Ein Jesus-Knabe um 1280 [Textfassung b]
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Ein Jesus-Knabe um 1280

[095:1] Die erziehungswissenschaftliche Forschung stützt sich, seit es sie gibt, nahezu ausschließlich auf
literarische Dokumente
: Traktate, Autobiographien und Viten, Kloster-, Schul- und andere Anstaltsordnungen, Programmschriften für die Gründung dieser oder jener edukativen Einrichtung, Armenordnungen, Geburts- und Sterberegister, Immatrikulations-Verzeichnisse usw. Ikonische Dokumente, Bilder also, spielen keine Rolle. Um der Anschaulichkeit des Wortes ein wenig weiter aufzuhelfen, taucht indessen dennoch das Bild in jüngster Zeit immer häufiger auf – allerdings nur als Illustration. Veröffentlichungen von Bilder-Sammlungen zur Geschichte der Schule, der Armut, der Kindheit und der Familie nehmen zu. Und als ob die Meinung bestünde, Bilder, sprächen für sich, bedürften nur der Konfrontation mit einem ähnlich scheinenden Dokument, werden sie gleichsam wie Versatzstücke verwendet, Zugaben für denjenigen Leser, von dem man vermutet, seine Anschauungskraft könnte vielleicht allein durch das Wort noch nicht genug in Gang gebracht worden sein.
[095:2] Mich befriedigt diese Situation nicht, und zwar aus einem einfachen Grund: Ich mag nicht glauben – und sei es in dem eher bescheidenen Sektor der Geschichte, den wir Pädagogik nennen –, daß der
Diskurs der Bilder
über pädagogische oder pädagogisch bedeutsame Sachverhalte nichts ist als eine optisch veranschaulichte Paraphrase auf das, was ohnehin geschieht, zumal auf das, was in literarischen Texten nachlesbar ist. Das ist keine sehr originelle Annahme. Bildermacher haben immer wieder zu bedenken gegeben, daß sie sich mit ihren Produkten nicht nur auf eine der literarischen ebenbürtige Weise an der Erzeugung kultureller Welten beteiligen, sondern auch zur Welterkenntnis (bzw. der Repräsentation solcher |b 5|Erkenntnis) etwas beizusteuern hätten Allerdings war der Zusammenhang mit den anderen Weisen kultureller Produktion mal dichter, mal lockerer.
[095:3] Rembrandt beispielsweise hat einen ganz eigenen, mit den Erziehungstheorien seiner Zeit kaum verbundenen Gedankengang vorgetragen. Wenige Jahre, nachdem Descartes die
Meditationes
und Comenius die
Didactica Magna
schrieb, malte Rembrandt (1656) den
Jakobssegen
: ein Bild über die problematische Balance der Generationen und Geschlechter. Nichts davon liest man bei Comenius, obwohl sie beide, Rembrandt und Comenius, im selben Stadtviertel Amsterdams wohnten. Auf wen also sollen wir uns berufen bei dem Versuch, pädagogische Problemstellungen des 17. Jahrhunderts zu rekonstruieren?
[095:4] Oder Chardin, fast 100 Jahre später: Als in der europäischen pädagogischen Literatur eine Attitüde vorherrschte, in der die wohlüberlegte und gut organisierte Instruktion des Nachwuchses das Wichtigste war – von John Locke zu Beginn des Jahrhunderts, über Rousseau bis zu Basedow und August Schlözer malte Chardin dieses Bild einer pädagogischen Beklemmung, ambivalent in der Zeichnung und in den Farben. Diderot hat es geahnt und diesen Maler in den kritischen Rezensionen der
Salons
immer wieder hervorgehoben, mit dem von ihm leider nicht erläuterten Ausdruck
Magie
. Und der Maler selbst hat offensichtlich von den Ideen John Lockes im
Essay concerning human understanding
mehr profitiert als von dem
Essay concerning Education
, dem er, in seinem Bild, eher widerspricht. Erst gegen Ende des Jahrhunderts, bei Lessing, Herder, Schlegel und Schleiermacher werden jene Töne, die Chardin schon 1730 in seinen Bildern anschlug, auch in der Sprache vernehmbar.
[095:5] Bilder erzählen – so möchte ich diese wenigen Andeutungen hypothetisch zuspitzen – eine andere Geschichte. Vielleicht teilen sie –vorsichtig gesprochen |b 6|– etwas über dieselbe Geschichte mit; aber mindestens dadurch, daß sie es auf andere Weise mitteilen, teilen sie auch anderes mit.
[095:6] Dies ist die These dieses Vortrags. Das gilt freilich nur der Möglichkeit nach. Faktisch sind Bilder häufig, in ihrem ikonographischen Gehalt, nur Bebilderungen dessen, was auch sonst geschieht, gelegentlich sind sie ihrer Zeit voraus, gelegentlich hinterher. Einen in dieser Hinsicht ambivalenten Fall möchte ich im folgenden diskutieren.

1. Annäherung

[095:7] In einer Inquisitionsakte aus dem Beginn des 14. Jahrhunderts in Südfrankreich, wird ein interessantes Gespräch berichtet. Zu der Zeit war die eheliche und außereheliche Fruchtbarkeit sehr hoch und natürlich auch die Sterbequote, besonders bei Kindern; die bäuerliche Bevölkerung sorgte sich:
wo ist Platz für die Seelen aller schon Verstorbenen und die vielen noch gegenwärtig Lebenden ... Der ganze Raum zwischen Toulouse und dem Col de Merens würde sie ja bald nicht mehr fassen!
(Le Roy Ladurie 1982, S. 228)
Dennoch wurden Kinder in großer Zahl geboren, von denen allerdings mehr als die Hälfte starb, ehe sie das Jugendalter erreichten. Aus solchen und ähnlichen Befunden wird gelegentlich gefolgert, daß Kinderliebe, daß eine stark emotional getönte und einfühlsame Umgangsweise zwischen Erwachsenen, naturgemäß besonders Müttern und Kindern, noch nicht zu den pädagogischgen Standards gehörte. Stimmt das?
[095:8] Das erwähnte Gespräch aus den Inquisitionsakten verlief nun, in jener Situation, so:
Meine Gevatterin Alazais Munier war traurig
, sagte |b 7|Guillaume Austatz, der
bayle
von Ornolac. "Innerhalb von kurzer Zeit hatte sie alle ihre vier Söhne verloren. Da ich sie so traurig sah, fragte ich nach dem Grund.[095:9]
Wie sollte ich nicht traurig sein?
fragte sie zurück,
da ich in so kurzer Zeit vier schöne Kinder verlor?
[095:10]
Mach dir nichts draus, Gevatterin, du wirst sie wiederfinden.
[095:11]
Ja, im Paradies.
[095:12]
Nein, hier unten schon in der irdischen Welt wirst du sie wiederkriegen. Denn du bist noch jung. Du wirst wieder schwanger werden. Die Seele eines deiner toten Kinder wird in deinen Bauch zurückkehren. Und dann die des nächsten und so weiter!
(ebd.)
[095:13] Von einer Mutter wird berichtet, die, im Begriff, das Haus zu verlassen, immer wieder zu ihrem lachenden Kind zurückkehrt; sie mag sich nicht von ihm trennen. Gerade das Lachen des Kindes schien symbolisiert, daß das Kind mit einer
reinen Seele
ausgestattet war,
kostbar und liebenswert
. Priester beobachteten diese Kinderliebe mit Argwohn, hielten sie für übertrieben, konnten sich aber wohl damit bei den Bauern nicht durchsetzen.
Ihr werdet keine Kinder haben
, warnte ein Geistlicher,
und habt ihr erst eins, werdet ihr euch darüber mehr freuen als jetzt über den Frieden des Paradieses
(a. a. O., S. 231)
. Zwei Generationen vorher ließ Kaiser Friedrich II., wie erzählt wird, seine berühmt-berüchtigten Kinderexperimente durchführen, zu denen eine Generation vor der Zeit, auf die sich jene südfranzösischen Berichte beziehen, der Mönch Salimbene (1285) den folgenden kritischen Kommentar gibt:
[095:14]
Seine (Kaiser Friedrichs II.) ... Wahnidee war es, herauszubringen, welche Sprache und Art zu sprechen Kinder hätten, die aufwüchsen, ohne mit jemandem sprechen zu können. Und deshalb befahl er den Ammen und Pflegerinnen, diesen Kindern Milch zu geben, sie zu stillen, zu baden und trockenzulegen, jedoch keinesfalls sie zu liebkosen oder mit ihnen zu sprechen. Denn er wollte erfahren, ob sie die hebräische – als die älteste |b 8|– Sprache sprächen, oder Griechisch oder Arabisch oder aber die Sprache ihrer leiblichen Eltern. Doch war alle Mühe vergebens, weil die Kinder oder Säuglinge, ohne Ausnahme starben. Ohne Zuwendung und Berührungen , ohne Lächeln und Liebkosungen ihrer Ammen und Pflegerinnen vermochten sie nämlich nicht zu leben.
(Arnold 1980, S. 126)
[095:15] Der Hinweis auf das Lächeln, das in der Regel nach dem zehnten Monat, von der Empfängnis an gerechnet, auftritt, legt eine mythische Spur. Zur gleichen Zeit nämlich erfreute sich die 4. Ekloge aus den Bucolica des Vergil besonderer Beliebtheit, in der von einem messianischen Knaben die Rede ist. Das Gedicht schließt mit den Versen:
[095:16]
Richte, mein Junge, mit Lächeln den kennenden Blick auf die Mutter, brachten zehn Monate ihr doch mancherlei arge Beschwerden: [095:18] Wer nicht als Kind durch sein Lächeln den Eltern ein Lächeln entlockte, [095:19] speiste nie an göttlichem Tische und teilt nie ein [095:20] göttliches Lager.
[095:21] Die Paraphrase eines philologischen und religions-geschichtlichen Kenners trifft den Sinn vielleicht ein wenig genauer:
[095:22]
Nun, Knäbelein, beginne deiner Mutter zuzulachen und ihr dadurch zu zeigen, daß du sie kennst, deine Mutter, die dich im zehnten Monat trug und für diese Zeit des Unbehagens solchen Lohn wahrlich verdient hat
(Norden 1924, S. 10)
.
[095:23] Ein religions-historisches Motiv verbindet sich mit einem antropolosch-alltagsgeschichtlichen. Auch heute weiß die Entwicklungspsychologie dem kaum mehr hinzuzufügen als ein modernes Vokabular. Ich will mich dadurch aber nicht verleiten lassen, pädagogische |b 9|Universalien zu unterstellen. Die Spanne von zehn Monaten bis zum ersten Lächeln sind ein biologisches Datum – sonst nichts. Aber hier – sowohl im provencalischen Inquisitionsprotokoll als auch im Text des Franziskaners Salimbene oder in Vergils Hirtengedichts bzw. dessen Beliebtheit im 13. Jahrhundert – wird den Leibäußerungen des Kindes eine Bedeutung zugesprochen, die sich vielleicht detaillierter erläutern und historisch genauer lokalisieren läßt.

2. Das Dokument

[095:24] Um das Jahr 1280 wurde, vermutlich in Siena, dieses Bild der Madonna mit dem Jesus-Knaben gemalt (Abb. 3). Sehen wir dieses Bild gleichsam durch die
Brille
der vertrauten späteren Renaissance-Malerei, dann tritt uns vielleicht zunächst der ältere mittelalterliche Formenbestand entgegen. Die Gesten erscheinen starr; den Körperformen scheint das weiche
naturalistische
Kolorit zu fehlen, das wir bei Mutter-Kind-Darstellungen erwarten. Die leichte Neigung des Marienkopfes, seit Jahrhunderten tausendfach in dieser geometrischen Gestalt gemalt, macht den Eindruck eines ikonischen Typus. Die Zeichnung auf dem Schultertuch erscheint uns ornamental-abstrakt. Die Hände Marias wirken eher gefäßhaft. Der Goldgrund, so scheint es, entrückt die Zweiergruppe in Ortlosigkeit, die sich mit den nicht-individualisierenden Gesten gut verträgt. Diesem Gesamteindruck fügen sich auch die beiden Engel oben links und rechts ein. Fast symmetrisch angeordnet, sind sie miteinander nicht etwa dadurch verbunden, daß ein Bezug individueller Körpergesten aufeinander entsteht, sondern nur durch eine abstrakte Beziehung der Farbkomposition, durch Komplementärfarben.
[095:25] Derartiges fällt auf, wenn wir aus der Gegenwart auf dieses Bild zurückblicken. Was könnte uns auffallen, wenn wir es mit den Augen von Zeitgenossen des 13. |b 10|Jahrhunderts zu sehen versuchten, die bis dahin ganz anderes gewohnt waren.
[095:26] Der von Duccio in seinen Bildern vollzogene historische Schritt, parallel zu seinem berühmten Zeitgenossen Giotto (allerdings mit einigen wichtigen Unterschieden), wird nun ganz deutlich. Zunächst fällt, im Vergleich zu früheren Darstellungen, die besondere Modellierung der Körper auf. Der Maler ist sichtlich darum bemüht gewesen, den Eindruck von Dreidimensionalität zu erzeugen, wenngleich, auf diesem Bild, noch nichts im Hinblick auf den ganzen Bildraum, sondern nur im Hinblick auf die Personen. Die beiden Figuren sind nicht nur Zeichen, die ein religiös relevantes Ereignis signifizieren. Zwischen Bildzeichen und religiöse Thematik wird gleichsam eine neue Bedeutungsschicht eingeschoben, und zwar dadurch, daß eine Art eigenständige Alltäglichkeit in der detailliert gemalten Beziehung zweier Leiber zum Ausdruck kommt. Diese Art von Körperrealismus muß damals, so stelle ich mir vor, auf die Zeitgenossen schlechterdings neu gewirkt haben, zumal auch der Betrachter des Bildes in die Körperbewegung mit hineingezogen wird: Unser Auge geht zwischen den Blicken der beiden Figuren hin und her und läuft schließlich gleichsam im Dreieck: von Figur und Blick des Knaben werden wir auf die Augen der Mutter gelenkt, die ihrerseits den Betrachter anschaut und ihn damit zum Teilnehmer des Bildgeschehens macht. Aber diese Bewegung, besonders die zwischen dem Knaben und der Mutter, wird auch gebremst, und zwar durch akzentuierte Andersartigkeit der beiden Körper. Das Bild repräsentiert keine Mutter-Kind-Symbiose, sondern Gemeinschaftlichkeit und Trennung: die quasi-realistischen Körperformen des Kindes kontrastieren ganz ausdrücklich mit der eher flächig-stilisierten Zeichnung des Gesichts der Mutter.
[095:27] Das auffälligste Merkmal des Bildes ist indessen der zur Mutter hin ausgestreckte Arm des Knaben und die
leibhafte
Modellierung der Gliedmaßen. Wie kein |b 11|anderes Bildelement bringt diese Modellierung der kindlichen Figur Bewegung in die Dyade. Versuche ich, diesen Bildgestus mit den Augen der Zeitgenossen Duccios zu sehen, so denke ich mir, daß er einen höchst intensiven Eindruck von
Spontanität
hervorgerufen haben muß. Diese Behauptung ist indessen nicht eindeutig genug. Es könnte nämlich eingewandt werden, daß die so auffallend charakteristisch scheinende Körpergeste des Kindes, die Hinwendung zur Mutter durch den hochgestreckten Arm, in einer langen ikonischen Tradition steht, die im Bildprogramm der byzantischen Malerei am breitesten dokumentiert ist, und daß deshalb hier, auf dem Bilde Duccios, garnichts Neues geschieht. Sieht man indessen die frühchristlichen und mittelalterlichen Bildbestände aufmerksam durch (vgl. dazu etwa Schiller 1986 und 1980, Panofsky 1924, Vollbach 1958, Garnier 1982), dann zeigt sich, daß es zwar ein reichhaltiges Repertoire von Körpergesten schon in den Jahrhunderten vor Duccio gab und daß Duccio zweifellos sich diesem Repertoire anschloß, sein Bildprogramm sozusagen aus diesem Bestände bestritt; aber er transformierte es, freilich nicht als einziger, in charakteristischer Weise. Und diese Charakteristik, das ist meine These, besteht darin, daß die Körper- und Leibgesten nun nicht mehr nur ein Zeichen der übersinnlichen
Wirklichkeit
des christlichen Mythos sind, sondern leibhafte Interaktionen zwischen Kind und Mutter darstellen; das geschieht, bei traditionaler Verwendung des älteren ikonischen Programms, durch die Annäherung an eine Modellierung des kindlichen Körpers, die dessen sinnliche Qualitäten herausarbeitet. Durch das ganze Mittelalter hindurch sind derartige Körpermodellierung ganz seltene Ausnahmen. Erst um 1250 herum werden sie häufiger. Seit Duccio beginnen sie die Regel zu werden. Daß also der Jesusknabe sich plötzlich so bewegt, wie auch die eigenen Kinder des Bildbetrachter es tun, das muß als unerhört aufregend empfunden worden sein. Gleichsam völlig zwanglos wird hier eine religiöse Thematik in den pädagogischen Alltag von Mutter-Kind-Beziehung eingefädelt, oder auch |b 12|umgekehrt: die Arm-Hand-Geste des Kindes hat nämlich eine doppelte Bedeutung. Dargestellt ist eine Szene aus dem Leben Jesu unmittelbar nach der Beschneidung, von der damals erzählt wurde, daß der dabei vergoßene Blutstropfen die Mutter wehmütig stimmte und in ihr die Ahnung der kommenden Passion aufkeimen ließ. Die Arm-Hand-Geste des Jesusknaben ist also eine Tröstungsgeste; und daß der Daumen gerade eben das Blutrot der Kopfbedeckung erreicht, ist die zarte und völlig unaufdringliche Symbolisierung dieser legendären Beziehungsfigur. Es ist nun gerade diese symbolische Andeutung, die eine Brücke baut zwischen der religiösen Thematik, den erwähnten älteren Bildprogrammen und der Alltäglichkeit. Der Zeitgenosse Duccios konnte darin beides sehen: den Mythos und die Realität des eigenen Kindes.
[095:28] Der in der Sekundärliteratur zum Stereotyp gewordene Hinweis darauf, daß in derartigen Bildern der Jesus-Knabe, in Körper- und besonders Kopf- und Gesichtsform, nicht eigentlich wie ein Kleinkind aussieht, liegt völlig neben der Sache. Er verkennt einerseits, daß es sich bei Produktionen der bildenden Kunst nie um Abbildungen handelt, sondern um ausschnitthafte Weisen der Welterzeugung – und er verkennt andererseits die historische Bedeutung, die noch die feinste Verschiebung in den Darstellungsmitteln hat. In solchen Verschiebungen oder neuen Akzenten werden ja neue oder andere Aspekte der Weltdeutung symbolisch sichtbar gemacht, die sich mit Hilfe eines empiristisch-
realistischen
Parameters unserer Tage nicht erfassen lassen. Das liegt, wie gesagt, schon in der Natur ästhetischer Sachverhalte. Ein aufgereckter Arm und die vom Maler
weich
modellierte Haut des Kindes kann deshalb für die Frage, ob dem Kinde Aufmerksamkeit geschenkt wird, viel bedeutungsvoller sein als eine angeblich anatomisch zuverlässige Zeichnung des ganzen kindlichen Körpers.
[095:29] In diesem Sinne sind, auf dem vorliegenden Bild, die |b 13|Bewegungen der Gliedmaßen das Entscheidende – freilich nur für den, der an Pädagogik-Geschichte interessiert ist; für Kirchen- oder Kunsthistoriker mag anderes wichtig sein. Die linke Hand mit Unterarm der Madonna hält den Knaben, aber hält ihn gleichzeitig auch nicht; der Knabe,
realistisch
gesehen, sitzt und schwebt. Dieser Eindruck ist dem Maler – wie ich vermute – nicht unwillkürlich gelungen, sondern wurde absichtlich erzeugt. Das zeigt die klare Konturierung der linken und in Korrespondenz dazu auch der rechten Hand; die beiden Hände, zusammen mit der Schwere des kindlichen Körpers, symbolisieren eine Konversation: zwischen oben und unten, geistiger
Wahrnehmung
und Schwerkraft, zwischen Halten und Loslassen des Kindes. (In den Heiligen-Legenden des 13. Jahrhunderts wird häufig berichtet, daß der Heilige in meditativen Situationen zu schweben begann.) Das Kind scheint zwischen diesen Oppositionen, in der Linienführung seiner beiden Arme, zu vermitteln. Es kann sich mit
Händepatschen
(Salimbene)
, und darf es auch, über die Not hinwegsetzen, die bei über 60%iger Säuglingssterblichkeit den Müttern Kummer macht. Für diese Mütter, im Languedoc oder Siena damals, war diese Maria ein vernünftiges symbolisches Modell. Nichts wäre also falscher, als aus solchen Bildern, wenn man sie denn schon für bildungsgeschichtliche Argumentationen heranziehen will, einen Mangel an Empathie zu folgern. Das Gegenteil ist der Fall.
[095:30] Dieses Bild Duccios bringt also nicht nur eine empathische Beteiligungsgeste zur Darstellung, sondern versucht auch im Betrachter diese Geste zu erzeugen. Wenn es stimmt, daß
unter den Hilfsmitteln, mit denen sich die illusionistische Kunst ihrer physisch-psychischen Einheit mit dem Betrachter zu versichern sucht, ... die aus dem Bild blickende Figur obenan
steht
(Neumeyer 1964, S. 13)
, dann darf man wohl für unseren Fall auch sagen, daß die den Betrachter anblickende Madonna ihn in die mitfühlende Bewegung hineinzieht, die durch den kindlichen Leib eröffnet und |b 14|im Rückweg zum Bild wiederum auf dieses bezogen wird. Die darin enthaltene Beziehungsfigur zwischen ästhetischem Objekt und Betrachter ist freilich ein wesentlich älteres Theorem des Nachdenkens über Kunst, wird aber in jenen Jahrzehnten besonders aktuell. Auf der Sockelinschrift der Domkapsel des Giovanni Pisano in Pisa steht:
Versibus adde rorem
, in poetischer Übersetzung
Füge Du den Tränentau zu diesen Versen
(Neumeyer 1964, S. 27)
. Es liegt in der Entwicklungs-
Logik
dieser ästhetischen Figur, daß wenig später Kinder selbst es sind, die die Bildbetrachter anblicken.

3. Wer war der Maler

[095:31] Dieses Bild und andere ähnlicher Art bewirkten eine Art Dammbruch; die folgenden Jahrzehnte schon sind voll von Madonnenbildern, auf denen einerseits der Jesusknabe, Schritt für Schritt immer subtiler, die besondere Charakteristik kindlicher Bewegungsgesten entfaltet und auf denen andererseits die empfindsamen Reaktionsgesten in dieser pädagogischen Interaktions-Dyade komplementär, in immer feinerer Ausarbeitung dessen, was sich zwischen den Personen ereignet, zur Darstellung kommen. Ich sehe die folgenden Entwicklungsschritte: körperliche Bewegtheit des Kindes – Zunahme von Abwendung des Madonnen-Blickes vom Betrachter – völlige Konzentration der beiden aufeinander. Wie konnte dieses kulturell-pädagogische Projekt entstehen? Verschiedene Forschungswege sind möglich. Einer davon ist die vergleichsweise triviale Frage: Kann uns genaue Kenntnis des Malers weiterhelfen? Wer also war Duccio?
[095:32] Ich nehme die Antwort vorweg: Von Duccio di Buoninsegna, so sein vollständiger Name, ist uns nahezu nichts bekannt, was den revolutionären Schritt in seiner Malweise – übrigens ähnlich der des Giotto – erklären könnte. Es scheint, als sei er bäuerlicher Herkunft gewesen, geboren zwischen 1250 und 1260. Jedenfalls |b 15|eröffnet er, vielleicht um 1270 herum, in Siena seine Malerwerkstatt. Es existieren insgesamt 37 Dokumente über sein Leben, allesamt Archivakten aus der Stadtverwaltung in Siena. Was sein Leben war, läßt sich – vorerst – nur aus diesen Akten erschließen. Und die geben folgendes preis:
  • [095:33] Er war verheiratet und hatte vermutlich sechs Söhne und zwei Töchter; mindestens drei dieser Kinder erreichten das Erwachsenenalter.
  • [095:34] Er hat zunächst vorwiegend seinen Lebensunterhalt durch das Bemalen von Möbeln verdient. Darin war er offenbar so gut, daß die Stadtverwaltungvon Siena ihn beauftragte, die städtischen Schatztruhen zu bemalen.
  • [095:35] Beständig kam er mit der Strafgerichtsbarkeit in Konflikt: Er mußte Geldbußenzahlen für die öffentliche Beleidigung angesehener Bürger, für ungebührliches Betragen auf der Straße, für das unerlaubte Betreten oder gar Verwüsten fremden Geländes, für nicht bezahlte Schulden, schließlich auch für die Verweigerung des Militärdienstes (zu einer Parade und einem Feldzug war er, obwohl als Bürger der Stadt Siena dazu verpflichtet, nicht erschienen).
  • [095:36] Er bekam, über das Bemalen von Möbelstücken hinaus, Aufträge für Altarbilder, schließlich auch seinen berühmtesten: den großen Altar (
    Maesta
    )im damals gerade vor dem Bauabschluß stehenden Dom von Siena.
[095:37] Das ist alles. Kann man daraus eine Erklärung gewinnen für die Art, in der er die Mutter-Kind-Dyade malte? Hatte er vielleicht, exzentrisch wie er gewesen zu sein scheint, weniger Interesse an den zeitgenössischen Bürgern, dafür um so mehr an Kindern und Müttern? Und warum? Hatte seine Distanz zum Kriegshandwerk etwas zu tun mit der Aufmerksamkeit, die er in seinen Bildern dem Kinde zuwendete? Konnte er überhaupt lesen und schreiben? Hat er beispielsweise jene von mir eingangs |b 16|zitierten Verse Vergils aus den Hirtengedichten kennen können? Welches waren die Erzählungen, aus denen er die Impulse für seine Bilder schöpfte? Später gab es die Humanisten, die zwischen Maler und Auftraggeber vermittelten und die, da der Maler häufig nicht über die vom Auftraggeber gewünschte Bildung verfügten, im einzelnen erläuterten, was zu malen sei. In den Verträgen, die er mit der Stadt- bzw. Dom-Verwaltung schloß, gibt es keine Hinweise darauf, daß man ihm Anweisungen gegeben hätte, wie Madonna und Kind zu malen seien.
[095:38] Im übrigen lebte er eher ärmlich als wohlhabend. Im Jahre 1313 allerdings, auf der Höhe seiner Produktivität – einige Jahre vorher (1308 – 1311) war sein riesiges Altargemälde (die
Maesta
) in einer Art Triumphzug in den Dom geschafft worden – besaß er 40 Lire Bargeld; das war ungefähr der halbe Jahreslohn eines Dienstboten oder der Wochenlohn eines Professors. Zehn Jahre vorher konnte er sich einen kleinen Weingarten am Rande der Stadt kaufen.
[095:39] (Vor drei Jahren behauptete ein Kunsthistoriker (Deuchler 1984), Duccio habe auch eine Reise nach Paris unternommen. Ich wüßte nicht, warum er dahin gegangen sein sollte. Ich glaube also dieser Vermutung nicht. Wenn schon Legenden etwas zur Wahrheitsfindung beizutragen vermöchten, würde ich lieber diese erfinden: daß Duccio nämlich, nachdem er das hier besprochene Bild fertiggestellt hatte, nach Reggio di Emilia ging, um dort mit dem zwar schon ziemlich alten, aber gebildeten, lebenslustigen, nüchternen und witzigen Franziskaner Salimbene zu sprechen, der gerade seine Memoiren schrieb.)
[095:40] Derartige Informationen wirken anekdotisch, und ich kann aus ihnen keine plausible Erklärung für Duccios Malweise gewinnen – jedenfalls vorerst nicht. Ich denke, diese in den Bildern Duccios zum Vorschein kommende Sichtweise für das Verhältnis zwischen Mutter und Kind läßt sich nicht, jedenfalls nicht im ersten Schritt, über eine |b 17|Rekonstruktion des individuellen Lebens- oder Bildungsschicksals verstehen, sondern nur über das historisch Allgemeine. Ich drehe deshalb meine Frage um: Ich frage nicht, wie kam Duccio dazu, so zu malen; sondern ich frage, warum fand die Malweise Duccios so viel Anklang, so viele Auftraggeber und Käufer, so viele Begeisterte Betrachter (bis hin zu Vasari, der eine Madonna für Sta. Maria in Florenz noch für ein Werk Cimabues hielt und einen legendären Bericht hinzufügte, zum Ruhme Cimabues, obwohl diese
Madonna Rucellai
von Duccio stammt)? Duccio muß, anders scheint es mir nicht erklärbar, etwas Allgemeines im Lebensgefühl um 1300 getroffen haben.

4. Das Allgemeine im Individuellen

[095:41] Ein erster Anhaltspunkt sind vergleichsweise triviale Befunde: Das von mir hier in den Mittelpunkt gerückte Bild stammt möglicherweise gar nicht von Duccio. Jedenfalls wurden von Kunsthistorikern Zweifel angemeldet. Wichtig daran ist, daß innerhalb von nur einer Generation soch diese Malweise derart ausbreitet, daß von einer Schule gesprochen wird, die einen konsistenten Stil verfolgt, und daß Hunderte von Bildern dieser Art entstehen.
[095:42] Sie finden offenbar Käufer in großer Zahl, nicht nur bei den kirchlichen Auftraggebern, sondern auch bei der politischen Administration und bei wohlhabenden Bürgern. Duccio muß also mit seinen bewegt-interagierenden Kindern etwas getroffen haben, das von allgemeinem Interesse war. Die Tatsache, daß das von mir interpretierte Bild vielleicht nicht von Duccio gemalt wurde, ist dafür ein signifikantes Symptom: Der vermutliche Nachahmer (in der kunstgeschichtlichen Literatur nun
Meister von Crevole
genannt, man kennt seinen Namen nicht) hat den neuen Beziehungsgestus zwischen Mutter und Kind so genau getroffen, daß das Bild noch 1979 Duccio zugeschrieben wurde, dem allseits |b 18|anerkannten Protagonisten dieser Darstellungsart. Der Urheber darf uns also gleichgültig sein. Der Typus interessiert. Wie also können wir uns die rasche Verbreitung dieses pädagogischen Beziehungstypus erklären, welches könnten die Gründe sein für den Enthusiasmus, mit dem er zur Kenntnis genommen wurde?
[095:43] In der Einleitung – durch Hinweise auf die Bauern in Südfrankreich, auf Vergils Hirtengedichte, auf die zeitgenössische Kritik an Kaiser Friedrichs II. Kinderexperimenten – hatte ich den Deutungsweg schon grob angezeigt. Nun soll er etwas plausibler gemacht werden, und zwar dadurch, daß ich drei Stichworte erläutere: Stadtkultur, die Predigten der Bettelmönche und Aufmerksamkeit für den Körper bzw.
Habitus
.
[095:44] 1. Stadtkultur. Duccio malte und verkaufte seine Bilder in der Stadt. Die Stadtherrschaft stand vor dem Problem, angesichts spannungsreicher Differenzen zwischen Groß- und Kleinbürgern, Bürgern und Bauern, Dom und Signoria, Papst- und Kaiserpartei die verschiedenen Bevölkerungsgruppen möglichst breit zu repräsentieren.
Öffentliche Kommunikation
war also auf ein Zeichenrepertoire angewiesen, das alle verstanden. In dieser Situation kann es geschehen, daß der Maler zum Medien-Macher wird. Maler waren damals im untereren Bereich der sozialen Schichtungsskala angesiedelt; waren sie bei einem Patrizier oder von der Kirche fest angestellt, hatten sie ungefähr den Rang eines Hausburschen; malten sie frei, in der eigenen Werkstatt, dann waren sie nicht einmal, wie etwa die kleinen Handwerker, zunftmäßig organisiert – ohne geregeltes Einkommen und soziale Sicherung also. Aber sie hatten soziale Kontakte nach zwei Seiten hin: zu den gebildeten Auftraggebern und zu den unteren Statusgruppen.
[095:45] Hinzu kam, daß – wohl zum ersten Mal in der neu-europäischen Geschichte – Stadtbewohner den Eindruck haben konnten, gleichsam an der vordersten Front der gesellschaftlichen Entwicklung sich zu befinden. Die |b 19|Lebensjahre Duccios sind zugleich diejenigen mit der höchsten Rate von Stadtgründungen in Europa. Der Geldverkehr nahm rasch zu, das agrarische Umfeld florierte. Als Duccio berühmt wurde, wurde gerade das Rathaus gebaut und der Dom geweiht.
[095:46] In dieser Situation – so stelle ich mir vor – entstand für den Maler die Aufgabe, eine Bildstruktur zu finden, in der das Bedürfnis der öffentlichen Einrichtung nach prächtig-kostbarer Darstellung, das überlieferte Symbol-Repertoire der Kirche und die im Volk entstandene neue Bewegtheit, Lebendigkeit, das Interesse an realistischer Expressivität der Körper- und Interaktionsgesten zusammenkamen. Offenbar war Duccio bei der Lösung dieses Strukturproblems erforlgreich. Übrigens beeilte er sich, in seinen folgenden Bildern die Stadtarchitektur von Siena unverwechselbar ins Bild zu bringen, ebenso wie das agrarische Umfeld. Er hat also nicht nur ein mythisches mit einem pädagogisch-alltäglichen Thema zusammengeführt, sondern es in seiner eigenen Stadtkultur lokalisiert.
[095:47] 2. Wanderprediger. Aus der Zeit um 1300 gibt es von Duccio eine franziskanische Auftragsarbeit (Madonna dei Francescani). Sie zeigt eine Madonna mit Jesus-Knaben, der indessen hier seine Arme nicht der Mutter, sondern drei Bettelmönchen entgegenstreckt, die auf der unteren linken Bildecke in aufblickend-andächtiger Haltung aufgestellt sind. Franziskaner repräsentieren nicht nur einen besonderen Frömmigkeits-Typus, sondern auch, auf exponierte Weise, die große Volksbildungs-Bewegung der bettelnden Wanderprediger. Bei dem Vergleich der überlieferten Predigttexte, chronologisch durch das 13. Jahrhundert hindurch, fällt auf, daß sie sich allmählich von einer Rhetorik, in der scholastische Distinktionen vorherrschten (z. B. zwischen Tieren, Menschen und Engeln; oder zwischen abgestuften Graden von Schlechtigkeit zwischen Menschen) entfernten und sie in einen anderen, dem sozialen Alltag näheren Ton transformierten: Erzählungen und Anekdoten nehmen zu, |b 20|die Belehrungen werden erfahrungsnah, die verschieden sozialen Gruppen in der Zuhörerschaft werden gezielt angesprochen (vgl. Hefele 1910, s. 91 ff.). Berthold von Regensburg beispielsweise, in einer Predigt über die Völlerei (um 1260), betonte ausdrücklich, daß seine Ermahnungen natürlich nicht für die Mehrheit seiner Zuhörer gelten könnten, da ihnen die materiellen Mittel zur genüßlichen Ausschweifung fehlten (Borst 1985, S. 183 ff.).
[095:48] Auf diesem Stand ungefähr war die Rhetorik der Wanderprediger angelangt, als Duccio sie (vermutlich) hörte. Ich denke, das hat ihm gut gefallen. Es muß ihm wie eine Rechtfertigung dafür erschienen sein, in die sakrale Thematik seiner Bilder nun auch etwas von dem Alltagsleben einzufädeln. Und da er mit dem vom Franziskaner-Orden ins Werk gesetzten propagandistischem Fresko-Programm (Blume 1983) weniger im Sinn hatte als sein fast gleichaltriger Kollege Giotto, dafür aber um so mehr Interesse an Kindern, brachte er eben diese pädagogische Alltäglichkeit ins Bild.
[095:49] Die Bedeutung der lebendigen Körpergeste des Kindes kann, darüber hinaus, aber noch einen anderen Grund haben – den ich indessen hier nur as empirisch höchst riskante Konjektur geltend machen kann. Als Duccio gerade ein Kind war, befand sich der Franziskaner-Orden in Schwierigkeiten, und zwar (u. a.) im Hinblick auf die Frage, ob die Ordensregel, gut eine Generation nach dem Tode des Franziskus, nicht veränderten Umständen angepaßt werden sollte (Borst 1973, S. 531 ff.). Ein dazu einberufenes Kolleg kam in Narbonne zusammen, und der Ordens-General Bonaventura, Kollege des Thomas von Aquin in Paris, schrieb einen Kommentar. Dieser Kommentar nun – und das ist ein soziologisch ziemlich bemerkenswerter Sachverhalt – macht, um zuverässige Gründe für diese oder jene Änderung der Regel zu finden, das Problem des Generationen-Verhältnisses geltend: Die jungen Ordensbrüder haben anderes im Sinn als die alten; es läßt sich nicht so ohne weiteres entscheiden, wer von |b 21|beiden recht hat; Bonaventura scheint zu spüren, daß das ein unerhörter Gedanke ist, und er verknüpft ihn, merklich mühevoll, mit der Kontinuität der Ordenstradition.
[095:50] Durch zwei Ursachen sieht er die Kontinuität gefährdet: die rapide steigende Zahl der Ordensmitglieder (auf mehr als 17.000 geschätzt) und die wachsende Differenz im Habitus der Generationen. Dies ist nun ein systemisches Grundproblem, mit dem fortan alle Einrichtungen zu tun haben, die sich eine organisierte Bildung des Nachwuchses zum Ziel setzen: wie bewältigt man die größer werdende Zahl angesichts der Tatsache, daß sich mit der wachsenden Zahl auch die ins Spiel kommenden Einstellungen der jungen Generation immer schwerer prognostizieren lassen? Tritt dieses Problem auf, wird eine Gruppe von Daten interessant, die sich u. a. durch genaue Aufmerksamkeit auf die Erscheinungsweise der jungen Menschen beschaffen läßt. Duccio macht, zwanzig Jahre nach Bonaventuras Überlegungen und auf dem Höhepunkt der erfahrungsnahen Rhetorik der Wanderprediger, dazu einen Vorschlag: er empfiehlt eine Sehweise, die die Eigentümlichkeit kindlicher Leiblichkeit hervorhebt.
[095:51] 3. Habitus. In vielen von Auftraggebern geäußerten Erwartungen an Maler finden sich Textpassagen wie diese, aus einem Brief:
[095:52]
Ein Tafelbild mit Unserer Lieben Frau auf Goldgrund ... Der Holzsockel mit Ornamenten und Blattwerk, schön und sorgfältig geschnitzt, so daß er Eindruck macht. Die Malerei mit guten und schönen Figuren vom besten Meister vor Ort, figurenreich. ... die Figuren müssen groß und prächtig sein, die besten und schönsten eben, die Ihr für 5 1/2 bis höchstens 6 1/2 Gulden erwerben könnt. Außerdem noch ein Madonnenbild auf Goldgrund, gleiche Art, aber etwas kleiner, ca. 4 Gulden, nicht mehr. Die beiden Tafeln müssen gute Figuren haben. Ich brauche sie für Kunden, die darauf großen Wert legen.
(Origo 1985, S. 33)
|b 22|
[095:53] Was bedeutet diese Wertschätzung der
Figur
? Als der Brief geschrieben wurde (1373), waren die Bilder Duccios, der anderen Sieneser Maler, auch des großen Zeitgenossen Giotto längst bekannt. An ihnen sieht man, daß die
gute
Figur eine bewegte Figur war, an der zugleich auch die Oberflächenreize des lebendigen Leibes den Sinnen des Betrachters zugänglich dargeboten wurden; und das galt besonders für die Darstellung von Kindern. Der Mönch Salimbene sagte von ihnen:
Sie vermögen nocht zu leben ohne das Händepatschen und das fröhliche Gesichterschneiden.
Konrad von Megenberg schreibt (1352) in einem Buch über die Praxis des Haushaltens:
[095:54]
Auch soll das Kind mit geziemenden Spielen und zuträglicher Bewegung beschäftigt und einer gesunden Luft ausgesetzt werden. Geziemende Kinderspiele sind das Puppenspiel, das Herumrollen von Holzspielzeug und sich selbst im Spiegel Betrachten. Denn die Kindheit kennt noch das Erstaunen über kleinste Dinge und ist mit Einfachem zufrieden. Mit solchen Spielen wird die kindliche Seele erfreut, das Blut kommt in Bewegung und der Geist wird geschärft; wobei durch das Herumlaufen zugleich die Gliedmaßen sinnvoll bewegt werden, der gesamte Körper gestärkt wird und auch eine angestrebte Kräftigung erfährt. [095:55] Angemessene Bewegung ist etwa das muntere Laufen um das Haus und innerhalb des Hofes, wo weder tiefe Gruben oder die Gefräßigkeit wilder Tiere Schaden stiften können ... Zumeist toben sie solange herum, bis sie eine Schwere in ihren Gliedern und Ermattung am ganzen Körper spüren; übermüdet weinen sie dann, ohne zu wissen, was ihnen angeboten wird oder nehmen es nur widerwillig. An diesen Zeichen erkennt eine gute Amme, daß es für das Kind Zeit zum Schlafen ist.
(Arnold 1980, S. 140)
[095:56]
An diesen Zeichen
: Die Bewegung, die ein Deutungsvorgang durchlaufen muß, beginnt, nach zeitgenössischer Theorie, allemal bei den Körperzeichen, bei dem, was der Erfahrung unmittelbar gegeben zu sein |b 23|scheint, auf der
wörtlichen
Stufe der Auslegungskunst. Dante bekräftigt das zur gleichen Zeit, als Duccio seine Bilder malte: Es
muß immer die wörtliche Bedeutung vorangehen da in ihr die übrigen Bedeutungen beschlossen sind und es unmöglich und unvernünftig wäre, ohne sie die anderen Bedeutungen, zumal die allegorische, verstehen zu wollen. Es ist unmöglich, weil man bei keinem Ding, das ein Innen und Außen hat, zum, Inneren gelangen kann, wenn man nicht zuvor an das Äußere herangeht
(Garin 1964)
. Das liest sich fast wie eine Malanweisung, der Duccio gefolgt sein könnte: er sich an die
Wortbedeutung
, d.h. hier – wo es nicht nur um die Auslegung der Heiligen Schrift, sondern mindestens ebenso um die Auslegung alltäglicher Erfahrung geht – an die Bedeutung der gleichsam primären Körperzeichen. Es geht zunächst einmal darum, was beim Kinde
Händepatschen
,
fröhliche Gesichter schneiden
, Greifen, die Glieder recken und bewegen bedeutet.
[095:57] Derartige Aufmerksamkeiten – und das soll nun die letzte meiner riskanten Vermutungen sein – haben eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem, was Thomas von Aquin als
Habitus
beschrieb, nur wenige Jahre bevor Duccio diese Madonna malte. Im Begriff des Habitus möchte Thomas eine dem Menschen eigentümliche Beziehung zwischen Leib und Geist zur Sprache bringen. Damit der
Geist (intellectus) aus seiner Möglichkeit (potentia) in seine Wirklichkeit (actus)
überführt werden kann
(Klünker 1987)
, bedürfe es des beseelten Leibes. Dieser drücke in seinen Bewegungen die Bildung eines Menschen aus und sei deshalb Indikator dafür, ob sich ein Mensch auf dem Weg der Tugend sich befindet und welchen Entwicklungsstand er erreicht hat. Dieser leib-seelische Zustand habe also eine Innen- und eine Außenseite. Die Außenseite zeige sich in den Körpergesten. Diese seien nicht nur Indikator für den Zustand des beobachteten Anderen, sondern zugleich Aufforderung an den Habitus des Beobachters. Dessen Erkenntnis könne auf diese Weise vorbereitet werden, insofern der Beobachter in sich |b 24|selbst den entsprechenden Habitus erzeuge.
[095:58] Das hört sich an wie eine Theorie zur bildenden Wirkung von Bildern und zugleich wie eine Ermahnung an die Maler, bei der Darstellung des menschlichen Körpers, der lebendigen Geste besonders sorgfältig zu verfahren. Stellt man sich nun vor, daß Duccio vielleicht ähnliche Ideen im Kopf hatte, dann erscheint seine Art der Darstellung des Jesus-Knaben mindestens plausibel. Er malte den Leib-Habitus in einer Weise, die zwei Kriterien entsprechen mußte: Jesus als Kind mußte ein frühes Stadium des Bildungsprozesses leibhaftig veranschaulichen; das Kind als Jesus mußte so gemalt werden, daß der Habitus als ein guter, als ein die Erkenntnis des Betrachters vorbereitender deutlich wurde. Genau dies bekräftigt die aus dem Bild heraus- und den Betrachter anblickende Madonna.

Vorbehalt aus ästhetischer Theorie

[095:59] Wofür also kann dieses Bild, wofür können derartige Bilder eine erziehungs- oder bildungsgeschichtliche Quelle sein? Abbildungen dessen, was zwischen Müttern und Kindern geschah, sind es nicht. 22 Madonnen-Bilder werden Duccio zugeschrieben; 17 davon zeigen den Knaben mit ausgestrecktem Arm; auch Giotto nimmt in seinen späten Bildern diese ikonische Geste auf, und viele andere folgen diesem ikonischen Modell. Schon diese triviale Beobachtung zeigt, daß es absurd wäre, darin eine Beschreibun des
wirklichen
Verhaltens von Kindern, der
wirklichen
Interaktion zwischen Müttern und Kindern zu sehen.
[095:60] Sollen wir also ikonische Dokumente nur als Kommentare betrachten? Was können sie kommentieren und wieweit können wir aus dem Kommentar das Kommentierte erschließen? Aus dem Fehlen des Kind-Sujets in der modernen Malerei kann man gewiß nicht daruaf schließen, daß diese Malerei – um einen modischen Ausdruck zu |b 25|verwenden – das
Verschwinden der Kindheit
oder das
Ende der Erziehung
kommentiert. Ebenso wenig aber können wir aus der byzantischen Malweise schließen, daß der Jesus-Knabe dort irgend etwas über Empathie zwischen Müttern und Kindern kommentiert, noch aus Duccios Bildern, daß sie das Auftauchen von Empathie kommentiern.
[095:61] Dennoch
beschreiben
die Bilder Duccios etwas. Vielleicht aber sollte man besser sagen, daß sie etwas
zeigen
und daß sie diese Zeitgeste beschreiben – oder: daß sie eine neue Sprache vorschlagen, so wie auch in den anderen von mir zitierten Quellen eine besondere Art des Redens über Körper und Kinder probiert wird. Duccio eröffnete damit einen ikonischen Diskurs über Kinder und Mütter. Ob es einen analogen Diskurs in der Alltagspraxis der Erziehung nicht längst schon gab, läßt sich mit Bildern nicht entscheiden. Jedenfalls wird er nun formell und öffentlich. Daran haben die Poesie, die Stadtkultur, die Franziskaner, die philosophisch-theologischen Diskussionen zweifellos ihren Anteil. Ob es mehr ist als ein Diskurs der Intellektuellen, ob dies alles auch repräsentiert, was im Erziehungsalltag geschah, bleibt ungewiß. Gewiß ist nur, daß Duccio einen Diskurs über Kindheit begann, den ikonischen Anfang eines differenziellen Wissens über Kindheit machte, der 150 Jahre später einen Höhepunkt in Filippo Lippis Dahlemer Madonna mit dem Kind erreichte. Ein Diskurs, der sich nach dieser Verkindlichung Gottes, bis in die Vergöttlichung des Kindes in der Romantik, ja noch bis in unsere Reklametafeln hinein fortsetzte und zugleich transformierte.
|b 26|
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes “Madonna di Crevole” von Duccio di Buoninsegna aus den Jahren 1283/84 zu sehen.
Duccio, Madonna di Crevole (3)
|b 27|

Literatur

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    [095:63] Appuhn, Horst: Einführung in die Ikonographie der mittelalterlichen Kunst in Deutschland, Darmstadt 1980²
    [095:64] Arnold, Klaus: Kind und Gesellschaft in Mittelalter und Renaissance, Paderborn 1980
    [095:65] Blume, Dieter: Wandmalerei als Ordenspropaganda. Bildprogramme im Chorbereich franziskanischer Konvente Italiens bis zur Mitte des 14. Jahrhunderts, Worms 1983
    [095:66] Borst, Arno: Lebensformen im Mittelalter, Frankfurt/M., Berlin 1979
    [095:67] Brooke, Rosalind B.: The Coming of the Friars, London/New York 1975
    [095:68] Celano, Thomas von: Leben und Wunder des heiligen Franziskus von Assisi. Einführung, Übersetzung, Anmerkungen von P. Engelbert Grau, Werl 1955
    [095:69] Chapeaurouge, Donat de: Einführung in die Geschichte der christlichen Symbole, Darmstadt 1984
    [095:70] Comparetti, Domenico: Virgil im Mittelalter, Leipzig 1875
    [095:71] Deuchler, Florens: Duccio, Milano 1984
    [095:72] Duby, Georges: Europa im Mittelalter, Stuttgart 1986
    [095:73] Duby, Georges: Die Kunst des Mittelalters, 3 Bände, Stuttgart 1984/85
    [095:74] Ennen, Edith: Die Stadt zwischen Mittelalter und Gegenwart. In: Carl Haase (Hg.), Die Stadt des Mittelalters, 1. Band: Begriff, Entstehung und Ausbreitung, Darmstadt 1969, S. 416 – 435
    |b 28|
    [095:75] Ennen, Edith: Stadt und Schule in ihrem wechselseitigen Verhältnis vornehmlich im Mittelalter, In: Haase, Die Stadt des Mittelalters, 3. Band, Darmstadt 1973, S. 455 – 479
    [095:76] Franziskus. Engel des sechsten Siegels. Sein Leben nach den Schriften des heiligen Bonaventura. Einführung, Übersetzung, Anmerkungen von Sophronius Clasen, Werl 1962
    [095:77] Garin, Eugenio: Geschichte und Dokumente der abendländischen Pädagogik I, Mittelalter, Reinbek 1964 (Quellen-Sammlung)
    [095:78] Garnier, Francois: Le langage de l’image en moyen-âge – Signification et Symbolique, Paris 1982²
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    [095:80] Hefele, H.: Die Bettelorden und das religiöse Volksleben Ober- und Mittelitaliens im XIII. Jahrhundert, Leipzig/Berlin 1910
    [095:81] Klünker, Wolf-Ulrich: Die Bedeutung von
    habitus
    und
    forma
    für die mittelalterliche Bildung, 1987 (in diesem Band)
    [095:82] Le Goff, Jacques: Die Intellektuellen im Mittelalter, Stuttgart 1986
    [095:83] Le Roy Ladurie, E.: Montaillou. Ein Dorf vor dem Großinquisitor 1294 – 1324, Zürich 1982
    [095:84] Neumeyer, Alfred: Der Blick aus dem Bilde, Berlin 1964
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    Im Namen Gottes und des Geschäfts
    . Lebensbild eines toskanischen Kaufmanns der Frührenaissance, München 1985
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    Bewußtsein
    . In: Theorie der Subjektivität, hg. von K. Cramer, H. F. Gulda, R.-P. Horstmann, U. Pothast, Frankfurt/M. 1987
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    [095:92] Steenberghen, Fernand van: Die Philosophie im 13. Jahrhundert, Paderborn 1977
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