohren recht merkwürdig, etwa nach jener pädagogischen
Geschäftigkeit, die sich seit 1885 in dem 16bändigen
„Revisionswerk“
des |b 194|Johann Heinrich Campe darstellte2
2J. H. Campe (Hg.): Allgemeine Revision des gesamten Schul- und
Erziehungswesens von einer Gesellschaft praktischer Erzieher, Berlin 1885 ff.
, so als sei die gezielte und planmäßige, an
Vernunftgründen orientierte und auf die bürgerliche Brauchbarkeit gerichtete
Erziehungsanstrengung die wichtigste Aufgabe der Nation. Und nun, so scheint
es, stimmt Schleiermacher in
diesen vielstimmigen Chor ein, drängt sich gleichsam nach dieser
„Pflicht“
, meint, daß Bücherschreiben ohne Nutzen,
„Predigen wohl etwas mehr, aber nach der
gegenwärtigen Einrichtung doch auch wenig genug“
sei. Schleiermacher,
der sonst in seinen Briefen so sorgfältig formuliert, so empathisch gerade auf alle Nuancen in menschlichen
Beziehungen sich einläßt und, wie er später sagt, eine
„divinatorische“
– also erratende und erahnende – Haltung dem Kinde
gegenüber für unerläßlich hält, beklagt sich, er habe
„nichts zu erziehen“
oder er
„erziehe (an anderen) immer ein wenig“
herum. Immerhin war er seit
einem knappen Jahr mit Friedrich Schlegel befreundet und
lebte seit sieben Monaten mit ihm zusammen in einer Wohnung. Schlegel, hätte er diese
Formulierungen gekannt, würde sich vermutlich entrüstet haben; diese
Direktheit der Absicht, dieser unverstellte Wunsch nach empirischer
Einwirkung auf die junge Generation wäre ihm unromantisch, unironisch
vorgekommen, wie eine plumpe Äußerung, ein ganz und gar unpoetisches
Begehren nach bürgerlicher Vaterschaft. Glücklicherweise kannte er die
Briefstelle nicht, und die einerseits innige, andererseits von Anfang an
problematische Freundschaft durfte noch ein paar Jahre dauern.
[088:3] Indessen enthält das Briefzitat doch auch noch einen anderen Ton,
wenngleich nur andeutungsweise:
„Im
Winter, habe ich versprochen, will ich sie allerlei lehren.“
Liest man diese Stelle in der Stimmung des Briefes, dann könnte es sowohl
bestimmte Absicht als auch zögernde Frage bedeuten: welches Allerlei?
Nachdem der Winter vorbei ist, notiert er in einem Brief, wiederum an seine
Schwester:
„Eigentlich glaube ich, daß ich von den Menschen
ziemlich viel weiß ... aber in dem, was man Welt nennt ... da bin
ich ein grausamer Stümper ... Ich möchte wohl einmal etwas
schreiben, wo das Alles drin wäre; aber das ist auf |b 195|viele Jahre hinaus.“
3
3Briefe, a.a.O.(Anm.
1), 226.
Viele Jahre hinaus – das waren ungefähr 15, bis nämlich Schleiermacher im
Wintersemester 1814/15 seine erste Vorlesung über Pädagogik hielt, und da
wird dann auch alles recht ordentlich ins System gebracht, noch besser in
der Wiederholung vom Wintersemester 1820/21, am besten und ausführlichsten
1826. Aber das interessiert mich hier nicht so sehr; es ist zudem
umständlich und ausführlich in der kompetenten Schleiermacher-Literatur gewürdigt worden.
Mich interessieren eher die unordentlichen Teile aus der Zeit davor, und ich
habe die Vermutung, daß sie uns besonders nahe stehen könnten. Die
Romantik-Renaissance, die sich gegenwärtig über Fachgrenzen hinaus andeutet,
nehme ich als Zeichen und konzentriere mich deshalb auf diejenigen Themen
und Problemstellungen Schleiermachers, die dem frühromantischen Formkreis zuzurechnen
sind.
1.Fragmente
[088:4] Als Schlegel und
Schleiermacher – Schleiermacher vermerkt mit
Vergnügen und als sei es ein gutes Omen, daß sie beide denselben Vornamen
haben – in Berlin 1797 ihre Freundschaft begannen, da drängt der Freund,
Schleiermacher solle sich
doch mit eigenen Einfällen an der geplanten Zeitschrift
„Athenäum“
beteiligen. Schleiermacher zögert noch und beklagt sich, daß Schlegel ihm
„einen kleinen Possen“
spiele, und die befreundeten Frauen Henriette Hertz und Dorothea
Veit
„aufhetzte, in choro in seinen alten Wunsch einzustimmen, daß ich nämlich nun auch ... Bücher schreiben sollte. 29 Jahr und noch nichts
gemacht, damit konnte er gar nicht aufhören, und ich mußte ihm
wirklich feierlich die Hand darauf geben, daß ich noch in diesem
Jahr etwas eigenes schreiben wollte – ein Versprechen, was mich
schwer drückt, weil ich zur Schriftstellerei
gar keine Neigung habe“
4
4A.a.O., 173.
. Aber er hält das
Versprechen: Die unter dem Namen
„Athenäum-Fragmente“
bekannte
Sammlung von Bonmots, polemisch-ironischen Skizzen, philosophischen und
ästhetischen Einfällen – oder wie immer man diese romantische |b 196|Kuriositäten-Sammlung charakterisieren will –, diese Sammlung erschien zwar ohne Nennung der Namen der beteiligten Autoren, aber wir wissen, der Philologie sei Dank, daß nicht nur Schlegel, sein Bruder August Wilhelm und Novalis, sondern
auch Schleiermacher zu den
Verfassern zu zählen ist. Das Rätsel, das er seiner Schwester aufgab,
nämlich die aus seiner Feder stammenden Aphorismen und Fragmente
herauszufinden, ist gelöst: vielleicht 30 der Fragmente hat Schleiermacher geschrieben5
5Ich folge hier der
Textidentifizierung von H. Eichner in: Friedrich Schlegel, Charakteristiken und Kritiken 1 (1796–1801), Kritische Friedrich-Schlegel-Ausgabe, hg. von E. Behler, Bd. 2, München/Paderborn/Wien 1967, 165 ff. (im folgenden zitiert als
„Fragmente“
).
. Die Identifizierung ist im größten Teil der Fälle nicht schwierig:
Schleiermacher, so
scheint mir, teilt die Meinung des Erzählers in Thomas Bernhards
„Untergeher“
:
[088:5]
„... ichschreibe Aphorismen, hat er immer
wieder gesagt, dachte ich, das ist eine minderwertige Kunst
der geistigen Kurzatmigkeit, von welcher gewisse Leute vor
allem in Frankreich gelebt haben und leben ..., sogenannte
Halbphilosophen für den Krankenschwesternnachttisch, ich
könnte auch sagen, Kalenderphilosophen für alle und jeden,
deren Sprüche wir mit der Zeit von allen ärztlichen
Wartezimmerwänden herunterlesen; die sogenannten negativen
sind, wie die sogenannten positiven, gleich widerwärtig.
Aber ich habe mir dieses Aphorismenschreiben nicht
abgewöhnen können, schließlich muß ich fürchten, daß es
schon Millionen sind, die ich aufgeschrieben habe, sagte er, dachte ich, und ich
tue gut daran, an ihre Vernichtung zu gehen, denn ich habe nicht die Absicht, daß eines Tages die
Krankenzimmer und Pfarrhauswände damit tapeziert werden wie
mit Goethe, Lichtenberg und Genossen, sagte er, dachte ich.
Da ich zum Philosophen nicht geboren bin, habe ich mich, nicht ganz
unbewußt, muß ich sagen, zum Aphoristiker gemacht, zu einem
dieser widerwärtigen Philosophiepartizipanten, die es zu
Tausenden gibt, sagte er, dachte ich.“
6
6Th. Bernhard:
Der Untergeher, Frankfurt/M. 1983, 94.
[088:6] Schleiermacher
konnte offensichtlich auf diese Form nur mit Mühe sich einlassen. Sein
Problem war, eine passable Mitte zu halten zwischen dem pointierten Einfall
und dem diskursiven Faden einer nachdenkenswerten Argumentation. Aber
dennoch ist, daß er sich darauf einließ, ein
wichtiges Zeichen. Dilthey hatte, in seiner Schleiermacher-Biographie, Schwierigkeiten, |b 197|sich darauf einzustellen; ihm schienen dies nur Vorboten zu
sein, die das kommende
„Lebensideal“
nur andeuten. Aber
die Zuspitzungen und der Witz dieser Fragmente drücken eine Lebenssicht aus,
deren Sinn verlorengeht, wenn sie nur vom historisch Folgenden her
interpretiert wird. Diltheys
Blick war historisch befangen – wie freilich auch der meine. Es sind eben
verschiedene Rückblicke, die verschiedene Akzente
möglich machen – eine hermeneutische Trivialität. Schleiermacher also, trotz seines Zögerns,
entschließt sich zur Beteiligung. Zum Beispiel in dieser Form:
[088:7]
„Der Zyniker dürfte eigentlich gar keine
Sachen haben: denn alle Sachen, die ein Mensch hat, haben
ihn doch in gewissem Sinne wieder“
;
[088:7]
„Der Zyniker dürfte eigentlich gar keine
Sachen haben: denn alle Sachen, die ein Mensch hat, haben
ihn doch in gewissem Sinne wieder“
;
[088:8] das schrieb noch Friedrich
Schlegel, und Schleiermacher
setzt den Gedanken fort:
[088:9]
„Es kömmt also nur darauf an, die Sachen so
zu haben, als ob man sie nicht hätte “
;
[088:10] bis hierher ist es einer jener aphoristischen Gemeinplätze, die
von Bernhards Kritik
vielleicht zu Recht getroffen werden. Aber Schleiermacher setzt dann noch, das
Verbrauchte dieser Quasi-Pointe offenbar bemerkend, abschließend hinzu:
[088:11]
„Noch künstlicher und noch zynischer ist es
aber, die Sachen so nicht zu haben, als ob man sie hätte.“
7
7Fragment Nr. 35,
S.
171.
[088:12] Damit kommt ein soziologischer Sinn in den Aphorismus hinein. Denn
tatsächlich hatten jene, die sich um 1800 um die Formulierung einer neuen,
der bürgerlichen Revolution adäquaten Bildungstheorie bemühten, in der
größten Zahl der Fälle nichts, was man im Sinne von
„Sachen“
hätte haben können. Sie
„reproduzierten“
sich, wie es in modernem Jargon heißt, durch Kopfarbeit, jedenfalls aber
nicht oder kaum durch Vermögen. Insofern waren sie schon wie unsereins: Sielebten von Gehältern und Honoraren. Eine derartige Situation macht
dann auch nachdenklich im Hinblick auf die Existenzbedingungen des Denkens
und im Hinblick auf die
„empirische“
Reichweite einer
pädagogischen Theorie, sowie auf die Frage, ob in |b 198|Sachen der Erziehung durch
„spekulatives“
Vorgehen
wirklich das
„Allgemeine“
erreicht werde8
8Vgl. dazu
Schleiermachers
einschlägige Unterscheidungen in seinen Pädagogik-Vorlesungen von
1813/14 und 1826, in: E. Weniger/Th.
Schulze (Hg.): Friedrich Schleiermacher, Pädagogische Schriften, Bd.
1, 7 ff. und 371 ff.Zur Interpretation vgl. H. Weil: Die Entstehung des deutschen Bildungsprinzips, Bonn
1930.
.
[088:13] Diese Leute, das muß man sich vor Augen halten, gehörten weder zum
grundbesitzenden Adel (von einigen Ausnahmen abgesehen), sie waren keine
Kaufleute oder Kaufmannssöhne, sie waren nicht die Erben einer gut
ausgestatteten Werkstatt, sie konnten größtenteils auf nichts als auf die
Güte ihres Denkens bauen. Aber dieses Denken sollte doch das Ganze des
Lebens umgreifen:
„Die Sachen nicht haben“
, aber doch
darüber denken,
„als ob man sie hätte“
. Bildung ist, für
solche, die nichts außer einem dafür ausgesetzten öffentlichen Salär haben,
eine Existenzgrundlage. 1813 dann, in Schleiermachers erster pädagogischer
Vorlesung, ist die Skizze eines der demokratischen Leistungsgesellschaft
angemessenen Bildungssystems enthalten, mit all den Kontroversen, die uns heute noch beschäftigen9
9Vgl.
besonders S. 377 ff. in Weniger/Schulze, a.a.O.; dort
allerdings erst in der Form allgemeiner Prinzipien.
: eine
Bildungstheorie für Lohnempfänger.
[088:14] Aber hier, in den Athenäumsfragmenten, sind wir noch beim Kern der
Sache, bei der Frage, was denn
„Bildung“
genannt werden
darf, ehe dies seine Folgen in Schulen und anderen pädagogischen
Einrichtungen hervorbringt. Z. B. bei folgendem Problem:
[088:15]
„Hast du je den ganzen
Umfang eines andern mit allen seinen Unebenheiten berühren
können, ohne ihm Schmerzen zu machen? Ihr braucht beide
keinen weitern Beweis zu führen, daß ihr gebildete Menschen seid.“
10
10Fragment Nr.
351, S. 227.
[088:16] Ich hoffe nicht zu übertreiben, wenn ich sage, daß dieser Gedanke einen in eine Kaskade von pädagogischen Selbstreflexionen stürzen kann. Das ist romantische Ironie11
11Zur romantischen Ironie und
ihrer Bedeutung für die Form von Bildungsproblemen vgl. W. Benjamin: Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen |b 199|Romantik, in: Schriften,
Bd. 2, Frankfurt/M. 1955, und P. Szondi: Satz und Gegensatz, Frankfurt/M. 1964, 5 ff.
, auf pädagogische Sachverhalte bezogen.
Wenn es noch eines Beweises |b 199|dafür bedürfte, daß lange vor dem amerikanischen Sozialphilosophen
G. H. MeadSchleiermacher es war, der
den Grund aller Erziehungsprobleme in den Verhältnissen der menschlichen
Beziehungen (
„Interaktionen“
) suchte, dann kann man ihn
in diesen beiden Sätzen finden. Wie in einer Nußschale enthalten sie die
Problemstellung, die uns bis in die aktuellen therapeutischen Projekte
hinein beschäftigt. Das war ein zukunftsfähiger Gedanke, und er war zudem
damals neu; das 17. Jahrhundert, ja noch Rousseau, hätte ihn so nicht denken
können. Warum fasziniert er mich, jenseits der akademisch-historischen
Diskurse, die mir dabei in den Sinn kommen, und über die Distanz von 185
Jahren hinweg?
[088:17] Der Erzähler Thomas Bernhards hätte gewiß auch diesen Aphorismus degoutant gefunden;
aber ich lasse mich dennoch auf ihn ein, und zwar deshalb, weil er eine
zugleich dialogische und selbstreflexive Bewegung einfädelt:
„Ihr braucht beide keinen weiteren Beweis
zu führen“
– das heißt doch soviel wie, daß der Beweis bereits im
ersten Satz, bzw. in seinem Verständnis liegt. Verständnis dieses ersten Satzes
aber ist nur möglich, wenn man ihn als Zeichen für eine prinzipiell
jedermann zugängliche Erfahrung nimmt; die ganz und gar unwissenschaftliche,
auf der Grenze zwischen kontrollierter Alltagssprache und Irrationalität
angesiedelte Terminologie macht das unmißverständlich deutlich:
„Umfang eines anderen“
,
„Unebenheiten“
,
„berühren“
,
„Schmerzen machen“
; die Anrede des Lesers mit
„du“
; die rasche und wie selbstverständliche Einbeziehung des
dialogisch-anderen
„Du“
in
„ihr ...
beide“
12
12Vgl. zu den
„Redeformen“
Schleiermachers in den
Äthenäums-Fragmenten J.
Hoffmann-Axthelm:
„Geisterfamilie“
. Studien zur
Geselligkeit der Frühromantik, Diss. Berlin 1970, 126 ff.
. Man muß dieses Fragment, spätestens beim
zweiten Lesen, auf eigene Erfahrung beziehen, um überhaupt zu verstehen. Und
man muß (dies ist ein interaktionslogisches
„Müssen“
),
wenn man diese eigene Erfahrung revidiert, die Aporie nachvollziehen, die
sich ergibt, wenn wir einerseits beanspruchen, der Individualität des je
anderen gerecht zu werden, sie zu respektieren, und andererseits den Dialog
zwischen uns als Individualitäten wollen, den Dia|b 200|log, der notwendig Allgemeines enthält und also, soll er Dialog bleiben,
die
„Unebenheiten“
der Eigentümlichkeit des anderen
„berühren“
muß. Dieses
„Berühren“
bereitet aber ebenso unausweichlich
„Schmerzen“
. Wie also sollen, wie können Menschen,
sofern sie sich als Individualitäten, und sei es als sich entwickelnde,
respektieren, miteinander in geselligen Verkehr
treten, ohne sich, durch wechselseitige Beschränkung, in der Ausbildung
ihrer Eigentümlichkeit zu schaden? Für jeden auch
nur halbwegs sensiblen,
„gebildeten“
Pädagogen ist das
ein schwieriges Problem, um so mehr, je älter das Kind wird. Und es wird so
auch gut verständlich, warum Schleiermacher in seinen späteren Vorlesungen über Pädagogik mit
großer Umständlichkeit die Frage behandelt, welche
„Einwirkungen“
oder
„Gegenwirkungen“
auf Kinder eigentlich legitim seien13
13Pädagogische Schriften, a.a.O.(Anm. 8), 78 ff. und 380 ff.
. Für die Klage Schleiermachers in jenem
eingangs zitierten Brief vom August 1798,
„daß ich nichts zu
erziehen habe“
, ergibt sich nun vielleicht eine andere Lesart als
die, die mir spontan und zunächst in den Sinn kam, denn: Brief und Fragment sind fast gleichzeitig
niedergeschrieben.
[088:18] Um Schleiermachers
Erziehungstheorie recht zu verstehen, bedarf es also (mindestens), diesen
Gedanken samt seinen praktischen Folgen nachzu vollziehen.
„Daß ich nichts
zu erziehen habe“
meint nicht die Klage darüber, kein
„Macher“
sein
zu können, meint nicht das Motiv, Kinder in gewünschte Form zu bringen. Es
meint das
„Begehren“
nach einer Erfahrung14
14Dieser Ausdruck scheint mir
hier angebracht in dem Sinne, in dem Lacan
„le désir“
(Wunsch oder Begehren) von
Bedürfnissen oder von Wollen unterscheidet. Vgl. J. Lacan: Schriften 1, hg. von N. Haas, Frankfurt/M. 1975, 210 ff.; ferner M. Frank: Das individuelle Allgemeine. Textstrukturierung und
-interpretation nach Schleiermacher, Frankfurt/M. 1979, 61 ff.
, nämlich: wie denn,
unter Beachtung jener Reflexionsmaxime, Erziehung möglich sei, wenn doch,
geläufigerweise, alle Erziehung als eine gelegentlich recht empfindliche
Form des
„Berührens“
anderer, hier besonders Schwächerer
und wohl auch Verletzlicherer, verstanden wird. Dieser von Schleiermacher gesuchte Typus
von Erfahrung liegt zwischen der Empirie und den
Geboten der Sittlichkeit. Ihm ist
„jene praktische Philosophie der Franzosen und
Engländer, von denen man meint, sie |b 201|wüßten
so gut, was der Mensch sei“
, ebenso fraglich wie jene der anderer,
„die mit dem Sollen anfangen und endigen“
und über diesem Problem
„die Erde selbst verloren“
haben;
„um zu sagen, was der Mensch soll, muß man einer
sein, und es nebenbei auch wissen“
15
15Fragment Nr. 355, S.
228.
.
[088:19] Derartige Formulierungen sind weniger trivial, als es scheint. Die
empirische Frage nämlich, was der Mensch sei und sein solle, läßt sich gar
nicht anders beantworten als dadurch – so Schleiermachers Meinung –, daß man sich in
die historisch gegebenen und gewordenen Beziehungen und Verhältnisse
versetzt, in denen er lebt. Das
„Erziehen“
ist ein Teil
davon. Zwischen der empirischen Frage nach dem, was der Mensch ist, und der
praktisch-ethischen nach dem, was er soll, gibt es ein Zwischenfeld: die tägliche, vor allem die pädagogische, Lebenspraxis – diese aber
ist voller Symbole.
„Nebenbei auch wissen“
, was einer sei, das heißt, die Zeichen dieser
Lebenspraxis gelesen und verstanden haben. Von
welcher Art also darf die
„Berührung“
zwischen Älteren
und jüngeren sein, damit es einerseits zu diesem Wissen kommen kann,
andererseits aber der Schmerz, den jedes Hineinregieren in das Innere des
anderen bedeutet, minimiert wird?
[088:20] Wie man sich so etwas denken könnte, dafür gibt es in Schleiermachers
Athenäumsfragmenten Hinweise. Z. B. diesen:
[088:21]
„Echtes Wohlwollen geht
auf Beförderung fremder Freiheit, nicht auf Gewährung
tierischer Genüsse.“
16
16Fragment Nr. 86, S.
178.
[088:22] Von Gesprächspartnern, die man uns empfiehlt, heißt es:
[088:23]
„daß wir uns nach Wohlwollen und Ironie bei
dem gerühmten Manne umsehn, und daß er uns verhaßt wird, wenn wir nicht beides
antreffen ... und wenn er nicht Wohlwollen besitzt, um mit Bewußtsein
und Freiheit in die Absichten andrer hineinzugehen, oder wenn es ihm an der Ironie fehlt, ... so ist es natürlich, daß wir die Stelle, die er
in unserm Kreise einnimmt, von einem andern besetzt wünschen“
.17
17Fragment Nr.
362, S. 230 f..
|b 202|
[088:24] Zur Vermeidung von naheliegenden Mißverständnissen ist vielleicht
wenigstens eine Andeutung im Hinblick auf das nötig, was hier
„Ironie“
heißt: beispielsweise, mit Bezug auf den
vorliegenden Fall,
„absichtlich sich aus seiner
Klugheit herauszusetzen und sich mit Entsagung auf dieselbe als ein Naturwesen der Gesellschaft zum beliebigen Gebrauch
hinzugeben“
18
18
Ebd.
; vgl. auch Anm. 11.
. Ironie ist also nicht etwa eine Haltung und die ihr zugehörige
Redeform, die einen anderen herabsetzt, sondern eine Form der Rede, die die Fertigkeiten meiner selbst in die Schwebe bringt, und zwar bis zur
„Entsagung auf dieselbe(n)“
.
Nun sieht man, wie
„Wohlwollen“
, das auf
„Beförderung fremder Freiheit“
geht, mit Ironie, wie diese Opposition mit Empfänglichkeit und Tätigkeit, mit Abhängigkeit und Freiheit
zusammenhängt, und wie das Ganze sich zur
„Gewährung tierischer Genüsse“
verhält – nämlich
so:
[088:25] Die pure
„Gewährung“
ist eigentlich menschenverachtend, auf keinen Fall
aber
„wohlwollend“
, und zwar aus zwei Gründen: Einerseits
gebe es – so sagt Schleiermacher später in den Pädagogikvorlesungen – keinerlei
empirisch zuverlässigen Grund anzunehmen, daß irgendwann, ja nicht einmal in dem vorgeburtlichen Stadium des Menschen, die
organisch-körperlichen von den
„intellektuellen“
Eigenschaften gesondert werden könnten. Solange also
dies nicht empirisch zuverlässig möglich ist, sind wir verpflichtet, in
allem Menschlich-Organischen auch das
„Intellektuelle“
wenigstens als Möglichkeit zu unterstellen19
19Vorlesung von 1813/14, Weniger/Schulze a.a.O. (Anm. 8), S. 373 u. 389.
. Deshalb ist
„Gewährung
tierischer Genüsse“
, wenn diese überhaupt den Namen
„Wohlwollen“
verdienen könnte, höchstens das Wohlwollen gegenüber
einer Abstraktion, Wohlwollen gegenüber einem damals gerade im Entstehen
befindlichen Konstrukt der Medizin. Darin liegt indessen – auch dieses
Mißverständnis gilt es abzuwehren – nichts weniger als eine Abwertung von
Körperlichkeit, von Sinnlichkeit, wie beispielsweise aus den Metaphern der
Reden
„Über die Religion“
hervorgeht. Nein, es sind keine
Metaphern, denn es heißt, daß der
„erste geheimnisvolle Augenblick, der bei jeder
sinnlichen Wahrnehmung vorkommt, ehe noch Anschauung und Gefühl sich
trennen, wo der Sinn und sein Gegenstand
gleichsam inein|b 203|andergeflossen und eins
geworden sind“
– daß dieser Augenblick nicht
„wie“
eine
„bräutliche Umarmung“
sei, sondern:
„er ist dieses selbst“
20
20Fr. Schleiermacher: Über die
Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren
Verächtern, 1. Aufl. 1799, hg. v. R. Otto, Göttingen
⁶1967 (Zit. mit den am unteren Rand angegebenen
Seitenzahlen der Urausgabe), S. 73
f.
. In dieser Hinsicht dürfen wir uns nicht
zergliedern.
„Wer dürfte
sich selbst zerlegen, wie das Objekt einer anatomischen
Vorlesung ... und auch das Feinste und Zarteste mit Worten
gleichsam aussprützen, daß es zur Ungestaltheit ausgedehnt
wird. Das innere Leben verschwindet unter dieser Behandlung“
.21
21Fragment Nr.
336, S. 223
f.
Das ist kein Redeverbot, sondern es zeigt nur auf die Grenzen
zwischen
„Sagbarem und Unsagbarem“
(M. Frank),
darauf, daß das Unsagbare die Referenz des Sagbaren sei, darauf, daß die
szientistischen Abstraktionen, unsere Konstrukte von
„Körper“
und
„Geist“
, von
„Emotion“
und
„Kognition“
, von
„Trieb“
und
„Über-Ich“
, von
„Basis“
und
„Überbau“
zwar begriffliche
Hilfsmittel sein mögen, aber immer mit dem Risiko, dabei die möglichen
Erfahrungen innerhalb unserer
„Lebenswelt“
zu verfehlen –
besonders diejenigen elementaren Erfahrungen, denen die Erziehung nicht
ausweichen darf, die aber dem wissenschaftlichen Reden nur begrenzt
zugänglich sind.
[088:26] Die Gewährung von nichts als
„tierischem Genuß“
ist deshalb menschenverachtend, weil sie, als Abstraktion, nur
Empfänglichkeit bzw. Abhängigkeit zum Thema macht, nicht aber Spontaneität
bzw. Freiheit. Deshalb darf
„Wohlwollen“
nur eine Haltung genannt werden, die der
Individualität des anderen Raum gibt, also seine Spontaneität, seine Tätigkeit, seine
„Freiheit“
befördert. Das ist vernünftig, weil, im
geselligen Verkehr und besonders in allen
pädagogischen Verhältnissen, Empfänglichkeit immer schon vorausgesetzt
werden kann. Also kommt alles darauf an, daß die Tätigkeit des je anderen
befördert wird.
[088:27] Was kann man dazu tun? Dafür ist hilfreich
„Ironie“
, sofern sie Ironie gegen sich selbst ist. Sie sichert nämlich zweierlei: sie
schützt, der Einklammerung des eigenen Zugriffs auf den anderen wegen,
diesen anderen davor, in eine Situation überwiegender Empfänglichkeit
hineingenötigt zu werden, und sie schützt |b 204|sich
selbst davor, für Freiheit zu halten, was nichts als individuelle
„Manier“
ist.
„Wohlwollen“
und Ironie befördern also nicht nur die
Freiheit des anderen, sondern auch meine eigene. Damit ist freilich ein
prekäres Verhältnis postuliert; und da Schleiermacher immer wieder Vergleiche aus
der Erfahrung der Liebe zwischen Mann und Frau heranzieht, um die ihm
wichtigsten Problemstellungen zu erläutern, zitiere ich noch dieses
Fragment, in dem das Gegenbild erscheint:
[088:28]
„Was oft Liebe genannt wird, ist nur eine eigene Art von Magnetismus. Es fängt an mit einem
beschwerlich kitzelnden en
rapport Setzen, besteht in einer
Desorganisation und endigt mit einem ekelhaften Hellsehen
und viel Ermattung. Gewöhnlich ist auch einer dabei nüchtern.“
22
22Fragment Nr. 340, S. 226.
2.Geselligkeit
[088:29] Die Haltung des Nüchternen in dieser Relation signifiziert weder
Wohlwollen, noch Zynismus, noch Ironie. Sie ist, in Schleiermachers Worten,
„taktlos“
, was soviel heißt wie: im geselligen
Verkehr gleichgültig sein gegenüber den Balancierungen zwischen
Empfänglichkeit und Tätigkeit, Gemeinschaftlichkeit und Eigentümlichkeit.
Wer diese Balancen halten kann, ist gebildet. Erziehung ist die
Hervorbringung dieser Kompetenz im Medium des geselligen Verkehrs zwischen
den Generationen.
[088:30] Friedrich Schlegel
schrieb in den Athenäumsfragmenten:
„Geist ist innre Geselligkeit.“
23
23
Fragment Nr. 339, S.
225.
Das enthält einen Hinweis sowohl auf die Struktur als auch auf die
Genese der Bildung. Vom anderen Friedrich hätte dieser Satz naturgemäß auch stammen können. Das
erhellt, wenn man dessen wenig später entstandenen
„Versuch einer Theorie des
geselligen Betragens“
studiert, in welchem jenem Satz Schlegels gleichsam nachgeforscht wird, und
zwar im Hinblick auf die Bedingungen, die die Bildung jenes
„Geistes“
als
„innerer Geselligkeit“
ermöglichen könnten24
24Dazu W. Hinrichs: Schleiermachers Theorie der Geselligkeit und ihre |b 205|Bedeutung für die
Pädagogik, Weinheim 1965; ferner J.
Hoffmann-Axthelm: a.a.O. (Anm.
12).
. Dieser Essay Schleiermachers repräsentiert eine in
Begrif|b 205|fe gefaßte, ganz eigentümlich romantische Erfahrung: die Erfahrung der
Nachmittags- und Abendparties (um mich modisch auszudrücken) in Halle und Berlin in den Häusern
wohlhabender Freunde, wo lockere Formen der Welt- und Selbstbetrachtung
ausprobiert wurden, wo man sich von den zweckrationalen Handlungszumutungen
des bürgerlichen Lebens freistellen konnte, wo deshalb – wenigstens in
dieser zeitlichen und räumlichen Enklave – ein Konzept von Bildung als
Wechselwirkung zwischen ebenso empfänglichen wie tätigen Individuen –
„durch den freien Umgang vernünftiger sich
untereinander bildender Individuen“
25
25Versuch einer Theorie des geselligen
Betragens, in: Schleiermacher, Werke in Auswahl, hg. von O. Braun, Bd. II, Leipzig ²1927 (Nachdruck 1967), S.
4.
– plausibel schien. Dabei bekommen freilich Beruf und Familie ihre
Hiebe ab:
„Der Beruf bannt die Tätigkeit des Geistes in einen
engen Kreis“
und bringt
„Einseitigkeit und Beschränkung hervor“
(versetzt man sich in die gleichzeitig verfaßten Lebensbeschreibungen
von Handwerkern hinein, kann man, aus deren Perspektive, sagen: Der Prediger
hat gut reden!). Desgleichen werden durch das
„häusliche Leben“
Beschränkungen auferlegt; mit deutlichem Hinweis auf die damals noch
gängige christliche Hausväterliteratur und die moralischen Wochenschriften,
wenngleich implizit, sagt Schleiermacher,
„das häusliche Leben setzt uns nur mit
Wenigen, und immer mit denselben in Berührung: auch die
höchsten Forderungen der Sittlichkeit in diesem Kreisewerden einem aufmerksamen Gemüt bald geläufig“
, die intellektuelle Ausbeute wird
„mit jedem Tage ... geringer“
, kurz: das Bildungsmilieu um so dürftiger, je älter der junge Mensch werde26
26
A.a.O., 3
.
. Es bedürfe deshalb eines geselligen Zustandes, der diese
Beschränktheit ergänzt.
[088:31] In diesem geselligen Zustand, dieser bildenden Sozialform, waren
Redeformen erlaubt, die im Beruf unnütz schienen, weil dem gewünschten Zweck
technisch nicht angemessen, in der Familie
schädlich, weil für ihre
„sittliche Ökonomie“
bedrohlich,
in der Wissenschaft unwillkommen, weil einer diskursiven Argumentation nicht unbedingt zuträglich.
„Riskante Konjek|b 206|turen“
könnte man die
rhetorischen Figuren nennen, die im Medium der Geselligkeit als angemessen
erschienen, ihren
„sittlichen Zweck“
beförderten. Dieser wird so bestimmt, daß
[088:32]
„die Sphäre eines Individui ... von den
Sphären Anderer so mannigfaltig als möglich durchschnitten
werde, und jeder seiner eigenen Grenzpunkte ihm die Aussicht
in eine andere und fremde Welt gewähre, so daß alle
Erscheinungen der Menschheit ihm nach und nach bekannt, und
auch die fremdesten Gemüter und Verhältnisse ihm befreundet
und gleichsam nachbarlich werden können“
27
27A.a.O., 3 f.
.
[088:33] Dies ist die These, die nun, im Verlauf des Essays, instrumentiert wird, d. h. es werden die Instrumente und die Regeln ihrer spielerischen
Verwendung (man darf dies ruhig als eine musikalische Metapher verstehen)
erläutert: eine der ersten begrifflich ausgearbeiteten
„Interaktionsanalysen“
, wie wir heute sagen würden, die es in der
pädagogischen und bildungstheoretischen Literatur gibt. Und überdies liest
sich der Text wie eine beispielhafte Erläuterung der anthropologischen
These, die Helmut
Pleßner 1928 vortrug, nämlich, daß
„Geist“
in
der
„Wir-form des eigenen Ichs“
bestehe28
28H. Pleßner: Die Stufen des Organischen und der Mensch, Berlin2. Aufl. 1965, S. 303 (ff); Friedrich Schlegels Formel
„Geist ist innre Geselligkeit“
findet dort ihre anthropologische
Rechtfertigung.
. Aber wie bei Pleßner, so ist auch bei Schleiermacher von Beginn an deutlich, daß es
sich dabei um nichts weniger handelt als um die Erörterung konventioneller
Verhaltensempfehlungen. Die Polemik gegen jene Art von Literatur, für die
Knigges
„Umgang mit Menschen“
die am bekanntesten gebliebene Veröffentlichung war29
29A. Freiherr von
Knigge: Über den Umgang mit Menschen, Leipzig 1911 (Erste Auflage 1788).
, ist unübersehbar. Übrigens
zeigt sich hier, vergleicht man die
„Theorie des geselligen Betragens“
mit den entsprechenden
Passagen in den Reden
„Über
die Religion“
, eine wichtige Eigentümlichkeit
Schleiermacherschen Denkens, die mit
„Ironie“
zu tun hat:
Obwohl er in der vierten Rede einen, offenbar durch die Erfahrungen in der BrüdergemeindeBrüdergemeinenahegelegten, Begriff religiöser Geselligkeit entwirft, dem er sich selbst verpflichtet fühlt30
30Über die
Religion, a. a. O. (Anm. 20),
S. 111
ff.
, klammert er doch in der
„Theorie“
diese eigene Position gleichsam ein und |b 207|bringt einen
Geselligkeitsbegriff zur Darstellung, der, dem kirchlichen Leben gegenüber,
säkulare Allgemeinheit beanspruchen könnte – ein
„ironisches“
Verfahren, das er auch in den Pädagogik-Vorlesungen an
wendet, wenn es um das Verhältnis zwischen pädagogischer und ethischer
Theorie (seiner eigenen nämlich) geht. Das bedeutet nichts weniger, als daß
er in seiner theoretischen Arbeit eine gesellige Tugend zu praktizieren sucht, die er im Begriff der
bürgerlichen Geselligkeit theoretisch postuliert.
Die darin zum Ausdruck kommende Haltung scheint mir ein besonders
eindrucksvolles Beispiel für eine demokratische und zugleich
wissenschaftliche Kultur zu sein: ohne die eigenen Optionen zu verleugnen,
die theoretische Aufmerksamkeit auf das zu richten,
was – zwischen den verschiedenen Optionen und
Interessen – die Sphäre gemeinschaftlicher Problemstellungen sein
könnte.
[088:34] Schleiermachers
Gedankengang erscheint mir insofern wie eine utopische Metapher: am Bild des
geselligen Verkehrs wird ein sittlicher Zustand menschlicher Beziehungen
phantasiert (
„geahndet“
) und beschrieben, in denen das
interessegeleitete Besondere und das projektierte Allgemeine, das Außen unddas Innen, gegenwärtige Vergangenheit und
gegenwärtige Zukunft, Geist und Körper als
Signifikate möglich werden. Der Körper ist dabei von besonderer
Bedeutung.
3.Schamhaftigkeit
[088:35] Die Frage, wie wir mit unserem physischen Leib umgehen können und
sollten, hat Schleiermacher
an zentralen Stellen seiner Pädagogik-Vorlesungen immer wieder beschäftigt
(es ist deshalb auch nicht überraschend, wenn Manfred Frank theoretische Übereinstimmungen
zwischen Schleiermacher und
dem französischen Psychoanalytiker Lacan entdeckt hat31
31M. Frank, a.a.O. (Anm. 14), 61 ff. Daß die Leibhaftigkeit der
Erfahrung und der Erkenntnis in seinen frühen wie späten Schriften ein
wichtiges Problem ist, liegt vielleicht auch daran, daß er mit seinem
eigenen Körper Schwierigkeiten hatte; er soll leicht verwachsen gewesen
sein.
). Er geht, um seinen Gedanken einzufädeln, von einer gänzlich trivial scheinenden Frage aus, nämlich: sind wir
berechtigt anzunehmen, |b 208|daß es irgendwo und
irgendwann im Leben des Kindes etwas
„Physisches“
gebe,
ohne daß damit zugleich auch etwas
„Intellektuelles“
gegeben sei? In seiner in solchen Fällen üblichen lakonischen Manier der
Vorlesungsnotizen hätte auch hier stehen können:
„Ich verneine“
. Es folgt eine Erörterung des zeitgenössisch-empirischen Wissens über
diesen Gegenstand. Es zeigt sich, daß dieses Wissen im Hinblick auf die
angesprochene Frage wenig zuverlässig ist. Es folgt die Erwägung, bei
welcher Art von Annahme, Unsicherheit des Wissens vorausgesetzt, sich die
schlimmeren Fehler (d. h. unkorrigierbare Folgen) einstellen, Folgerung: Die
schlimmeren Fehler sind zu befürchten, wenn wir annehmen, es gebe Phasen
oder Situationen im Leben des Kindes, bei denen wir nichts
„Intellektuelles“
zu unterstellen brauchen; also müssen wir es, zur
Vermeidung jener Fehler, unterstellen. (Eine auch heute noch interessante
Pointe ergibt sich nebenbei und konsequent: wir müssen dies sogar für den
unwahrscheinlich klingenden Fall des Fötus unterstellen).
[088:36] Wenn das so ist, dann ist es praktisch
sinnvoll (im Sinne dieser Kosten-Nutzen-Rechnung), zu unterstellen, daß alles Geistige eine
Körperseite, alles Körperliche eine Geistseite hat. Ein delikater Fall
dieser Problematik ist die Schamhaftigkeit. Im Zusammenhang mit der anonym
erschienenen Schrift zur Verteidigung des Romans
„Lucinde“
von Friedrich Schlegel, eines Romans, der, wie es damals hieß, das Schamgefühl gröblich beleidigt, schiebt
Schleiermacher eine
kleine Abhandlung,
„Versuch über die Schamhaftigkeit“
,
ein32
32Fr. Schleiermacher: Vertraute Briefe
über die Lucinde, Sämmtl. Werke, 3. Abth. Bd. 1, 421–506.
. Ganz im Geiste romantischer Geselligkeit beginnt er mit
einer Phrase, die eine
„ironische“
Behandlung des Themas
erwarten läßt:
[088:37]
„Das Übelste ist, daß schon vorläufig die
Frage entsteht, ob es nicht sogar schaamlos sei, von der Schaamhaftigkeit zu reden, oder was jemand darüber sagt anzuhören.“
33
33A.a.O., 450.
[088:38] Wenn man also die Schamhaftigkeit schon zu den Tugenden rechnen
will, wäre sie dann die (vielleicht) einzige Tugend, über die man nicht
reden dürfte. Das ist ein interessanter Fall, und |b 209|vielleicht zeigt diese Schwierigkeit einen Defekt des gesellschaftlichen
Zustandes an? Stelle ich mir Schleiermacher als Gesprächspartner über die Distanz von 184
Jahren vor, dann könnte ich ihm mitteilen, daß wir, wie es scheint, heute
den umgekehrten Fall haben: nicht aus Schamhaftigkeit erscheint den
Zeitgenossen ein Diskurs über Schamhaftigkeit übel, sondern aus
Gleichgültigkeit gegenüber dem Problem; oder genauer: weil es sich, nach
deren Meinung, um eine historisch überholte Rest-Problematik handelt
(jedenfalls scheint dies gelegentlich die Meinung beispielsweise von
Werbefotografen zu sein). Schamhaftigkeit, so könnte man diese Attitüde
zusammenfassend charakterisieren, wird für Prüderie gehalten.
[088:39] Genau! hätte Schleiermacher gesagt; nur haben wir (um 1800) den umgekehrten
Fall: die Prüden geben sich als schamhaft aus, und dies ist unser Problem! Ich (Schleiermacher) will Ihnen
erläutern, was ich meine: Ich habe es mit Leuten zu tun, die sich nicht
getrauen, über ihre Leiblichkeit zu reden, die sogar schon die Vorstellung davon in sich
unterdrücken, die in der Liebe zwar die Körperseite genießen, aber so tun,
als gebe es nur die Geistseite, die nicht gerade der Liebe entsagen wollen, aber jede Mitteilung darüber nur in
verstümmelter Form zulassen. Man kann diesen Leuten, so merkteSchleiermacher ironisch an,
„diesen tugendhaften Wunsch wol vergönnen“
. Würden wir ihn indessen zur allgemeinen Maxime machen, dann würde
dies mindestens
„den Untergang mehrerer höchst nothwendiger Künste und Wissenschaften nach sich ziehen“
34
34
A.a.O., 454
.
. Übrigens war Wilhelm Dilthey, dem wir sonst viel Wichtiges über Schleiermacher verdanken, in
Hinsicht auf dieses Problem offenbar ein Opfer viktorianischer Prüderie. Ihm
mißfiel dieser Essay; aber zu behaupten, daß er
„Schleiermachers nicht
würdig ist“
35
35W. Dilthey: Leben Schleiermachers, Bd. 1, 2. Aufl., hg. von H. Mulert, 1922, 550. Übrigens ist – ungewollt – diese
Passage in Diltheys Buch
ein Beleg für dessen hermeneutische Theorie: der Horizont der
Textauslegung ist auch durch die historische Situation des Auslegers
bestimmt.
, verrät doch einige Beschränktheit des
Urteilsvermögens: man kann die partiellen Rückschritte ahnen, die die
gesellschaftliche Entwicklung zwischen 1800 und 1870 selbst bei Leuten wie
Dilthey erzeugt hat, den
offensichtlich nur das ausformulierte, |b 210|reife
„Lebensideal“
Schleiermachers, nicht aber
mehr das ursprüngliche
„Begehren“
nach sinnlicher,
gleichwohl symbolisch repräsentierter Erfahrung interessierte. Das
„Lucinde“
-Kapitel Diltheys ist eine durch Prüderie deformierte
Schleiermacher-Interpretation.
[088:40] Ohne die Argumentation des Schamhaftigkeits-Essays genau zu
rekonstruieren, weise ich hier nur auf deren Resultat hin: Der springende
Punkt bei der Schamhaftigkeit sei, es solle
„vermieden werden irgendeine Wirkung auf die Stimmung und den
Gemütszustand der Menschen“
36
36Fr. Schleiermacher: Vertraute
Briefe über die Lucinde..., a.a.O. (Anm. 31), 455.
. Das ließe sich am besten an dem
„Triebe“
erläutern,
„dessen Allgewalt von den ältesten Zeiten an
vergöttert worden ist“
: die zu vermeidende Wirkung sei,
„den Gemüthszustand eines anderen ... gewaltsamerweise zu unterbrechen“
, mithin ein
„ungebührlicher Eingriff in die Freiheit“
des anderen37
37
A.a.O.,
455 f.
. Ein solcher Eingriff liegt immer dann vor, wenn
„zur Unzeit“
, ohne daß der von der Mitteilung Betroffene sich dagegen wehren kann,
sein
„leidenschaftliches Verlangen“
geweckt wird, wenn – und hier verwendet Schleiermacher fast schon eine
verhaltenspsychologische Terminologie – er sich auf
„Reiz“
und Reaktion, also auf pure Körperlichkeit reduziert sieht. Er liegt
aber auch dann vor, wenn
„der Zustand des Genusses und der herrschenden Sinnlichkeit“
, der ja auch
„sein Heiliges“
habe, gewaltsam unterbrochen wird.38
38
A.a.O., 456. 459. 458
.
[088:41] Die Empfindung der Scham, sowohl bei dem einen, der sie im
Hinblick auf seine eigene Körperlichkeit empfindet, wie bei dem anderen, der
sie im Hinblick auf seine Wirkungen auf den einen hat, bezieht sich also auf das Verhältnis zu sich
selbst, auf die Körper-Geist-Einheit, die zu sein er beansprucht. Genau an
diesem Punkt hat 100 Jahre später Georg Simmel den Gedanken fortgesetzt, vermutlich
ohne den Text Schleiermachers zu kennen39
39G. Simmel: Schriften zur Soziologie, Frankfurt/M. 1983, 140 ff.
. Die Fortsetzung liest sich fast wie
eine Schleiermacher-Interpretation, nun allerdings mit Hilfe der
inzwischen ausgebildeten Begriffe einer mikrosoziologischen Analyse: Simmel
verknüpft die Theorie der Geselligkeit mit der Theorie der |b 211|Schamhaftigkeit.
„Geist
ist innre Geselligkeit“
, das heißt in den Worten Simmels – der nun allerdings mit den anderen
Worten auch das Problem anders bestimmt:
[088:42]
„Wie vermittels einer
parlamentarischen Repräsentation der sozialen Gruppe in uns
selbst, empfinden wir uns selbst gegenüber so, wie wir von
vornherein nur anderen gegenüber empfinden.“
40
40A.a.O.,
S.
145.
[088:43] Wir sind also gleichsam zweierlei: ich selbst und die Repräsentanz
der an mich gerichteten Erwartungen anderer. Scham entsteht bei der
Verletzung des Gleichgewichts zwischen beiden, und zwar dann, wenn diese
Verletzung dadurch geschieht, daß
„das selbständige, für
sich verantwortliche Ich“
vor jener inneren
„parlamentarischen
Repräsentation“
herabgesetzt wird. Aus der
„Geselligkeit“
bei Schleiermacher wird bei Simmel eine Institution, aus der Tugend eine soziale Norm. Eine
Generation später (1939) präzisiert Nobert Elias den damit eingefädelten Gedanken der Geschichtlichkeit des Problems: Schamhaftigkeit sei ein Produkt des europäischen Zivilisationsprozesses41
41N. Elias: Der Prozeß der Zivilisation, 2 Bde., 1939; davon besonders Bd. 2, 397 ff.
. Die Scham- und Peinlichkeitsgrenze sei ein Mittel der
„Affektmodellierung“
, eine funktionale Notwendigkeit in
Gesellschaften, in denen die Angst vor alltäglicher
Bedrohung des eigenen Leibes von außen gemindert wird; denn diese Minderung
habe Selbstkontrolle der Affekte zur Voraussetzung. Schamhaftigkeit wird nicht mehr moralisch diskutiert, sondern als psycho-sozialer Mechanismus.
[088:44] Belehrt durch Simmel und Elias, können wir nun noch einmal auf Schleiermacher zurückblicken: selbst involviert in den
Zivilisationsprozeß, den Elias beschrieb, versucht er innezuhalten42
42Das Wort
„innehalten“
drückt selbst schon den
Sachverhalt aus: im Unterschied beispielsweise zu
„anhalten“
bezeichnet es nicht nur eine Körperbewegung, sondern
zugleich eine Bewegung des Gemüts. Es drückt aus, daß mit dem Anhalten
einer Bewegung diese nach
„innen“
sich fortsetzt, als
geistige Bewegung, als Reflexion auf das, was in der äußeren Bewegung
geschah, und welche Gründe für das Anhalten geltend gemacht werden
könnten.
. Was geschieht denn eigentlich in jenem Prozeß, der das
Innen vom Außen, den Geist vom Körper, die Zivilisation vom Trieb sondert?
Was bedeutet die geschichtliche Entwicklung, was |b 212|bedeuten Schleiermachers
Beobachtungen in seiner zeitgenössischen Umgebung, in der nun nicht nur die
„englischen Frauen“
sich schon aus der Geselligkeit entfernen,
„wenn (nur) der Wein aufgesetzt wird“
43
43Schleiermacher: Vertraute Briefe
über die Lucinde..., a.a.O. (Anm. 31), 460.
, sondern in der auch alle Regungen der Lust im kindlichen Körper mit
zunehmendem Mißtrauen beobachtet werden, andererseits ein rationalistisches
Verstandestraining in Schule und Elternhaus um sich greift und, damit
gänzlich unverbunden, eine rein
„physische“
Form
angeblicher Erziehung Verbreitung findet, das sogenannte
„Turnen“
. Was geht da vor sich, fragte er sich,
und wie weit ist das entfernt von dem, was in der griechischen Antike
„Gymnastik“
hieß? Wenn derartige Vorgänge
„Zivilisation“
genannt werden sollten, erreicht dann
dieser Prozeß nicht vielleicht eine kritische Grenze? Zwischen der
Schamlosigkeit der
„Mietlinge der Lust“
44
44Vgl. Simmel, der über Prostituierte sagt:
„Mit und in der Liebe tritt ihr ganzes Ich in
die Beziehung zu dem Manne ein, während bei ihrer gewerbsmäßigen
Hingabe nur ein einseitiger Teil desselben ins Spiel kommt, der
sich zu dem Ganzen überhaupt nicht mehr in eine Beziehung
setzt“
(A.a.O. [Anm. 37], S.
143)
; und Schleiermacher:
„Kalten Wüstlingen und gefühllosen Miethlinginnen sind selbst im Zustande der Leidenschaft die plumpsten
Vorstellungen und Reflexionen über das thierische, auf welches ihre Empfindungen und ihr Sterben sich bezieht, nicht unanstößig. Diese Dinge also sind den
wirklich liebenden ein Gräuel“
(A.a.O. [Anm. 31], 461.
, wo der Körper zu einer Sache oder Ware wird, und der
Prüderie, die den Körper nicht wahrhaben mag, liegt das Problem, auf das im
„Prozeß der Zivilisation“
eine Antwort gefunden
werden müßte.
[088:45] Das ist eine romantische Suchbewegung: in der Sinnlichkeit, den
körperlichen Funktionen das Spirituelle zu finden; in allem
„Intellektuellen“
die Körpergebundenheit mitzuerfahren! Die Bilder Philipp Otto Runges, die Schleiermacher über seinen Freund Steffens kennenlernte, und Caspar David Friedrichs, mit
dem er persönlich bekannt war, erscheinen mir wie die ästhetische
Darstellung dieses Problems45
45Vgl. H. Steffens: Lebenserinnerungen, hg. von F. Gundelfinger, Jena 1908, S. 248 ff., und Schleiermachers Brief an seine Frau vom 9. 9. 1818.
.
[088:46] Sie hat, nach Meinung Schleiermachers, eine fundamentale pädagogische Bedeutung.
Vergleiche ich den
„Versuch über die |b 213|Schamhaftigkeit“
mit den späteren Vorlesungen über Pädagogik, dann entdecke ich hier den Mittelpunkt seiner
Erziehungstheorie:
[088:47]
„... es gibt zweierlei Herrschaft: im Leibe die Herrschaft
entweder des Leiblichen ..., oder dessen, was im Leibe den
Geist repräsentiert; und im Geist eine Herrschaft dessen, was der Geist
... setzt, und eine Herrschaft dessen, was im Geiste den
Leib repräsentiert, welche beide eigentlich immer einander
korrespondieren“
– denn:
„Die Nerventätigkeit repräsentiert im Leibe
den Geist, die Lust repräsentiert im Geiste den Leib“
46
46Vorlesung 1813/14, in
Weniger/Schulze, a.a.O.(Anm.
8), 389.
.
[088:48] Das Schlüsselwort ist
„repräsentieren“
. Schleiermachers Pädagogik ist,
ganz mit seiner Hermeneutik übereinstimmend, semiologisch. Die Pädagogik, so
lese ich zwischen den Zeilen seiner Texte, droht
schamlos zu werden und war vielleicht immer schon in Gefahr, die
schamloseste aller Praxen zu sein. Der direkte Zugriff auf den Körper des
Kindes, sei es als dessen Zurichtung, sei es als dessen Stilisierung zu
sogenannter
„authentischer“
Körpererfahrung, ist nicht
weniger schamlos als der umgekehrte Fall: die Entfernung des Leibes aus den
„Lernprozessen“
, den pädagogischen Prozeduren, den
curricularen Konstruktionsbemühungen.
[088:49] Das
„Innehalten“
Schleiermachers in der
historischen Bewegung der Veränderung von Schamgrenzen markiert deshalb zugleich ein pädagogisch fundamentales Innehalten:
Die Körper-Geist-Balance ist – jedenfalls in unserer Kultur, in der Mythen
und Rituale nicht für einen selbstverständlichen Ausgleich sorgen – eine
erste Herausforderung für jeden, der sich anmaßt, ein Kind zu erziehen und
der die Risiken ernstlich ins Auge faßt, die damit gegeben sind.
Schluß
[088:50] Was also meinte Schleiermacher, als er, zwei Jahre vor seinem
Schamhaftigkeits-Essay, seiner Schwester schrieb, es sei
„die unnachläßlichste Pflicht eines jeden
Menschen“
, Kinder zu erziehen? Worauf richtete sich diese
„Pflicht“
, und welches ist die
Haltung, in der dieser Pflicht nachgekommen werden sollte?
|b 214|
[088:51] Ganz zweifelsfrei darf man Schleiermacher so interpretieren, daß diese Haltung nicht in dem begründet werden darf, was eine
gesellschaftlich-historische Konstellation von Problemstellungen gerade
vorgibt. Aber ebenso zweifelsfrei schien es ihm, daß das Allgemeine nur in
je historischen Besonderungen sich darstellen kann. Die große Ängstlichkeit,
die zu seiner Zeit in Körperfragen – vergleicht man sie etwa mit der
Großzügigkeit, in der Erasmus von Rotterdam 300 Jahre früher über derlei Dinge redete
– herrschend geworden war, bedeutet ihm eine
„Gefahr ..., besonders in diesen verderbten
Zeiten“
45
45Versuch über
die Schamhaftigkeit, a.a.O. (Anm. ), S. 454.
. Pädagogen könnten sich, so betont er immer wieder48
48Vgl. die Pädagogik-Vorlesungen von
1813/14 und 1826, a.a.O. (Anm. 8), S. 379
f. und 45
ff. Dazu auch N. Luhmann/K. E.
Schorr: Erziehung im Gesellschaftssystem, Stuttgart 1979, S. 158 ff.
und M. Winkler: Geschichte und Identität, Stuttgart 1979.
, von
dieser Ängstlichkeit lösen, wenn sie sich ganz auf den einzelnen Lebensmoment des Kindes konzentrieren würden, wenn sie
verstünden, dasjenige zu entfalten – in Beobachtung, Erfahrung und
Argumentation was in dem scheinbar einzelnen Moment enthalten ist. Dieser
Gedanke ist in den
„Monologen“
(1800) schon ganz ausgebildet – und nebenbei
scheint mir, daß C. D.
Friedrichs Bild
„Der Mönch am Meer“
(ca. 1808) die genaue
bildliche Darstellung desjenigen Reflexionsproblems ist, das Schleiermacher in den
„Monologen“
beschreibt und aus dem er später den pädagogischen Folgegedanken entwickelte49
49Vgl. dazu, als vielleicht erfolgversprechende Spur, die
Beschreibung dieses Bildes durch H. v. Kleist und den von C. Brentano/A. v.
Arnim verfaßten Dialog dazu.
.
[088:52] Aber das ist kein Lob der puren Gegenwart, denn jeder
Lebensaugenblick eines Kindes ist immer auch Moment des
„geschichtlichen Gesammtlebens“
50
50Zitiert nach M. Frank, a.a.O. (Anm.
14), 182.
. Geist und Körper, beide haben ihre Vergangenheit und Zukunft, sofern
sie in den pädagogischen Diskurs, in das Reden über Erziehung, eingebracht
werden können. Aber Erziehung für die Zukunft
ist ein höchst riskantes Unternehmen; den Optimismus der
Aufklärungs-Pädagogen teilte Schleiermacher nicht. Wir können nicht zuverlässig wissen, so
meinte er, welcher Fähigkeiten und Fertigkei|b 215|ten es für die nächsten historischen Schritte bedarf. Der Scharlatanerie historischer Prognosen mochte er sich nicht anschließen51
51Vgl. dazu Schleiermachers höchst ironische Rezension von J. G. Fichtes
„Grundlinien des gegenwärtigen Zeitalters“
, in Dilthey/Jonas,
a.a.O., Bd. 4, 624 ff.
. Und berücksichtigt man überdies, was
Wilhelm von
Humboldt1797 schrieb, nämlich daß es eine
„Hauptregel“
der Bildung anderer sei,
„die Eigenthümlichkeiten ihrer Individualität aufzusuchen und denselben mit strenger
Anhänglichkeit getreu zu bleiben“
, und zwar deshalb, weil
„das einseitige Verlangen, alle Naturen Einer
Richtschnur zu unterwerfen, nur zu allgemein verbreitet“
sei52
52
W. v.
Humboldt: Werke in 5 Bänden, hg. von A. Flitner und K. Giel, Bd. 1, Darmstadt 1960,
482.
– berücksichtigt man also die Einschätzung der historischen Lage, dann wird verständlich, warum
Individualität, Eigentümlichkeit des einzelnen Menschen, jeder einzelne
Moment im Leben des Kindes, zu einer derart hervorgehobenen Problemstellung avancieren. Die
Zukunft wird nicht als zuverlässig prognostizierbarer, vernunftgemäßer
Verlauf der Geschichte gedacht, sondern nur noch als Möglichkeit. Für keine
der menschlichen Praxen ist das eine größere Herausforderung als für die Pädagogik, denn: der Erzieher kann gar nicht anders, als in jeder seiner
Handlungen mit dem Kinde, da es sich ja noch mitten im kindlichen Werden befindet53
53Vgl. dazu H. Pleßner, a.a.O. (Anm. 28), 171 ff. über die Prinzipien des
„Lebendigen“
, das sich nur als
„Möglichkeit“
für unser Bewußtsein und Wissen
konstituiert.
, dessen Möglichkeiten, also dessen Zukunft zu
antizipieren; aber kann er das können, ohne die Zukunft zu kennen?
[088:53] Der scheinbare Widerspruch in der Tätigkeit des Erziehers könnte
sich auflösen lassen, das ist Schleiermachers pädagogisches Fundamentalprojekt, wenn im
hermeneutischen, nicht nur
„komparativen“
, sondern auch
„divinatorischen“
Kontakt mit dem Kinde die
Grundprinzipien seiner, auch republikanischen, Lebenszukunft sich auffinden
ließen. Und das, so meint er, sei der einzelne Moment, in dem Körper und Geist, Vergangenheit und Zukunft als Möglichkeit,
ernsthaftes Spiel und spielerische Vorwegnahme von Ernstsituationen,
gegenwärtig sind. Diesen Moment verstehen, d. h. die Zeichen, die er ent|b 216|hält, lesen können, und in ihm als Moment eines
zeitlich ausgebreiteten Bildungsprozesses des Kindes handeln können, ohne
die Bedeutungen zu verletzen, die im Moment enthalten sind: das ist
Pädagogik. Ein anspruchsvolles Projekt, das unserer
„Divination“
, aber auch unserem Selbstbewußtsein, unserer
hermeneutischen Sensibilität, aber auch unserer eigenen Lebensform einiges abverlangt.
„Schamlos“
ist eine Pädagogik, die auf diese Anstrengung verzichtet, die sich
gleichgültig gibt gegenüber den Selbstauslegungen des kindlichen Leibes und
den Leibhinweisen der Äußerungen des Geistes, der Rede. Vielleicht ist nun
auch der pädagogische Sinn jener Sentenz im
Athenäumsfragment Nr. 351
besser verständlich, das zunächst gar nicht auf Kinder gemünzt war, sondern auf das Leben, das Erwachsene miteinander
führen:
„Hast du je den ganzen Umfang eines andern mit allen seinen Unebenheiten berühren können, ohne ihm Schmerzen zu
machen? Ihr braucht beide keinen weitem Beweis zu führen, daß ihr
gebildete Menschen seid.“