Fingererzählungen – eine pädagogische Spekulation1
|b 50|1Das Projekt dieses kleinen Textes verdanke ich Rudolf Schenda. Seinen materialreichen Artikel
»Fingererzählungen«
(Enzyklopädie des Märchens. Handwörterbuch zur historischen und
vergleichenden Erzählforschung, hrsg. von K. Ranke, Berlin 1984, S. 1146 ff.) beschloß er mit einer –
allerdings eher impliziten – Aufforderung an die Pädagogen. In einem fast
gleichzeitigen Aufsatz, die im Enzyklopädie-Artikel nur knapp erwähnten
Quellenmaterialien nun breiter präsentierend, wird dieser Erwartung an
Pädagogen Nachdruck verliehen, vor allem dadurch, daß diese mit ihrer
eigenen Tradition kräftig konfrontiert werden (R. Schenda:
»Das ist der Daumen«
oder: Vom kleinsten
Kindertheater der Welt, in: Kinderwelten. Festschrift für K. Doderer, Weinheim/Basel 1985, S. 154 ff.). In dem freilich
bescheidenen Rahmen eines kleinen Aufsatzes versuche ich also, einige Linien
in das hineinzuziehen, was R. Schenda meinte, als er am Schluß des Enzyklopädie-Artikels schrieb :
»Die Hand ist nicht nur
›das Symbol
der Menschheit in ihrer ganzen Entwicklung und Geschichte‹
,
sie ist auch ontogenetisch von stärkster Bedeutung«
(S. 1152)
. Ob indessen
»sich heutige Pädagogen einig (sind) in der Auffassung, daß
Fingererzählungen wieder verstärkt in die spielerischen
Beschäftigungen mit Kleinkindern einbezogen werden müssen«
(S. 1153)
, weiß ich nicht. Ich selbst jedenfalls bin Rudolf Schendas Meinung und versuche, einige Argumente dazu
beizutragen.
[090:1] Neben vielen anderen Lücken in der pädagogischen Diskussion gibt es
auch diese: obwohl recht viel von Ich und Du, vom Selbst, von
»Behalten und Loslassen«
, vom Körper oder Leib, von Egozentrik und
Kognitionen kleiner Kinder die Rede ist – selten oder nur nebenbei wird die Hand erwähnt. Kopf und Herz, Mund und After halten die Theorien besetzt; für
die Hand bleibt wenig Platz. Das ist merkwürdig. Ich will sehen, was sich dazu
sagen läßt, und ich versuche das durch die Deutung eines elementaren
pädagogischen Vorgangs, den, in der einen oder anderen Form, wohl nahezu jeder
kennt: Fingererzählungen.
Die Sache
[090:2]
»Dies ist der Daumen/ der schüttelt die Pflaumen/ der liest sie auf/ der bringt sie nach Haus/ und dieser kleine Schelm, der ißt sie alle auf.«
[090:3] Stellt man sich die Szene, in der diese Worte gesprochen werden,
recht lebhaft vor – und dazu gehört nicht nur das äußere, dem Augensinn
zugängliche Bild, sondern auch die Imagination der anderen Sinne, auch die
Tätigkeit des Denkens, damit ein inneres Bild, ein In-Bild, schließlich ein
Inbegriff erscheint – müht man sich also mit dieser Zusammenfügung von
äußerem Wahrnehmen, innerem Empfinden, Erinnern und Denken, dann wird die
Szene in ihrem Bedeutungsgehalt sehr rasch höchst komplex. Da unsere Rede
darauf angewiesen ist, das Gleichzeitige in ein Nacheinander aufzulösen,
beginne ich irgendwo. Die Szene repräsentiert größte Intimität, zusammen mit großer Allgemeinheit. Bei diesem
»Spiel«
– nur vorläufig
nenne ich die Szene so – sitzt das Kind im Regelfall
wohl auf dem Schoß eines Erwachsenen, sagen wir: der Mutter. Die
Körper/Leiber berühren sich; der Schoß der Mutter ist für das Kleinkind der
sicherste Aufenthaltsort in der Welt. Die Mutter hält, etwa mit der linken
Hand, den Unterarm des Kindes, und zwar so, daß das Kind sich gestützt, aber
nicht gezwungen fühlt; es kann, während es die Finger bewegt, das Spiel von
Sehnen und Muskeln vielleicht bis fast zum Ellenbogen hin empfinden. Man
darf vermuten, daß das Kind, in dieser Lage, ganz bei sich ist, jedenfalls
ganz bei dem Leib, den es hat; innere Leibempfindungen, Hand und Auge, das
die Worte der Mutter aufnehmende Ohr, dies mindestens ist zusammen. Daß es
seinen Leib
»hat«
und ihm nicht etwa bewußt- oder hilflos
ausgeliefert ist, besorgen die Bewegungen der Finger; die werden zunächst
von der Mutter in Bewegung gebracht, sei es durch den leichten Druck des
Zeigefingers, sei es durch einen sanften Griff.
»Dies ist der Daumen ...«
Das Kind
übernimmt diese Bewegung von Mal zu Mal. Es wäre oberflächlich |b 40|gesprochen, würde man das eine
»Nachahmung«
nennen. Das Kind ahmt die Bewegung der Mutter nicht
nach; es korrespondiert, und zwar im ursprünglichen Wort-Sinne (respondere = u. a. den Kräften nach entsprechen,
ein Gleichgewicht bilden, das Gleichgewicht halten). Es bietet ein
Gegengewicht auf, und zwar so, daß es auf den Fingerdruck der Mutter mit
eigener Energie antwortet, die jenem Druck entspricht. Aber obwohl das Kind,
in dieser Situation, mit der Leibbewegung der Mutter korrespondiert, kann
man, mit Hinsicht auf eine andere
»Ebene«
des Geschehens,
auch sagen, daß es etwas nachahme. Was ahmt es nach? Gewiß nicht die
Bewegung der Mutter, nicht das Leibhaft-Konkrete dieses situativen Moments,
nicht die Haltung des Zeigens oder Beibringens. Was es nachahmt, ist
vielmehr etwas, das – durch die Mutter auf den Weg gebracht –
zwischen beiden existiert: ein Phantasma, eine Vorstellung, ein
Projekt, eine Idee? Jedenfalls: irgend etwas von alledem. Einiges davon läßt
sich leicht fassen, liegt gleichsam zutage: nacheinander werden die Finger
gebeugt – es gibt also eine einfachste Regel. Jeder Beugebewegung
entspricht ein Kommentar; es gibt also ein Verhältnis zwischen Leibbewegung
und Bedeutung. Die kleine Geschichte hat Anfang und
Ende: und sie symbolisiert eine Beziehung, die über den Moment
hinaus andauert.
[090:4] Das alles geschieht im engen Kontakt der Leiber, eine durch und
durch privat-intime Situation, ein ganz individuell bestimmter Austausch von
Leibgesten und das behutsame Einfädeln von Bedeutungen. Und zugleich
geschieht etwas über diese Situation weit hinausweisendes
Allgemeines. Das liegt schon in der Sprache, die die
Handbewegungen begleitet und immer, gewollt oder ungewollt, Allgemeines zum
Ausdruck bringt. Ich will hier nur eine unter den vielen Allgemeinheiten
andeuten: Unterscheiden! Die Erzählung ist kein schlichter Abzählvers,
sondern eine Einübung in logische Sprachoperationen.
»Kontrafaktisch«
zu der individuellen Intimität der Leibgeste wird
die Unterscheidung, die Opposition von
»dies da«
und
»das da«
eingeführt;2
|b 50|2Vgl. L. Wittgenstein: Philosophische Untersuchungen. In: Ders.: Schriften, Frankfurt/M. 1960, S. 308 ff.
ferner die von sinn-neutralem Anfang als einem Akt bloßen Bezeichnens
in der hinweisenden Sprachgeste (
»Dies ist der Daumen«
)
und bedeutungsvoller Handlung (der schüttelt ..., der liest
sie auf ... usw.); schließlich die Differenz zwischen
beobachtbarer Handlung und ihrer moralischen Wertung (
»und
dieser kleine Schelm ...«
); endlich aber auch zwischen Sache und
Wort, denn das Kind verliert keinen Augenblick die sinnliche Gewißheit, daß
es sich um die eigene Hand
»handelt«
, wird aber dennoch
auf die
»Als-ob«
-Ebene der Sprachzeichen gehoben: die
Erzählung beginnt mit der unmittelbaren sinnlichen Gewißheit und einem Akt
der Namengebung (
»Dies ist der Daumen«
) und springt dann
um auf die Symbolisierung (
»Der schüttelt die Pflaumen
...«
, was er natürlich nicht
»wirklich«
tut). ln
diesem doppelten Akt von sinnlicher Vergewisserung und symbolischer
Repräsentation geschieht, exemplarisch für viele Akte der frühen
Bildungsgeschichte von Kindern, Einzigartiges: Das Ich, und das Bewußtsein von sich und von den Sachen,
konstitutiert sich in derartigen Akten, denn sie bestehen aus Folgendem: aus
der sinnlich gegebenen Gewißheit der Sinnes Wahrnehmung; aus der mit der
Aufmerksamkeit der Sinne einhergehenden Unterscheidung zwischen
»Diesem«
und
»Je|b 41|nem«
; aus der damit zugleich gegebenen Unterscheidung von
»mein Leib hier«
und
»die Sachen da«
;
aus der durch die Sprache ermöglichten Vertauschung, d. h. der Differenz von
unmittelbar sinnlicher Gewißheit und Vorstellung von etwas, das sinnlich
nicht gegenwärtig ist; und nun – da das Kind ja zunächst der Mutter nur
zuhört, dann hier und da mitspricht, schließlich den Vers allein aufsagen
kann und nun also nur noch mit
»sich«
, d. h. mit seinem
Leib, seinen Objektbezügen und seiner Sprache allein ist – nun auch noch
daraus, daß das Kind sich dem aus solchem Stoff gemachten Weltverhältnis
heraussetzt dadurch, daß es sich selbst als den Erzähler der Geschichte
hervorbringt. Wollte man also noch die Rede aufrechterhalten, das Kind
imitiere das, was die Mutter ihm darbietet, dann wohl nur noch in einem
Sinne von Nachahmung, der alle diese Momente umfaßt. Wenn überhaupt
irgendeine Nachahmung stattfindet, dann ist es die des ganzen
Bedeutungsumfanges der Situation; in dem Vollzug jeder einzelnen Leib- und
Sprachgeste ahmt es, wenn überhaupt etwas, dann die Idee der
Ich-Konstitution nach.
[090:5] Die bildungstheoretische
Bedeutung der Fingererzählung ist damit aber keineswegs
erschöpft; nur ihr Anfang, eine erste, wenngleich fundamentale,
Komponente ist zur Sprache gebracht (daß übrigens dies alles überhaupt nicht geschehen würde ohne
die Beziehung auf ein
»Du«
, ohne dialogisches
Verhältnis zur Mutter also, war vielleicht schon hinreichend
angedeutet, verdiente aber genauere Erläuterung, die ich hier
unterlasse).
[090:6] Um fundamentale
Fragen handelt es sich auf insofern, als mit der
»Hand«
erkenntnistheoretische Probleme ins Spiel kommen: Ich
sagte schon, daß das Kind, im Vorgang der Findererzählung, die
vorbegriffliche Gewißheit habe, mit den eigenen Händen zu spielen.
Das ist weniger trivial, als es scheint. Bei der Untersuchung der
Frage, unter welchen Bedingungen der cartesianische Zweifel grundlos
ist, heißt es bei Wittgenstein:
[090:7]
»Wenn mich ein Blinder fragt
›Hast Du zwei Hände?‹
, so würde ich mich
nicht durch Hinschauen davon vergewissern. Ja, ich weiß
nicht, warum ich meinen Augen trauen sollte, wenn ich
überhaupt daran zweifelte. Ja warum soll ich nicht meine
Augen damit prüfen, daß ich schaue, ob ich
beide Hände sehe? Was ist wodurch zu
prüfen?!«
3
|b 50|3Zit. nach G. Gebauer:
Hand und Gewißheit. In: Das Schwinden der Sinne, hrsg.
von D. Kamper und Chr. Wulf,
Frankfurt/M., 1984, S. 234–260; dort auch eine
ausführliche Diskussion des Problems.
[090:8] Eine solche Prüfung kann nicht im zweifelnden Reden
bestehen; sie ist vielmehr im Zusammenspiel von Hand und Auge immer
schon vollzogen. Handlungen und Sprachspiele beruhen auf dieser
Gewißheit des Leibapriori. Fingererzählungen repräsentieren diesen
Sachverhalt. Wären
Fingererzählungen eine Erfindung des deutschen Biedermeier,
würde sich derartige Gründlichkeit nicht lohnen. Wir kennen sie
aber, soweit Schrift- und Bildquellen reichen, durch unsere
ganze neuere Geschichte hindurch und in allen europäischen
Sprachen. Warum also erwählen Mütter und Väter, Großeltern,
Onkel und Tanten und andere Erwachsene die Hand des Kindes zu
einem derart ausgezeichneten Medium ihrer pädagogischen
Beziehung?
|b 42|
Geschichtliches
[090:9] Im Hochmittelalter entstanden Bilder, auf denen die Hände der
interagierenden Personen zwar immer noch, wie im Frühmittelalter, in
stereotyp bedeutungsvollen Gesten dargestellt waren, nun aber in merkwürdig
disproportionaler Vergrößerung. – Wenig später beginnt die Auflösung der zunächst starr erscheinenden
Madonna-Jesus-Ikone dadurch, daß, zugleich mit dem ganzen Säuglings-Körper, dessen Hände in Bewegung geraten.4
|b 50|4Die Vergrößerung der Hand ist recht eindrucksvoll an den Bildern
der Bamberger Apokalypse zu studieren (vgl. dazu: Die Offenbarung des Johannes. Farbige
Bilder aus der Bamberger Apokalypse um 1020, erläutert von G. Schiller, Hamburg 1955); das Beweglichwerden der Hand als Organ
sensomotorischer Erregung zeigt sich beispielsweise bei Giotto (1266/67–1337)
und Duccio (1255–1318).
Der Jesusknabe reckt sich und streckt die Hände aus,
sucht zu greifen, umfaßt, hält fest, läßt los, spielt, spreizt die Finger
usw. Bald auch setzt ein analoges Fingerspiel bei der Madonna ein. 1506 schließlich
malte Dürer eine
Personengruppe (Jesus unter den
Schriftgelehrten), die um einen Bildmittel punkt aus vier Händen, deren Finger gestikulieren, angeordnet ist.5
|b 50|5Vgl. dazu E. Panofsky: Das Leben und die Kunst Albrecht Dürers. München 1977, S. 154 ff.
Als Titelbild eines
Lehrbuches zur Anatomie erschien 1543 in Basel ein Holzschnitt, der den Verfasser dieses Buches darstellte6
|b 50|6Andreas Vesalius: De humani corporis fabrica septem libri. Basel 1543
. Der Mann hält einen aufgerichteten, von der Haut
freigelegten Unterarm, man sieht die Muskeln bis in die Fingerspitzen der
Hand. Warum das bei einem anatomischen Lehrbuch, wo doch auch
andere Körperteile denkbar gewesen wären? In Rembrandts
»Anatomie des Dr.
Tulp«
sieht man den Chirurgen, wie er, gegen alle Regeln
der Kunst, als erstes nicht etwa die Bauchdecke aufschneidet, sondern die
Unterarm- und Fingermuskeln demonstriert.7
|b 50|7Vgl. K.
Mollenhauer: Der Körper im Augenschein –
Rembrandts Anatomie-Bilder und einige Folgeprobleme. In:
Umwege, Weinheim/München 1986, S. 92
ff.
[090:10] Die Hände der Jesus-Knaben und Madonnen und die Hände der Chirurgen stehen indessen in je
verschiedenen Traditionen. Die
»Gesprächshand«
und die
»Werkzeug-Hand«
sind verschiedene kulturelle Projekte.
Das läßt sich, um hier nur einen Hinweis zu geben, leicht nachvollziehen,
wenn man sich vor Augen führt, wie, in frühen oder fremden Kulturen, die
»Gesprächshand«
zur Darstellung kam, als Geste des
Ausdrucks und der Kommunikation (wie etwa im indischen Tanz, auf
etruskischen Fresken oder antik-griechischen Vasenmalereien), und wie,
andererseits und parallel dazu, die
»Werkzeug-Hand«
immer wieder zum Thema wurde. Daß die Hand immer beides ist, Organ
der Bearbeitung von äußerer und Organ des Ausdrucks von innerer Natur,
gehört vielleicht zu uraltem Menschheitswissen, wenngleich ikonologisch
aufgespalten in eine kommunikative und eine instrumenteile Funktion. Diese
Aufspaltung aber indiziert, so vermute ich, nicht etwa ein spätes
kulturelles Stadium – sogenannte materialistische Theorien könnten das
nahelegen –, sondern lediglich, daß, von allem Anfang an, die Hand nach zwei
Seiten weist: nach außen und innen. Das tritt dann in der neuzeitlichen
Ikonographie, stärker als in den steinzeitlichen Felsenzeichnungen oder der griechischen Vasenmalerei, auseinander als
Gesprächs-Ikon und Werkzeug-Ikon.
[090:14] Das ist indessen noch zu grob beschrieben. Die
ganze mittelalterliche Malerei ist durch ein reich differenziertes
Sprekturm von Handgesten charakterisiert, deren Bedeutung durch den
modernen Ausdruck
»Kommunikation«
nur
unzureichend erfaßt ist (z. B. die Schöpferhand Gottes, die segnende
und die schwörende Hand, Begrüßung und Abwehr, die zeigende und
hinweisende Hand usw.). Hände auf diesen Bildern sind eher Symbole
für ein Allgemeines und weniger Ausdruck |b 43|indivuduell bestimmter Verständigung und Beziehung.8
|b 50|8Vgl. F.
Garnier: Le langage de l’image en moyen-âge. Paris 1982²
Mit der
frühen Neuzeit, wie schon gesagt, ändert sich das; die Gesprächshand
bringt nicht nur das objektiv Typische, sondern (auch) das
eigentümlich Innere zur Darstellung.
[090:15] Der
italienische Maler Parmigianino beispielsweise malte 1524 ein in dieser
Hinsicht interessantes Selbstporträt: in einem kreisrunden Wölbspiegel
erscheint das Brustbild des Artisten, und davor, vergrößert, auf dem
unteren Bildrand, mit dem Handrücken dem Betrachter
zugewandt, liegt die feingliedrige Künstlerhand – alles andere ist
durch die Spiegelwölbung verzerrt. Martin Warnke, in einer genauen Interpretation des Bildes9
|b 50|9Vgl. dazu die Interpretation eines SelbstbildnissesParmigianinos von
M. Warnke: Der Kopf
in der Hand. In: Zauber der Medusa, hrsg, von D. Hofmann, Wien 1987, S. 55 ff.
, zitiert dazu einen Text von 1405 über die
Malerhand
»Du solltest auch auf Deine Hand achten und
sie von allzu schwerer Arbeit verschonen.«
Die Hand des Malers, in dieser Zwischenstellung zwischen
Werkzeug und Mitteilung, wird kostbar – wie in der
Fingererzählung.
[090:16] Die Hand, in dieser neuen Position, ist frei geworden – so scheint es
– für
»Interaktion«
, und zwar nicht nur für die
Darstellung von typisierten Interaktionsriten (wie beispielsweise im Tanz),
sondern auch für die Darstellung, die Inszenierung individuellen
Ausdrucks innerhalb des Allgemeinen, das in jeder Interaktion
repräsentiert ist. Für Interaktion war die Hand vielleicht schon immer frei,
aber ohne daß das zum Bewußtsein gekommen und besonders hervorgehoben worden
wäre. Jetzt jedenfalls, zu Beginn der Neuzeit, wird sie zu einem
ausdrücklich ausgezeichneten Organ, um
»Gespräch«
zu
repräsentieren, und zwar ein solches Gespräch, das nicht nur die
überindividuelle Wahrheit kündet oder transportiert, sondern eines, das den
subjektiv gemeinten Sinn mit den objektiven Sinn-Konzepten der
Sozietät in Kontakt bringt. Das Spiel der Finger bedeutet etwas für
mich (als Ausdruck), für dich (als dialogische Mitteilung)
und für uns (als objektiver Sinngehalt). Deshalb sind von nun an
Fingerspiele auf Bildern auch so schwer zu entschlüsseln; es sind aus vielen Deutungen gemischte Gesten; sie können affirmativ
sein, kritisch, ja sogar subversiv. Und da ich nun schon einmal bei
riskanten Konjekturen bin, wage ich auch noch diese: In den Schulordnungen
des 16. Jahrhunderts tauchen zum ersten Mal umständlich-peinliche
Anweisungen auf, wie der Körper der Kinder ruhigzustellen sei, möglichst
vollständig der vom Curriculum vorgeschriebenen Lernaufgabe unterworfen,
nicht nur im Schulzimmer, sondern auch außerhalb. Es würde mich nicht
wundern, wenn sich herausstellte, daß die brutale Lehrergewohnheit, Kindern
mit dem Stock auf die Hände zu schlagen, in diesem Jahrhundert ihren Anfang
nahm; denn wenn zum Bewußtsein gekommen ist, daß das Spiel mit den Fingern
eine persönlich bestimmte Bedeutung hat, die schwer zu entschlüsseln ist, und eine intersubjektive Gemeinsamkeit stiften könnte, die schwer zu
kontrollieren ist, dann kann darin auch eine Subversion des pädagogischen
Projekts gesehen werden. Es gibt ja schließlich auch, wenngleich ein wenig
später, die von Pädagogen mit Abscheu konstatierte masturbierende Hand, die
sich ihrer Außenwelt-Funktion entzieht und nichts als instrumenteiles
»Selbstgesprächs-Instrument«
ist; oder auch die, wie im
von den Grimms mitgeteilten
Märchen, alles Böse im Kinde symbolisierende Hand, die selbst noch aus dem
Grabe herauswächst;10
|b 50|10Nr. 117 der von den Gebrüdern Grimm besorgten Märchensammlung. Die
»ungehorsame«
Hand könnte hier allerdings
auch ein pädagogisch-bürgerlich zurechtgestutztes älteres Motiv
repräsentieren, die Hand des Meineids nämlich, die aus dem Grabe wächst
(vgl. Lenz Kriss-Rettenbeck: Ex voto. Zeichen, Bild und Abbild im christlichen Votivbrauchtum. Zürich 1972, S. 20 ff.).
;oder auch die Hand, die sich
»gegen
den Vater«
|b 44|erhebt. Es scheint, als sei die Hand, im Kontext der
Neuzeit, ein höchst zweideutiges Symbol geworden: gattungsgeschichtlich
verweist es auf ursprüngliche Kompetenzbestände der Menschheit, epochal
verweist es eher auf Differenzerfahrungen, auf Ermöglichungen und
Unterdrückungen.
[090:17] Übrigens reicht das Quellenmaterial der volkskundlichen Forschung
zu Fingererzählungen (vorerst) nicht weiter zurück als bis in jene Zeit.
Sind Fingererzählungen also eine Erfindung der frühen Neuzeit, ein
subversives Mütter-Curriculum gleichsam, das, angesichts der Fortschritte
der Mechanik und ihrer kulturell-symbolischen Äquivalente, einerseits von
diesen profitiert, andererseits dem pädagogisch-institutionalisierten
Habitus entgegenläuft? Das wäre einer sorgfältigen Prüfung wert; aber ebenso
wert ist die Frage, ob nicht
»hinter«
den
Fingererzählungen, auch
»hinter«
diesen historischen
Konnotationen, noch etwas anderes steckt, ein Sachverhalt, der viel weiter
zurückreicht.
Archaisches
[090:18] Die hermeneutische Bewegung des Interpretierens muß offenbar noch
weiter ausgreifen. Was bedeutet die
»Hand«
, und mithin
dann natürlich auch die Fingererzählung, im gattungsgeschichtlichen
Rückgriff für das Menschsein überhaupt? Diese Frage ist von pädagogischem
Interesse deshalb, weil sich – in gewisser und hier nicht genauer
begründbarer Weise – die Genealogie des Geistes in jedem Neugeborenen immer
wieder auf dessen ursprüngliche Sinnestätigkeit gründen muß, worauf denn
sonst? Die Lehre solcher Begründung, eine
Ȁsthesiologie des
Geistes«
also,11
|b 50|11H. Plessner: Die Einheit der Sinne. Grundlinien einer Ästhesiologie des
Geistes (1923). In: Ders.. Gesammelte Schriften III, Anthropologie der Sinne. Frankfurt/M., 1980; dort auch: Anthropologie der Sinne (1970).
hat ihre Ursituation im paläontologischen Übergang von den
Anthropoiden zum Menschen. Ich hoffe, daß es mir in wenigen Worten gelingt
zu zeigen, daß das nicht zu weit hergeholt ist.
[090:19] Paläontologisch tritt die Hand in dem
»Moment«
in die Gattungsgeschichte ein, in dem der Anthropoide sich aufrichtete, Arme
und Hände also keine Vorderläufe mehr waren.12
|b 50|12Zur Anthropologie und Paläontologie der Hand vgl. A. Leroi-Gourhan: Hand und Wort. |b 51|Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst. Frankfurt/M., (3. Aufl.) 1984, vor allem S. 296 ff.; ferner zur Psychologie der
Hand: G. Révész: Die menschliche Hand. Basel/New York 1944
Die Hand übernimmt zunächst, im Greifen nach Nahrung, Gebißfunktion;
dann lernt sie,
»sich zur Faust zu ballen«
, zu schaben und zu kratzen, entdeckt ihre
»weiche Innenseite«
13
|b 51|13
H.-G.vonCampe: Tägliche Technik. Studien zur Gestik der Verrichtungen,
Diss. Bielefeld 1982, S. 28
; vgl. für den ganzen Zusammenhang auch G. Bräuer: Die Hand – das Organ der Organe. Ms. 1986
, vergrößert ihre Reichweite und Wirkungsweise durch die
Herstellung und Handhabung von Werkzeug; in diesem Zustand erst ist die Hand
zugleich einerseits beweglich-zugreifend, eingreifend, gestaltend, spontan
und andererseits empfindend, sensibel, rezeptiv.
Diese zwei gleichsam in Opposition zueinander stehenden Kompentenzen der
Hand, tätig und empfindend sein zu können, sind
wesentlich. Dadurch, daß der Mensch sich aufrichtete – man kann dieses
höchst dramatische Ereignis an Kindern, wenn sie gerade beginnen, das Laufen
zu lernen, eindrucksvoll immer wieder studieren –, eröffnet sich ein Auge-Hand-Feld14
|b 51|14H. Plessner, a.a.O., S. 370
ff.
, in welchem die Hand, zwischen
dem weitschweifenden Auge und der unmittelbaren Selbstgewißheit des eigenen
Leibes, eine mittlere Stellung einnehmen kann. Das ist eine
Schlüsselposition: Die Hand ist nun nicht nur tätiges Organ, das in die
Außenwelt eingreift, nicht nur rezeptives Organ, das Empfindung von innen
her |b 45|vermittelt, sondere auch kommunikatives Organ,
das zwischen den kommunizierenden Leibern sowohl Verbindung als auch Distanz
herstellt.
[090:20] (Man denke beispielsweise an die Rolle der Hand bei
Begrüßungszeremonien: Kleinkinder, reicht man ihnen die Hand zum Gruße,
weichen häufig davor zurück und verbergen die Hand hinter ihrem Rücken, so
als fürchten sie die Intimität mit dem Fremden, die durch die empfindsame
Handinnenfläche unweigerlich gegeben wäre: Erwachsene hingegen begrüßen sich häufig, nun allerdings wohl in
vollem Bewußtsein der gestischen Bedeutung, nicht durch Vorstrecken der
Hand, sondern durch leichte Neigung des Oberkörpers mit seitwärts nach
hinten gehaltenen Händen und signalisieren dadurch zwar Zuwendung,
allerdings abstrakt, die intimkonkrete Zuwendung auf der Leibebene
ausdrücklich aussparend.)
[090:21] Das ist, gattungsgeschichtlich, ein Ereignis, das in seiner
Bedeutung der Entstehung der Sprache vergleichbar ist und in der Evolution
vermutlich auch gleichzeitig war. Die Hand als
»Werkzeughand«
stiftet die aktive Beziehung zur Außenwelt, zumal zur
Natur; sie wird damit zu einem Instrument der Abgrenzung zwischen Subjekt
und Objekt; durch ihre Empfindsamkeit aber hilft sie, die Abgrenzung immer
wieder aufzuheben; sie schafft überdies, als
»Gesprächshand«
, Distanz zum Anderen, hilft, die Symbiose zu
durchbrechen, andererseits aber auch, bei aller Trennung der Leiber in
»mein Leib«
und
»dein Leib«
, den
Leibkontakt im Sinne eines Gesprächs, d. h. eines geistigen Kontaktes auf
rechtzuerhalten. In dieser Position bringt die Hand schließlich den Wunsch hervor,15
|b 51|15H.-G.vonCampe, a.a.O., S.
26. Schon Révész (a.a.O.) weist auf diesen Zusammenhang von Tätigkeit
und Wunsch- bzw. Bedürfnisproduktion hin:
»Zwischen Hand und Bedürfnis besteht eine
Wechselwirkung: die Bedürfnisse bilden die Hand, und die Hand
schafft neue Bedürfnisse und löst die durch die Bedürfnisse
entstehenden Aufgaben. So lange die Hand nur Aufgaben aus der
vitalen Sphäre zu bewältigen hat, bleibt sie animalisch, auf
ihre rein biologischen Funktionen beschränkt, morphologisch
primitiv und entwicklungsunfähig. Treten indessen soziale,
kulturelle und zivilisatorische Bedürfnisse auf, erst dann
gewinnt die Hand durch ihre arbeitende, formende und
ausdrucksbefähigende Funktion ihren menschlichen Charakter. Das Geistige, genauer: die dem
Geist vorschwebenden und durch Handtätigkeit zu realisierenden
Ziele verleihen der Hand den Charakter der Menschenhand«
(S. 19)
.
eröffnet den an den Leib durch sie rückvermittelten Blick auf das
Ferne, noch nicht Erreichbare und den Antrieb auf den Anderen zu, ohne mit
diesem oder jenem verschmelzen zu wollen.
[090:22] Fingererzählungen, so scheint es, sind die pädagogisch-alltägliche
Manifestation eines archaisch-anthropologischen
Sachverhalts. Mutter und Kind, der geöffneten Handinnenfläche gegenüber,
bringen sich als gemeinsam rezeptiv, als empfindsam für die Eindrücke, die
von außen kommen und zugleich die je eigene Leibgewißheit bedeuten, hervor.
Die Bewegung der Finger signalisiert die Tätigkeitspotentiale der Hand, ihre
physiologische Einzigartigkeit und deren Leistungsradius. Der sprachliche
Kommentar bzw. die Erzählung selbst fädelt diesen anthropologischen
Sachverhalt in eine Geschichte und damit in die Geschichte der Menschen ein.
Die damit gesetzte Distanzierung von der Situation, zugleich mit dem intimen
Kontakt zwischen Mutter und Kind, symbolisiert das
Subjekt-Objekt-Verhältnis, die Verbundenheit trotz dieser Trennung in der
vermittelnden Hand, die Individuierung des Kindes bei aufrechterhaltener
Gemeinsamkeit.
Fälschungen16
|b 51|16Der folgende Abschnitt ist zum beträchtlichen Teil, besonders im
Hinblick auf die Quellenmaterialien, ein Referat der eingangs zitierten
Arbeit von R. Schenda (
»Das ist der Daumen«
...,
a.a.O.).
[090:23] So plausibel die Interpretationsschritte – sie ließen sich leicht
weiter ausführen und begründen, und es könnten ihnen noch andere hinzugefügt
werden – sich vielleicht ausnehmen; es sind Fälschungen. Die Wahrheit einer
These begründet sich nicht in |b 46|abstrakter
Allgemeinheit, sondern in historischer Konkretion. Ich habe meinen
Überlegungen bis hierher eine unverfängliche Version der Fingererzählung
zugrunde gelegt, eine Normalform gleichsam, auf die sich das Gehabe
europäischer Mütter und Väter inzwischen eingespielt hat. Die Attitüde, die
diese Einspielung möglich machte, hat Friedrich Fröbel vorgebildet. Bei ihm
lautet die Fingererzählung so:
[090:24]
»Dies ist das Däumchen,
Es sieht aus wie ein Pfläumchen.
Dieß Fingerchen gerade zeigt,
doch aber auch gar schön sich neigt.
Dieß Fingerchen das größte ist,
obgleich es nur das mittelst ist.
Dieß Fingerchen trägt’s Ringelein,
Drum ist es auch wie Gold so rein.
Dieß Fingerchen das kleinste ist,
Die Fingerzahl gar fein beschließt,
Und verschieden nun auch ihre Gaben sind,
so sind sie einig doch beisammen,
liebes Kind.«
17
|b 51|17Friedrich Fröbels Mutter- und Koselieder, hrsg. von Johannes Prüfer, Leipzig 1927.
[090:25] Rudolf Schenda hat,
in der charmanten Nüchternheit des guten Philologen, diese bürgerlich-abstrakte Version sogleich mit der sozialen Wirklichkeit konfrontiert. Seit
Jahrhunderten nämlich ist die folgende Version, in dieser oder ähnlicher
Form und in vielen europäischen Sprachen, überliefert:
[090:26]
»Der ist der
Dum’
Und der ißt gern Plum’
Der sagt: Wo nehme?
Der sagt: stehle!
Und der sagt: wenn ich noch so klein wär, thät
i
doch keine Pflum
stehle.18
|b 51|18Zit. nach R. Schenda, a.a.O., S. 156
«
[090:27] Die sorgfältige Philologie belehrt uns also, daß es nach zwei
Seiten hin Varianten gibt: zur Verharmlosung des Ganzen und zur Seite der
sozialhistorischen Konturierung hin. Was ist Urbild, was ist Fälschung? Die
zahlreichen Dokumente, über Nationen und Jahrhunderte hinweg, die immer
wieder diese letzte Version repräsentieren, lassen vermuten, daß die
Fingererzählung ursprünglich von materiellem Mangel berichtet. Die Moral der
Geschichte, so scheint es, ist nicht irgendeine anthropologische oder
bildungstheoretische Weisheit, so edel sie auch vorgetragen werden mag,
sondern ein Lebenssachverhalt armer Leute: Wer keine Pflaumen hat, gern
welche ißt und sie nicht geschenkt bekommt, der stiehlt sie eben; leider
gibt es dann immer jemanden, der nicht mitmacht! So ist das Leben. Und eine Hand mit fünf Fingern reicht aus, um
diese Wahrheit der nachfolgenden Generation zu übermitteln. Es macht dann
keinen wesentlichen Unterschied, wenn beispielsweise in Neapel die
Fingererzählung mit dem kleinen Finger beginnt – die Moral bleibt die
gleiche.
[090:28] Es gibt die gleiche Moral auch in einer anderen Form, in der der
Kleine nichts mehr abbekommt und dumm dasteht:
|b 47|
[090:29]
»En voilà un qui coupe
la soupe,
en voilà un qui la goûte,
En voilà un qui la trempe,
En voilà un qui la mange.
Voilà le petit glinglin
Qui arrive trop tard et n’trouve
pas rien
Et fait couin!«
19
|b 51|19A.a.O., S. 158
[090:30] Welche sprachliche Gestalt auch immer die älteren
Fingererzählungen haben mögen, es geht immer um Haben und Nicht-Haben,
Wohlsein und Armut, Hoch und Niedrig, Groß und Klein. Die von Fröbel, dem Repräsentanten
neuzeitlicher Kleinkind-Pädagogik, vorgenommene Fälschung ist
offensichtlich. Ideologie im Kinderzimmer? Pädagogik im Dienste der
Unwahrheit? Eine richtige oder doch wenigstens verstehbare Klassenmoral, wurde sie von Fröbel zu einem pädagogischen
Simulakrum umgebogen, das nun alles und nichts mehr bedeutet – nur noch die
Finger der Hand, keine Oppositionen mehr, keine Geschichte, das Ich nur noch
konfrontiert mit
»gar schön«
und
»größte«
und
»Gold«
und
»fein«
, mit
»Gaben«
,
»beisammen«
und allerlei sonstwie Einträchtigem?
[090:31] Fingererzählungen – so trivial und unbedeutend das Thema sein mag
– können doch offenbar die Transformationen zum Vorschein bringen, die durch
das pädagogische Teilsystem unserer Gesellschaft mit den kulturellen
Gehalten der Alltagswelt vorgenommen werden. Man könnte das
»pädagogische Ideologie«
nennen; beispielsweise wenn Friedrich
Fröbel, die Ursprungsform der Erzählung in ihr Gegenteil
verkehrend, sagt:
»Däumchen neig’ dich«
oder:
»Du Kleiner duck dich, ja, ja, füge Dich.«
20
|b 51|20Fr. Fröbel, a.a.O..
Nichts mehr davon, daß die fünf, oder ohne den Daumen die vier,
darauf aus sind, den ungleich verteilten gesellschaftlichen Reichtum
vernünftig umzuverteilen, wenngleich am Rande der Legalität; kein Wort mehr
darüber, daß die Fingererzählung das archaische Thema von Hunger und
Sattsein (denn hier verschränkt sich offenbar die archaische Thematik der
Hand mit der gleichfalls archaischen von Haben und Nicht-Haben), von Herr
und Knecht,
[090:32]
»Das isch d’r
Dürne
Dä frißt gern Pflüme
Dä sait wo nämme?
Dä sait in’s Herre Garde.
Dä klei Spitzbue will’s im Herre
saghe.
(elsässisch)21
|b 51|21
R. Schenda – a.a.O., S. 156
[090:33] von Moral und der Schwierigkeit armer Leute, der ihnen auferlegten
Rechtlichkeit ohne Not folgen zu können, behandelt. Von derartigen
Irritationen hat Fröbel die
Fingererzählung gereinigt und ihr eine dünne abstrakte Allgemeinheit
unterschoben, in der die Finger nur noch als Zählwerk erscheinen. Ja, ich
denke, man darf noch kräftiger charakterisieren: der phantasielose
Zählmechanismus wird noch ergänzt und bestätigt durch eine an Albernheit
grenzende, kindisch-betuliche Rhetorik – aktuelle Assoziationen an die
Äußerungen prominenter Politiker will ich gar nicht ausschließen; sie
gehören dem gleichen kulturellen Habitus an – durch eine mittelständische
Besitz- und Gemeinschaftsmoral (
»Dieß
Fingerchen |b 48|trägt’s Ringelein ... wie verschieden nun auch ihre Gaben sind/ so sind sie einig doch beisammen, liebes Kind«
), die sich
dünkt, um so näher an der pädagogischen Wahrheit zu sein, je ferner sie der
gesellschaftlichen Realität ist. Jedenfalls: Fingererzählungen sind
politischer, als es scheinen könnte.
[090:34] Dennoch ist Fröbels
Version keine vollständige Fälschung.
Zwar ist seine Erzählung von jeder Erinnerung an den materiellen Ort, an dem
die anderen Fassungen entstanden, gereinigt; aber die Aufmerksamkeit des
Kindes wird dafür um so strenger auf die Hand als Organ des eigenen Leibes
gerichtet, auf ihre gleichsam archaische Figur. Es ist anzunehmen, daß Fröbel, der gerade an der
Einführung menschheitsgeschichtlich bedeutungsvoller Symbole in die Kleinkindpädagogik interessiert war, eben dies im Sinn hatte, wenn auch mit einem schiefen Resultat.22
|b 51|22Vgl. dazu besonders O. F. Bollnow: Die Pädagogik der deutschen Romantik. Von Arndt bis Fröbel. 3., überarb. Aufl., Stuttgart 1977, S. 178 ff.
Vielleicht ist es also überhaupt unrichtig, von
»Fälschungen«
zu reden. So wie die Hand in
bildlichen Darstellungen je in geschichtlich besonderer Geste
erscheint, abhängig von ihrer kulturellen Lokalisierung ihren
besonderen Bedeutungsakzent erhält, so heben auch Fingererzählungen
aus dem universell möglichen Bestand immer nur einige
didaktische Komponenten hervor: die Geschichte von Armen und
Reichen, die Stellung des Kleinsten in der Gruppe, feinmotorische
Bewegungen, Zählen, anatomische Benennungen usw.
Bedeutungen
[090:35] Was also lernt das Kind, wenn es, auf dem Schoß der Mutter, jene
Fingererzählungen mit und an sich geschehen läßt und dabei zunächst zum
Mitspieler und dann selbst zum Erzähler der Geschichte wird? Was ist die
Eigentümlichkeit dieses Bildungsereignisses? Es scheint, als hinge die
Beantwortung vollständig an der Bildungsbedeutung der Hand.
–
[090:36] Das Kind lernt, dem Auge-Hand-Feld seine
Aufmerksamkeit zuzuwenden und in diesem Feld zwischen dem
weitreichenden Auge und der Oberfläche des Leibes die Hand als
den wesentlichen Mittler zu lokalisieren.
–
[090:37] Das Kind lernt, daß es seinen Leib
»hat«
und daß deshalb dieser Leib, bzw. sein Organ, die
Hand, sowohl Ausdruck von ihm selbst als auch
»Zeichen«
für andere und anderes sein kann.23
|b 51|23Vgl. dazu
auch Hegels
»Phänomenologie des Geistes«
.
Frankfurt/M., 1973, S.
239
–
[090:38] Es lernt darin fundamentale Unterscheidungen, vor
allem die zwischen
»dies da«
und
»das da«
, und zwar in Leibgebundenheit, als
»mein Leib«
und
»dein
Leib«
und
»Nicht-Leib«
, Abgrenzung
also von Innen und Außen, Subjekt und Objekt.
–
[090:39] Es lernt dies in noch fast symbiotischer Bindung an
die Mutter, aber schon als Übergang, als Emanzipation aus der
Symbiose. Es lernt die Subjekt-Objekt-Differenzierung also, ohne
Angst haben zu müssen, darüber die Verbundenheit zu
verlieren.
–
[090:40] Es lernt, daß es eine Sprachgemeinschaft gibt, in
der die symbiotische Verschmelzung mit der Mutter abgelöst und
aufgehoben werden kann durch die Intersubjektivität der
gemeinschaftlichen Kooperation (z. B. im Stehlen) und ihrer
Repräsentation im Sprachspiel.
–
[090:41] Es lernt auf diese Weise auch etwas über die
Leibgebundenheit von Interaktionen. Die |b 49|Fingererzählung ist immer zweierlei zugleich: eine in Sprache
erzählte, gleichsam leibferne Geschichte und eine unvermittelte Kommunikation zwischen Mutter-
und Kind-Leib durch das Berühren und Beugen der Finger, durch
das Sitzen im sicheren Schoß der Mutter.
–
[090:42] Es lernt schließlich, zwanglos und scheinbar
unwillkürlich, daß menschliches Zusammenleben verstehbar wird im
Dreieck von Ich, Du und Es – und daß dieses Dreieck nicht nur
durch die Alternative von Innen und Außen, Ausdruck und Zeichen,
durchkreuzt wird, sondern auch von den materiellen
Überlebensproblemen (jedenfalls dann, wenn man nicht gerade die
Fröbelsche Version wählt).
[090:43] Pädagogisch-anthropologische Erinnerungen von dieser Art haben
gegenwärtig leicht etwas von Nostalgie an sich. Tatsächlich scheint es ja,
als zöge sich die Hand aus ihren mechanischen Funktionen allmählich zurück,
als würde das zu Beginn der Neuzeit ins Werk gesetzte Entlastungsprojekt auf
eine Pointe zugetrieben, bei der die Auseinandersetzung mit äußerer Natur
entfällt, wenigstens aber die motorisch-mechanische Funktion immer
deutlicher zurücktritt hinter die sensorisch-symbolische. Das Nachdenken
über den Bildungssinn von Fingererzählungen wäre dann eher ein Abgesang von
Pädagogen, die, der Zeit immer ein wenig hinterher, auch hier wiederum
geneigt sind, eher am bewährten Alten, und sei es gar das Archaische,
festzuhalten, als sich auf vielleicht bestürzende Zukünfte einzulassen – man
kann es jedenfalls nicht schlechterdings und nicht von vornherein
ausschließen. Ein wenig Hilfe für die Argumentation spendet indessen auch in
dieser Frage die Paläontologie. Leroi-Gourhan springt den Pädagogen bei:
[090:44]
»Es wäre nicht sonderlich wichtig, daß die
Bedeutung der Hand, dieses Schicksalsorgans, abnimmt, wenn
nicht alles darauf hindeutete, daß ihre Tätigkeit eng mit
dem Gleichgewicht der Hirnregionen verbunden ist, die mit
ihr in Zusammenhang stehen.
›Mit seinen
Händen nichts anzufangen wissen‹
wäre auf der Ebene
der Spezies nicht sonderlich beunruhigend, denn es dürften
noch Jahrtausende vergehen, bevor ein so altes
neuro-motorisches Dispositiv sich zurückbildet; aber auf
individueller Ebene liegt die Sache ganz anders. Mit seinen
Händen nicht denken können bedeutet einen Teil seines
normalen und phylogenetisch menschlichen Denkens
verlieren.«
24
|b 51|24
Leroi-Gourhan, a.a.O., S. 320
. Ein wenig vorher heißt es:
»Am Anfang war die Hand eine Zange zum
Festhalten von Steinen, der Triumph des Menschen hat sie
zur immer geschickteren Dienerin seiner
Produktionsvorstellungen gemacht. Vom oberen
Paläolithikum bis ins 19. Jahrhundert hat sie einen
endlosen Höhenflug hinter sich gebracht. In der
Industrie spielt sie noch eine wesentliche Rolle bei
wenigen Werkzeugmachern, die jene Teile der Maschinen
herstellen, vor denen die Masse der Arbeiter nur noch
einen Greifer mit fünf Fingern hat, der das Rohmaterial
verteilt, oder einen Zeigefinger, der auf Knöpfe drückt.
Noch handelt es sich um ein Übergangsstadium, denn es
kann kein Zweifel bestehen, daß die nicht mechanisierten
Phasen in der Herstellung von Maschinen nach und nach
ausgeschaltet werden.«
(S. 319)
[090:45] Aber auch von anderer Seite kommt Unterstützung: Alfred Lorenzer hat das
»Mama«
-Sagen des Kleinstkindes als eine
»Einführungssituation«
in die menschliche Gemeinschaft bezeichnet.
Lacan denkt, daß es im
Leben jedes Menschen in früher Kindheit ein
»Spiegelstadium«
gebe, in dem er sich, in der gespiegelten
Konfrontation mit seinem Leib, seiner Subjektivität inne werde. Ich hoffe
gezeigt zu haben, daß Fingererzählungen sowohl eine Einführungs- als auch
eine Spiegelsituation inszenieren. Nur sind hier bereits mehrere
»Spiegel«
aufgestellt: die eigene Hand, die Mutter als
der Andere, die Sprache als das Intersubjektive, die materielle
Überlebensfrage als das historisch-lebensweltliche Allgemeine. Was
korrespondiert im Kind dieser höchst komplexen Situation? Die Antwort ist
nun, nach dem Durchgang durch die verschiedenen Ebenen der Interpretation
und dem bildungstheoretischen Resümee, höchst einfach: Fingererzählungen
repräsentieren, mit Bezug auf Leib, Du, Sprache und Naturbeherrschung, die Geburt des Ich.