Korrekturen am Bildungsbegriff?1
Zusammenfassung
1. Wovon die Rede sein soll
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–[093:8] Das soziologische Interesse an den„neuen sozialen Bewegungen“konzentriert sich ganz, oder doch vorwiegend, auf die Frage, inwiefern das darin sich anzeigende„Neue“mit sozialstrukturellen Ereignissen oder Daten in eine erklärende Kontinuität gebracht werden könne und ob sich daraus irgendeine nennenswerte Perspektive für politisches Handeln oder gesellschaftliche Zukunft ergebe (Brand 1982).
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–[093:9] Das erziehungswissenschaftliche Interesse, so etwa von Hornstein (1984) zur Sprache gebracht, läuft gegenwärtig eher noch auf Appelle hinaus, auf die Aufforderung, die Herausforderung jener Bewegungen für gründlichere Selbstreflexionen dieser Wissen schaft und andere Forschungsprioritäten zu nutzen. denkt sich eine„fruchtbare Beziehung der Pädagogik zu den neuen sozialen Bewegungen“„Die pädagogische Reflexion beteiligt sich an dem durch die sozialen Bewegungen in Gang gesetzten Prozeß der geschichtlichen Selbstverständigung und Ortsbestimmung, und zwar im Hinblick auf seine Implikationen für individuelle und kollektive Emanzipation im Sinne der Selbstbefreiung und humanen Verwirklichung menschlichen Lebens “(a.a.O., S. 157)„Postmoderne“; für die Pädagogik solle sich die Konsequenz ergeben, daß sie„in sehr viel entschiedenerer Weise als bisher Spontaneität, Subjektivität und Eigenleistung der Individuen zu ihrem Ansatz- und Ausgangspunkt machen müßte “(a.a.O., S. 161)„im Prozeß der Entstehung der Moderne“„die Möglichkeit der Zukunft ... inhaltlich als Entwurf eines humanen Lebens und einer humanen Gesellschaft“„die subjektiven Problemsichten und Lebensentwürfe und darin erscheinenden alternativen Lebensentwürfe“(a.a.O., S. 163f.). Diese Art von Aufforderung ist mir seit„Erziehung des Menschengeschlechts“, seit Hermeneutik, seit Phänomenologie, seit und , schließlich auch seit der phänomenologischen Soziologie bekannt. Erinnern die neuen sozialen Bewegungen den Pädagogen also nur an bereits Bekanntes?
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–[093:10] scheint dieser Meinung zu sein und schreibt seine Bildungstheorie (deshalb?) als kontinuierliche Fortsetzung seiner theoretischen Anfänge aus den fünfziger |b 5|Jahren, Jedes Kokettieren mit der„Postmoderne“ist ihm fremd. Sein bildungstheoretisches Denken verbleibt, mit guten Gründen, im Rahmen der durch Schulen organisierten Lernprozesse; und dort gibt es nur die curriculare Variation, methodische und inhaltliche Neuanpassungen also an jeweils neu scheinende Problemstellungen. Nach einer Auflistung von„Schlüsselproblemen unserer Zeit“, in die sehr viel von dem eingeht, was von den neuen sozialen Bewegungen zum Thema gemacht wird und die durchaus Konturen eines zukunftsfähigen Curriculums erkennen läßt, formuliert er, gleichsam als kategorialen Extrakt, drei Notwendigkeiten: 1.„Offenheit dafür zu gewinnen, neue Erfahrungen machen zu können“„Grundkategorien zu gewinnen, in deren Spur man an neue Erfahrungen ... Fragen stellen kann“„Bereitschaft erlernen, neue Informationen einzuholen und zu verarbeiten“(Klafki 1985, S. 26)„der schematischen Trennung von Allgemeinbildung und Berufsbildung“„Spannung“„Ziele, Inhalte und Fähigkeiten“„Überwindung der Scheidung von theoretischer Bildung und sog. praktischer Ausbildung ..., von geistiger und körperlicher Arbeit “(a.a.O., S. 28)
2. Wie alles anfing
3. Leib
4. Arbeit und Interaktion
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–[093:31] Sie weisen darauf hin, daß die Rückgewinnung eines Typs von Arbeit, die nicht nur mechanisiert und fremdbestimmt ist, immer noch wenigstens denkbar bleibt.
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–[093:32] Sie weisen uns darauf hin, daß – will man das Denkbare ins Machbare übertragen – die Beziehung zwischen Arbeit und Lebenssinn zwar wieder dichter wird, daß diese größere Dichte aber nur um den Preis eines Mehr an Arbeitszeit, eines Weniger an Wohlstand und einer gesellschaftlich-historischen Marginalisierung zu haben ist.
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–[093:33] Sie weisen uns ferner darauf hin, daß dieses Mehr an Zeit nur insofern auch ein Mehr an Sinn mit sich führt, als es mit mehr Kommunikation verbunden ist.
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–[093:34] Sie weisen uns schließlich auf eine archaisch scheinende Figur hin: auf die Annahme nämlich, daß das über gegenständliche Hervorbringungen vermittelte Welt- und Selbstverständnis einen Halt im ökologischen Umfeld, im Verhältnis zur Natur haben müsse, eine ethische Orientierungsdimension also, durch die ein mindestens schonender Umgang mit Tieren, Pflanzen und Materialien nahegelegt wird.
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(1)[093:36] Das Verhältnis zwischen Arbeit und Bildung, soweit es überhaupt als praktisch relevante Problemstellung in unser Erziehungswesen Eingang fand, blieb, als Verhältnis zwischen körperlicher und geistiger Arbeit, immer (mit nur ganz wenigen Ausnahmen) über die Status-Pyramide verteilt. Polytechnische Bildung, Arbeitslehre, Betriebspraktika auf der Sekundarstufe hatten zumeist nur die Funktion, für Hauptschüler künftige Berufswahlen vorzubereiten und für Gymnasial- oder Oberstufen-Schüler die intellektuelle Aufklärung über das zu besorgen, was man später glücklicherweise nicht zu machen brauchte, was zu wissen aber nützlich sein konnte. Sofern der Arbeit, der gegenständlichen Hervorbringung als Tätigkeit, nicht nur als Wissensinhalt, überhaupt eine für die Bildung der Person fundamentale Bedeutung zugesprochen wurde, beschränkte sie sich auf die frühen Stufen des Bildungsprozesses. – In dieser Hinsicht ist nun eine andere Situation entstanden: In dem Maße, in dem intellektuell Ausgebildete sich aus akademischen Positionen entfernen und Positionen im Bereich von Handarbeit aufsuchen, der Anteil von Abiturienten, die ihre Bildungskarriere nicht an den Hochschulen fortsetzen wollen, steigt, eine„postmaterialistische“Orientierung zunimmt (Inglehart 1977; Dubiel 1985, S. 46ff.; Brand 1982, S. 63ff.; Hornstein 1984), die Grenzen einer die Natur rücksichtslos ausbeutenden wissenschaftlich-technisch-industriellen Zivilisation immer plausibler werden – in dem Maße könnte ein Konzept zum Verhältnis von Arbeit und Bildung aus dem Winkel von Fachdiskussionen und Modell-Projekten herausgeführt werden, das den Prozeß der Bildung des Menschen an die gegenständliche Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur und seiner Leibhaftigkeit fundamental bindet.
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(2)[093:37] Derartige Probleme stellen sich ihrer Art nach im Bereich gesellschaftlich organisierter Arbeit der Erwachsenen anders als im Bereich der Bildung des Nachwuchses. Diese bildungstheoretische Behauptung kann heute darauf hoffen, nicht sogleich in Ideologieverdacht zu geraten. Vor 20 Jahren war das noch schwieriger: Damals spielte in erziehungswissenschaftlichen Argumentationen eine Art soziologischer„Realismus“gelegentlich eine wichtige Rolle, demzufolge vorwiegend die Auseinandersetzung des Kindes mit den gesellschaftlich tatsächlichen Formen von Arbeit, insbesondere der kapitalistischen industriellen Arbeitsteilung, bildend sei. Versuche, die Kinder mit Arbeitsvollzügen vertraut zu machen, die eher dem vorindustriellen Typus zugehören, galten eher als romantisch-volkstümelnd. Durch die Optionen der neuen sozialen Bewegungen hat sich die Argumentationslage verschoben. Es kann nun gleichsam wieder entspannter über den Bildungssinn von Arbeit nachgedacht werden, in sorgfältiger Erwägung der Bedeutung von Alters- und Bildungsstufen und im Hinblick auf eine Bildungspraxis, die nicht nur eine aufgeklärte Kritik des Systems gesellschaftlicher Arbeit zum Ziel hat, sondern zunächst die bildenden Wirkungen lebendiger Tätigkeit, produktiver Handarbeit |b 12|entfalten will (vgl. z. B. Negt 1984). Wenn ein„schonender“Umgang mit Natur zu unseren Bildungszielen gehören soll, dann verdienen gerade diejenigen Arbeitstypen den Vorzug im Hinblick auf den Bildungsprozeß, die – wie immer auch werkzeugvermittelt – Natur als gegenständlich erfahrbar erscheinen lassen. Der soziologisch gemeinte Satz enthält deshalb eine bildungstheoretische Bedeutung:„Die Alternative zum System bürgerlicher Erwerbsarbeit, das uns dumm und einseitig gemacht hat, ist ... der Kampf um die Vervielfältigung und Erweiterung gesellschaftlich anerkannter Formen der Arbeit, die der Eigenproduktion und der Selbstverwirklichung dienen“(Negt 1984, S. 175)
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(3)[093:38] Wenngleich„Selbstverwirklichung“in diesem Zusammenhang – und übrigens auch in anderen – kein ganz glücklicher Begriff ist, jedenfalls solange, als eine befriedigende Auskunft darüber fehlt, wie sie sich zu„Selbstbestimmung“verhält (vgl. Theunissen 1982), enthält das Zitat im Kontext des Buches von Negt („Lebendige Arbeit, enteignete Zeit“) doch einen wesentlichen Hinweis, der weiter reicht als nur bis zur Bildungsbedeutung der gegenständlichen Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur: Lebendige Arbeit entfalte ihren Bildungssinn – so verstehe ich – erst dann, wenn sie nicht nur zur Auseinandersetzung mit äußerer Natur nötige, sondern zugleich mit innerer und – anders läßt sich dies gar nicht empirisch begründet denken – mit der„Natur“der anderen, des Alter Ego, mit Interaktion also. Und eben dies scheint mir die pädagogisch relevante Pointe der„alternativen“Arbeitsprojekte zu sein: Arbeit ist dort eingebunden in vielfältige Kommunikationen, oder auch umgekehrt: sinnvermittelnde Kommunikation hat sich zu bewähren in gemeinsamer Arbeit; ihr Bildungssinn ist also nicht nur fundamental, nicht nur in der gegenständlichen Auseinandersetzung des einzelnen Ich mit den Widerständen der äußeren Natur zu suchen, sondern vor allem in einem„Gespräch“(wenn man mit Bezug auf Arbeit so sagen darf), das seinen materiellen Halt in dem, freilich vom„Du“immer schon mitgebildeten, Vermögen zu produktiver Tätigkeit hat. Das bedeutet für viele Projekte – besonders eindrucksvoll beispielsweise in dem Krippen- und Kindergarten-Projekt in Reggio/Emilia zu studieren (Hermann u. a. 1984) – in der guten Tradition von Bürgerinitiativen und Gemeinwesenarbeit, daß die Tätigkeit des Kindes nicht nur an die tätige pädagogische Gruppe gebunden wird, sondern an einen Austausch mit dem gesellschaftlich-kulturellen Umfeld, in einem Netzwerk von Verständigungen. Derartige Projekte verknüpfen die Bildungsbemühungen mit einer Idee von politischer Kultur, in der die Tätigkeit des Kindes nicht in eine pädagogische Oase verwiesen wird, sondern als„Moment“des Ganzen erscheint. Das ist freilich nicht die dominante gesellschaftliche Wirklichkeit; aber es hat einen Bildungssinn insofern, als es, innerhalb unserer Kultur, zur Aufgabe des„Projekts Pädagogik“gehört, die Kultur gleichsam„noch einmal“, aus ihren Elementen und in einer, wie auch immer zu denkenden, Reihenfolge zu konstruieren.