Klaus Mollenhauer im Gespräch mit Theodor Schulze [Textfassung b]
|b 67|

Klaus Mollenhauer im Gespräch mit Theodor Schulze*
*Das Gespräch ist vom Tonband abgeschrieben und von Klaus Mollenhauer und Theodor Schulze durchgesehen worden.

[V66:1] Klaus Mollenhauer, Dr. phil., eboren 1928, aufgewachsen in Berlin, Cottbus und Neugard in Pommern, Scule, Dienst als Luftwaffenhelfer, Kriegsdienst und Gefangenschaft. Nach dem Abitur zunächst Ausbildung an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen (1948–1950) und Tätigkeit als Volksschullehrer in Bremen. Ab 1952 Studium der Pädagogik, Soziologie und Germanistik in Hamburg und Göttingen, daneben Jugendarbeit in einem Heim der offenen Tür, in der Heimerziehung und in der Jugendsozialarbeit. 1957 Promotion zum Dr. phil. bei Erich Weniger in Göttingen mit einer Dissertation über
Die Ursprünge der Sozialpädagogik in der industriellen Gesellschaft
(1959).
[V66:2] Weitere akademische Laufbahn: 1958–1962 Assistent am Pädagogischen Seminar in Göttingen; 1962–1965 Wissenschaftlicher Rat am Erziehungswissenschaftlichen Institut der Freien Universität Berlin; 1965–1966 a.o. Professor an der Pädagogischen Hochschule Berlin; 1966–1969 o. Professor an der Universität Kiel; 1969–1972 an der Universität Frankfurt; seit 1972 an der Universität Göttingen.
[V66:3] Schwerpunkt: Sozialpädagogik und Jugendarbeit. Wichtige Impulse und Beiträge für die Bereiche: Zusammenhang von Erziehung und Gesellschaft,
Erziehung und Emanzipation
(München 1968), erweitert zu einer Gesamtdarstellung der Pädagogik in der von Mollenhauer herausgegebenen Reihe
Grundfragen der Erziehungswissenschaft
(München 1969–1981), darin von ihm als Band 1
Theorien zum Erziehungsprozeß
(München 1972). Die Arbeiten
Vergessene Zusammenhänge. Über Kultur und Erziehung
(München 1983) und
Umwege. Über Bildung, Kultur und Erziehung
(München 1986) sind Versuche, die europäisch-neuzeitliche Erziehungsbewegung in ihren geschichtlichen Voraussetzungen und ihrer lebensweltlichen Fundierung neu zu rekonstruieren und zu erschließen.
|b 68|
[V66:4] Schulze, Theodor, Dr. phil., geb. 1926; ordentlicher Professor für Pädagogik in Bielefeld.
[V66:5] Theodor Schulze:
[V66:6] Als erstes will ich Dich fragen: Wie bist Du zur Pädagogik gekommen? Bist Du ein geborener Erziehungswissenschaftler, oder ist das ein Ausflug in fremde Reviere, der dann zu dauerhaftem Wohnsitz geführt hat, oder ist es ein Zufall oder eine Bekehrung?
[V66:7] Klaus Mollenhauer:
[V66:8] Herr Otto Friedrich Bollnow hat sicher gut daran getan, als er sagte: Biographische Details seien entbehrlich. Sie wirken ja auch, wenn es um Probleme der Wissenschaftsgeschichte geht, eher peinlich oder bekommen leicht einen sentimentalen Anstrich. Deshalb zögere ich darauf zu antworten. Bei mir ist es sehr trivial. Faktisch war es ein Zufall, daß ich ein Lehrerstudium aufgenommen habe, ich wollte eigentlich Chemie studieren. 1948 gab es einen Numerus clausus, und mein Abiturzeugnis war nicht gut genug, da blieb mir nur Pädagogik übrig. Ich hätte also entweder ein hervorragendes Abitur in den naturwissenschaftlichen Fächern haben oder Offizier im Krieg gewesen sein müssen. Da ich zwar im Krieg war, aber kein Offizier, kam des Chemiestudium nicht in Frage.
[V66:9] Schulze:
[V66:10] Daß Dein Vater sozialpädagogisch tätig war, spielt keine Rolle?
[V66:11] Mollenhauer:
[V66:12] Vielleicht. Aber das war damals noch kein Bestandteil einer bewußten Entscheidung. Ich habe allerdings in meinem Elternhaus so etwas wie eine pädagogische Atmosphäre, die auch das Familienleben überstieg, mitbekommen, insbesondere dadurch, daß meine beiden Eltern Sozialarbeiter gewesen sind. Mein Vater war Gefängnispädagoge.
[V66:13] Schulze:
[V66:14] Und diese Entscheidung enthielt bei Dir auch keine Komponente von Abwehr von Erziehungserfahrung, wie das für mich zum Beispiel bei Wilhelm Flitner anklang, wenn er von den schulmeisterlichen Reden in den Lehrerseminaren sprach. Ich denke, eine ganze Reihe von uns Pädagogen haben ja gewisse Ressentiments aus ihren früheren Erziehungserfahrungen nachträglich theoretisch zu bearbeiten versucht.
[V66:15] Mollenhauer:
[V66:16] Überhaupt nicht; mich hat die Schule einfach nur gelangweilt. Ich habe nie Aggressionen gegen die Schule gehabt. Ich fand es nur langweilig und |b 69|öde. Ich habe außerdem ein außerordentlich angenehmes Elternhaus gehabt und infolgedessen auch keine schwerwiegenden Autoritätskonflikte mit Vater oder Mutter, die ich dann lebenslang auf arbeiten mußte.
[V66:17] Schulze:
[V66:18] Dann möchte ich zu einem zweiten Themenbereich übergehen: Wilhelm Flitner hat davon gesprochen, daß eine Generation durch bestimmte Ereignisse und Beziehungen geprägt ist, die im Moment des kulturellen Erwachsens um das zwanzigste Lebensjahr herum dominierend waren. Gibt es für Dich solche Ereignisse oder Beziehungen, die generationenspezifisch sind?
[V66:19] Mollenhauer:
[V66:20] Unter denen, die im Jahr 1928 geboren wurden, sind häufig Unterhaltungen geführt worden über die Frage, ob es etwas Charakteristisches dieser Generation gebe. Es ist die Luftwaffenhelfergeneration. (Außerdem war es einer der besten Weinjahrgänge des Jahrhunderts.) Ich war 15 Jahre alt, als ich eingezogen wurde. Wir mußten die Familie verlassen, zunächst,um die Städte gegen die Luftangriffe zu verteidigen, dann im letzten halben Jahr in reguläre Kampfhandlungen involviert; in der Zeit zwischen dem 15. und 17. Lebensjahr mußten wir also etwas tun, was für die Altersphase ziemlich abwegig ist. Ich war dann in Gefangenschaft , wie die meisten meiner Generation. Für uns waren schon die ersten Jahre nach 1945 deshalb unterschieden von den Älteren, weil wir nicht aktiv als besonders arrivierte Führer in der Hitlerjugend tätig waren; andererseits unterschieden wir uns von den Jüngeren, weil wir den Krieg, das Ende der Nazizeit in einem Lebensalter erlebt haben, wo schon so etwas wie gesellschaftliches Bewußtsein erwacht war. [V66:21] Wäre Peter Martin Röder hier, dann würden vielleicht wichtige Differenzen in den
Milieus
deutlich werden, in denen wir groß geworden sind. Nach der Flucht wohnten wir zum Beispiel bei der Mutter von Klaus Traube, dem Atomphysiker. Die Familie Traube ist eine jüdische kommunistische Familie gewesen, alte Freunde meiner Eltern. Mein Vater war befreundet mit einem Landrat, der gleich nach dem Einmarsch der Besatzungstruppen eingesetzt wurde und der im KZ überlebt hatte. Diese Leute verkehrten dauernd bei uns zu Hause. Auch Klaus Traube war im KZ gewesen. Er war ein Jahr älter als ich und hatte bereits KZ-Erfahrung! [V66:22] Dagegen kam mir meine eigene Geschichte fast spielerisch vor. An diesen Vorgängen in meinem Elternhaus war ich natürlich eher hörend beteiligt. Das hat für mich persönlich eine sehr große Rolle gespielt, aber keine unmittelbare Bedeutung für die Wahl des pädagogischen Be|b 70|rufes gehabt: die war eher über langfristige Familientraditionen nahegelegt.
[V66:23] Schulze:
[V66:24] Ich möchte diese Überlegungen auf nehmen und noch etwas vertiefen. Aus den Aussagen von Wilhelm Flitner und Otto Friedrich Bollnow habe ich herausgehört, daß hinter ihren pädagogischen Intentionen und Interessen fast so etwas wie eine religiöse Grunderfahrung steht. Gibt es für Dich ein ausgeprägtes Motiv, Dich mit Pädagogik zu befassen?
[V66:25] Mollenhauer:
[V66:26] Das ist eine sehr schwierige Frage. Es sind sicher mehrere Motive, die mich bei der Stange gehalten haben und die nacheinander auftauchen. Ich habe die Vermutung, daß ein sehr wesentliches frühes Motiv eine Art Machtstreben gewesen ist. Ich erinnere mich an Phantasien während des Studiums an der Pädagogischen Hochschule. Ich sah mich in ganz traditioneller Manier als Dorfschullehrer, möglichst in einer einklassigen Dorfschule nicht nur für die Kinder, sondern eigentlich für alle zuständig; eine Art kulturelle Schlüsselrolle. Das ist offensichtlich eine Machtphantasie. Nachdem ich Adolf Reichwein gelesen hatte, konnte ich das sogar rechtfertigen. Dann kamen rationalisierende Motive hinzu. Daß ich dann daraus eine wissenschaftliche Karriere gemacht habe, hing wohl damit zusammen, daß mir das Studium pädagogischer Sachverhalte als das interessanteste Studium des Menschen überhaupt erschien. Pädagogik in einer Komplexität und historischen Tiefe, mit systematischen Möglichkeiten, wie ich es in dieser Art in anderen Disziplinen nicht finde.
[V66:27] Schulze:
[V66:28] Du hast von 1948–1950 an der Pädagogischen Hochschule in Göttingen studiert, hast die zweite Phase der Lehrerausbildung hinter Dich gebracht. Du bist dann nach Hamburg gegangen und später wieder nach Göttingen zurückgekehrt. Du hast Pädagogik studiert, insbesondere bei Erich Weniger, Herman Nohl und Wilhelm Flitner. Also in dem Kreis derer, die wir heute immer wieder – vielleicht falsch, aber abkürzend – als geisteswissenschaftliche Pädagogen bezeichnen. [V66:29] Dazu hätte ich fetzt zwei Fragen: Warum hast Du nicht noch eine andere Pädagogik kennengelernt? Es gab ja nicht nur die geisteswissenschaftliche. Die andere Frage: Was ist Dir denn an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wichtig geworden, vielleicht bis heute?
[V66:30] Mollenhauer:
[V66:31] Zunächst muß ich etwas korrigieren: bei Nohl habe ich nicht studiert. Ich habe einmal eine Vorlesung von ihm gehört und einmal an einem Seminar |b 71|teilgenommen. Etwas gründlicher habe ich es versucht bei Wilhelm Flitner in Hamburg, aber auch nur drei Semester; dann bin ich nach Göttingen zu Erich Weniger gegangen. Ich hatte Flitners
Systematische Pädagogik
1
1Flitner, W.: Systematische Pädagogik. Versuch eines Grundrisses zur Allgemeinen Erziehungswissenschaft. Breslau 1933.
gelesen und ging deshalb nach Hamburg. Flitner aber war in dieser Zeit mit didaktischen Problemen vollauf beschäftigt. Die Schule hatte ich indessen gerade deshalb verlassen, weil ich vorerst mit Didaktik nichts mehr zu tun haben wollte.
[V66:32] Schulze:
[V66:33] Was waren die Motive, Dich der Sozialpädagogik zuzuwenden?
[V66:34] Mollenhauer:
[V66:35] Zunächst hatte ich wohl etwas arrogant den Eindruck, nach Jahren Lehrerdasein wüßte ich nun Bescheid, wie es an der Schule ist. Ich hatte den Eindruck, da nicht Neues mehr lernen zu können. Die Hinwendung zur Sozialpädagogik wurde außerdem unterstützt durch den Beruf meines Vaters, durch eine gewisse, mir vielleicht nicht ganz bewußte Neigung zum außerschulischen Bereich. Das dritte Motiv war – auch vermittelt über die Biographie meiner Eltern, die in der Jugendbewegung gewesen waren – mein Interesse an der Jugendverbandsarbeit und Jugendarbeit.
[V66:38] Schulze:
[V66:39] Hätte es für Dich auch noch Alternativen in der pädagogischen Ausrichtung gegeben, beispielsweise durch die Wahl eines anderen Studienorts oder eines anderen Doktorvaters?
[V66:40] Mollenhauer:
[V66:41] Nein, die gab es nicht. Aber daran ist nun Weniger schuld, über alles, was nicht in der unmittelbaren oder ganz dichten geisteswissenschaftlichen Tradition lag, hat er uns gegenüber in den Lehrveranstaltungen derart abwertend geredet, daß wir alle das Gefühl hatten, dies lohne sich gar nicht zu lesen. Gelegentlich, etwa in einem Oberseminar, wurden auch andere Traditionen zur Kenntnis genommen. Aber immer schon mit dem Unterton: Eigentlich braucht ihr das nicht, aber man muß sich auch mal damit beschäftigen. Das hat uns jedes Motiv für eine über den provinziellen Göttinger Rahmen hinausgehende Beschäftigung genommen. HerwigBlankertz beispielsweise wurde von Weniger wie ein wissenschaftlicher Exote behandelt, weil er sich mit dem Neukantianismus befaßte; und Wenigermeinte, das sei überflüssig, aber immerhin, er sei |b 72|ein kluger Kopf und es würde auch sicher eine kluge Doktorarbeit werden, aber mehr nicht. Aber vielleicht korrigierst Du mich, wir waren ja zur gleichen Zeit da?
[V66:42] Schulze:
[V66:43] Nein, mir ist es genauso gegangen. [V66:44] Es gab ja nicht nur innerhalb der Disziplinen solche Abgrenzungstendenzen, sondern auch anderen Disziplinen gegenüber. Wir haben Seminare mitgemacht über das Verhältnis von Pädagogik und Soziologie. Die Empfehlung lief darauf hinaus, daß man mit Soziologie keine Pädagogik machen kann. An dieses Urteil hast Du Dich aber nicht gehalten.
[V66:45] Mollenhauer:
[V66:46] Richtig. Dafür gab es wohl drei Motive: Das eine ist Helmut Plessner, der eindrucksvollste Hochschullehrer, bei dem ich je studiert habe. Bei dem habe ich kein Oberseminar ausgelassen. Bei Plessner habe ich 1954 ein Referat über George Herbert Mead gehalten, als noch niemand in Deutschland über G. H. M. sprach. Norbert Elias’
Der Prozeß der Zivilisation
2
2Elias, N.: Über den Prozeß der Zivilisation. Soziogenetische und psychogenetische Untersuchungen, 2 Bde., Basel 1939, 3. Aufl. 1979 als Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft Bd. 158/159.
, der dann mit großer Verzögerung von zwei oder drei Jahrzehnten als Taschenbuch wieder auf den Markt kam, wurde dort diskutiert. Pleßner hat mich genötigt, die Deutsche Ideologie von Marx zu lesen. Ich hätte am Pädagogischen Seminar gut überleben können, ohne je Marx gelesen zu haben. Ich hätte bei Plessner nicht überleben können, ohne Marx zu lesen. [V66:47] Eine ganz große Rolle spielten Freundschaften. Ich war damals beispielsweise befreundet mit Karl Heinz Bohrer, dem jetzigen Herausgeber des Merkur. Mit ihm zusammen habe ich Probleme der Literatursoziologie diskutiert. Da zeichnete sich ab, wie soziologische und sozialwissenschaftliche Problemstellungen in anderen Disziplinen wirklich neue Fragestellungen eröffneten. [V66:48] Schließlich kam hinzu das Thema meiner Doktorarbeit. Wenn man über die Anfänge der Sozialpädagogik in Deutschland schreibt, dann muß man über den Pauperismus einfach etwas wissen. Man muß Sozialgeschichte des beginnenden 19. Jahrhunderts, der beginnenden Klassengesellschaft studieren. So war mir auch dadurch ein sozialgeschichtlicher oder soziologischer Blick abgenötigt.
|b 73|
[V66:49] Schulze:
[V66:50] Bevor ich diese Linie jetzt weiterverfolge, frage ich Dich aber noch, was Dir an der geistenwissenschaftlichen Pädagogik wichtig ist.
[V66:51] Mollenhauer:
[V66:52] Da kann ich direkt an Bollnow anschließen. Wenn ich das aus meinem gegenwärtigen Interesse heraus sagen darf: Das, was mir an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik wichtig ist, ist allein das hermeneutische Verfahren.
[V66:53] Schulze:
[V66:54] Du sagtest vorhin, es sei Dir wichtig, immer wieder auf eine Reihe von pädagogischen Grundtexten zurückzugehen. Gibt es für Dich solche pädagogischen Schlüsseltexte, also pädagogische Klassiker, von denen Du sagen würdest, das sind Texte, auf die muß man sich immer wieder neu einlassen?
[V66:55] Mollenhauer:
[V66:56] Da geniere ich mich zu antworten. Vielleicht in knapper Form: Die Erziehung des Menschengeschlechts von Gotthold Ephraim Lessing, der Stanzer Brief von Johann Heinrich Pestalozzi und die Vorlesung von 1826 von Friedrich Schleiermacher.
[V66:59] Schulze:
[V66:60] 1968 erscheint Dein Sammelband: Erziehung und Emanzipation (München 1968). In einem Satz heißt es darin:
Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben gezeigt, daß die geisteswissenschaftliche Pädagogik nur begrenzt leistungsfähig ist im Hinblick auf die Aufklärung derjenigen Zusammenhänge, die die Wirklichkeit der Erziehung ausmachen.
Du hast auch mitgeschrieben an dem Band:
Die geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche.
3
3Dahmer, I./Klafki, W. (Hrsg.): Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger, Weinheim und Berlin 1968.
Hier wird eine deutliche Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik angemeldet. Meine Frage: Wie tief greift diese Kritik? [V66:61] Wilhelm Flitner hat in seinem Rückblick mit Zukunftsperspektiven4
4Flitner, W.: Rückschau auf die Pädagogik in futuristischer Absicht. In: Z.f.Päd 22 (1976), S. 1–8.
gesagt, daß es zweifellos in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik Defizite gegeben hat, insbesondere was die Bearbeitung der gesellschaftlichen Bedingungen und Zusammenhänge von Erziehungsprozessen betrifft. Aber er hat das gekennzeichnet als eine Vernachlässigung im |b 74|Arbeitsprogramm, im Forschungsprogramm , nicht aber als eine Frage des prinzipiellen Defizits im Ansatz. [V66:62] Worauf zielt Deine Kritik? Würdest Du auch sagen , daß das eigentlich nur ein Mangel im Forschungsprogramm war? Du hast im Fischer-Lexikon Pädagogik5
5Groothoff, H.-H. (Hrsg.): Pädagogik. Das Fischer-Lexikon Bd. 36, Frankfurt a.M. 1964, Neuasgabe 1973.
den Artikel
Gesellschaft aus pädagogischer Sicht
geschrieben . War das die Ergänzung des fehlenden Stückes in der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, oder handelt es sich um eine weitergehende, vielleicht auch tiefergreifende Kritik, die auch Zweifel an den grundlegenden Prinzipien oder Methoden der geisteswissenschaftlichen Pädagogik einschließt?
[V66:63] Mollenhauer:
[V66:64] Die Frage ist sehr schwierig, und ich bin nicht sicher, ob ich sie beantworten kann. Also erstens ist das ja nichts Singuläres. Es gab eine ganze Gruppe von Kollegen aus der gleichen Generation, die damals gerade akademische Dauerstellen eingenommen hatten, sei es, daß sie schon Professor waren, sei es, daß sie unmittelbar davor standen wie zum Beispiel Wolfgang Lempert, der an das Max-Planck-Institut in Berlinging, dann Herwig Blankertz, Wolfgang Klafki. Unsere Frage war damals, ob der Vorwurf einer eher marxistisch inspirierten Sozialkritik in Deutschland, die geisteswissenschaftliche Hermeneutik sei nichts anderes als bürgerliche Ideologieproduktion, eigentlich stimme. Wir ließen uns von der Gegenseite sehr stark beeindrucken, und da spielte das Frankfurter Institut für Sozialforschung eine ziemlich bedeutende Rolle. Wir meinten, daß es nicht nur um eine Erweiterung der Pädagogik in diesem oder jenem Stück gehen, sondern daß das pädagogische Denken anders angelegt werden müsse, jedenfalls sofern es wissenschaftliches Denken zu sein beansprucht. Insofern ist mein Beitrag ganz unoriginell; ich habe nur das Glück gehabt, mir mit meiner Zusammenfassung
Erziehung und Emanzipation
einen originellen Titel einfallen zu lassen, der nun auch noch modisch genau in die Szene hineinpaßte.
[V66:66] Schulze:
[V66:67] Nochmal zurück zur Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Vielleicht wäre ein wichtiger Aspekt die Sprache. Wilhelm Flitner hat gestern gesagt, daß der Generationenwechsel, der Unterschied der Generationen sich unter anderem möglicherweise auch gerade in unterschiedlicher Sprache manifestiert. Flitner hat gesagt, Klaus Mollenhauer spreche eine andere Sprache, er habe einen anderen Duktus. Das kann man nun mehr als eine Frage des individuellen Dialekts verstehen. Aber |b 75|vielleicht liegt darin auch ein grundsätzliches wissenschaftliches Problem. Wilhelm Flitner und O. F. Bollnow haben gesagt, es war ihnen wichtig, eine Sprache zu sprechen, die von allen verstanden wird, also auch von Laien, von Nicht-Pädagogen, von Nicht-Wissenschaftlern. Gilt ein solcher Satz auch für Dich? Ich kenne Dich als jemand, der gerade in Bezug auf die Sprache im wissenschaftlichen Kontext ungeheuer sensibel und genau ist. Welche Bedeutung hat für Dich Sprache in der Erziehungswissenschaft, und welche Ansprüche stellst Du an eine wissenschaftliche Sprache?
[V66:68] Mollenhauer:
[V66:69] Die Frage ist peinlich für mich, weil ich heute denke, daß mit vielen anderen der schlimme Fehler, den ich gemacht habe und den vielleicht ein großer Teil unserer Generation gemacht hat, in der Annahme bestand, die Genauigkeit des erziehungswissenschaftlichen Redens sei nur über einen sozialwissenschaftlichen Jargon zu erreichen. Wir haben das damals nicht sozialwissenschaftlichen Jargon genannt; so wie Theodor Adorno konnte man ja sowieso nicht schreiben, aber man konnte doch wenigstens versuchen, wie Jürgen Habermas zu schreiben oder wie andere soziologische Autoren; davon ging eine große Suggestion aus. Also: Wenn man den Eindruck hat, daß die Form der geisteswissenschaftlich-pädagogischen Rede zu viele Ungenauigkeitsbestandteile enthält, dann lag es vielleicht nahe, die Zuflucht bei einer sozialwissenschaftlichen Stilisierung der Sprache zu suchen. [V66:70] Heute finde ich, daß das der schlimmste Fehler gewesen ist, weil mit dieser Veränderung der Sprache zugleich Probleme zum Verschwinden gebracht wurden. Man muß sich nur überlegen, was mit dem Auswechseln des Begriffs Bildung durch Lernen oder Sozialisation an Problemen zum Verschwinden gebracht worden ist; das fiel uns aber damals gar nicht auf. Wir dachten im Gegenteil, es sei ein Fortschritt, man könne jetzt mit einer terminologisch gereinigten, nicht mehr der Umgangssprache angehörenden Redeweise die Phänomene genauer fassen. Deshalb war mir das so wichtig, was Flitner gestern über Common sense und Alltagssprache gesagt hat. Heute denke ich: Das, was ich gerne erreichen möchte, ist ein wissenschaftliches Reden, das von jedem verstanden wird, und zwar ohne daß dabei die wissenschaftlichen Standards genauer Argumentation verletzt werden. Nur weiß ich leider noch nicht, wie das geht.
[V66:71] Schulze:
[V66:72] Aber hatten wir nicht auch Gründe, zunächst einmal zu einer soclhen sozialwissenschaftlichen Stilisierung der Sprache überzugehen? Wir hatten doch in Bezug auf unsere Lehrer auch einige Schwierigkeiten mit ihrer Sprache, Vielleicht am wenigsten bei Weniger, aber bei Nohl gab es doch |b 76|eine ganze Reihe von Begriffen, die wir auf unserem Erfahrungshintergrund einfach nicht mehr mitvollziehen konnten.
[V66:73] Mollenhauer:
[V66:74] Ich möchte am Beispiel sagen, wie schwierig doch die Situation war. Nachdem ich beispielsweise Mead studiert hatte, konnte ich nicht mehr so über den pädagogischen Bezug reden, wie Nohl das tat. Bei Mead und in der Anthropologie Plessners wurde zumindestens über ähnliche Sachverhalte viel differenzierter in einer anderen Terminologie geredet. Da mir neben der Nohl-Wenigerschen Rede keine Alternative zur Verfügung stand, war es kein Wunder, daß wir gleichsam automatisch in die sozialwissenschaftliche Redeweise hineingingen, um uns auf diese Weise ein Stück weit zu emanzipieren. Es ist nachträglich gesehen der falsche Weg gewesen. Aber an dieser geschichtlichen Stelle wüßte ich nicht, wie man den Schritt hätte anders tun können. Vielleicht haben Tübinger (in dieser Generation) ganz andere Erfahrungen. Aber auch Werner Loch redet nicht wie Otto Friedrich Bollnow.
[V66:75] Schulze:
[V66:76] Noch ein anderer Punkt der Kritik an der geisteswissenschaftlichen Pädagogik war bedeutsam, über den wir auch gestern abend hier diskutiert haben. Im Anschluß an Wilhelm Flitners Satz
Normen erwachsen aus dem Leben
hast Du gesagt, diesen Satz könntest Du so nicht als eine wissenschaftliche Aussage akzeptieren. Sie müsse methodisch rekonstruiert werden. Ich sehe darin einen deutlichen Unterschied in der Behandlung der Normenfrage, die ja ein wichtiges Thema in der Erziehungswissenschaft ist. [V66:77] Ich bin mir noch nicht ganz im klaren, wo die Differenz liegt. Heißt das, daß Du überhaupt zurückhaltend der Normenfrage gegenüber bist? Doch sicher nicht so weit wie der kritische Rationalismus, der sich ja der Wert frage ganz enthält? Oder siehst Du andere Möglichkeiten, die Normenfrage zu beantworten?
[V66:78] Mollenhauer:
[V66:79] Am liebsten würde ich über Normen gar nicht reden. Nicht erst heute. Es ist zwar möglich, über Normen deskriptiv zu reden. Das war eins der Motive zu den Sozialwissenschaften hin. Dort gab es einen Typus des Redens über Normen, bei dem es nicht darum ging, den Normen, über die man sprach, auch zugleich zuzustimmen, sondern zu ermitteln, um welche Normen es sich handelt, welche Genese sie haben, wie sie gesellschaftlich lokalisiert sind. In der amerikanischen Gruppenforschung wurde das Reden über Normen als durchaus pädagogisch relevant angesehen, ohne zugleich schon die gefundenen Normen zu bekräftigen. Das |b 77|war mir sehr sympatisch, weil ich auf diese Weise der Schwierigkeit enthoben war, zu den Normen, die ich beschreibe, ja oder nein zu sagen. Heute denke ich darüber vielleicht ein wenig anders. Ich möchte schon versuchen, über Normen zu reden, obwohl ich Bollnows Abneigung teile und nicht sicher bin, ob das Reden über
Normen
der richtige Sprachgebrauch ist. Mir wäre lieber, wir reden über Probleme einer pädagogischen Ethik, über die Frage, ob es eine pädagogische Ethik gibt, die sich vielleicht von der allgemeinen Ethik unterscheidet, und wie in einer pädagogischen Ethik die Argumentationsregeln beschaffen sein müssen. [V66:81] Damals, um 1960 bis 1962, war das Projekt einer Pädagogik als empirisch-deskriptiver Sozial- und Verhaltenswissenschaft verführerisch. Um die Mitte des Jahrzehnts aber meldeten sich die nicht verarbeiteten Themen der geisteswissenschaftlichen Pädagogik. Was dort noch
Mündigkeit
hieß, hieß nun
Emanzipation
. Und es gab Schützenhilfe aus Frankfurt in dieser Frage: Gibt es so etwas wie ein praktisches Interesse der Pädagogik, eine normative Orientierung, die aus der neueren Geschichte begründbar folgt? Damit hing für mich das zunehmende Interesse an politischer Bildung zusammen und die Tatsache, daß ich praktisch über jene Jahre hinweg in der außerschulischen Jugendbildung tätig war, vornehmlich mit Arbeiterjugendlichen zu tun hatte, und zwar bis zu dem Moment, wo ich eine Professur bekam. Mit diesen Arbeiterjugendlichen war eine pädagogische Arbeit vom Standpunkt eines sozialwissenschaftlich-deskriptiven Neutralismus aus gar nicht möglich. Man konnte, wenn man mit ihnen überhaupt in einen politisch relevanten Kontakt kommen wollte, nur arbeiten, wenn man aus der Perspektive ihrer gesellschaftlichen Situation dachte. Und in dieser Lage war der Begriff
Emanzipation
gleichsam ein Glücksfall, weil er scheinbar das schwierige Normenproblem löste und zugleich in einer sehr seriösen, bis in die Aufklärung zurückreichenden Tradition lokalisiert war.
[V66:82] Schulze:
[V66:83] Der Begriff
Emanzipation
ist aber mit diesem Buchtitel in der Pädagogik in Umlauf gesetzt worden. Von da an sprach man überall von emanzipatorischer Pädagogik als Erziehungsziel, sogar für die Schule. Und man spricht nicht oder kaum mehr von Bildung. Hat nicht der Begriff Emanzipation den Begriff der Bildung verdrängt?
[V66:84] Mollenhauer:
[V66:85] Nein, das glaube ich nicht. Der Begriff Bildung wurde durch diese drei Begriffe verdrängt: Lernen, Sozialisation, Emanzipation.
[V66:86] Schulze:
[V66:87] Gut, diese Differenzierung muß man im Auge behalten. Aber was ist das |b 78|Spezifische, das der Begriff Emanzipation gegenüber dem der Bildung ausdrückt oder auch ins Blickfeld des politischen Handelns rückt?
[V66:88] Mollenhauer:
[V66:89] Am Emanzipationsbegriff waren zwei Komponenten wichtig. Die eine betrifft die Einordnung der Pädagogik in die politische Bewegung der Zeit, betrifft ihre aktuelle Orientierung an dem nicht abgeschlossenen Prozeß der Demokratisierung. Die andere: Im Ausdruck Emanzipation sind gleichsam die notwendigen Distanzierungsschritte, die in der Entwicklung des Kindes von Lebensalter zu Lebensalter notwendig sind, stärker zum Thema gemacht als im Begriff der
Bildung
. Das paßte sehr gut zu dem, was Friedrich Schleiermacher sich dachte, als er den Bildungs- und Erziehungsprozeß bis zu dem Punkt verfolgte, an dem die Erziehung überflüssig wird und die jungen Leute
abgeliefert
werden an die großen Gemeinschaften, und dies als kontinuierlichen Vorgang der Befreiung zur Selbständigkeit beschrieb.
[V66:90] Schulze:
[V66:91] Das heißt, eine bestimmte Befähigung im Bildungsprozeß wurde als Emanzipation bezeichnet. Diese zweite Komponente ist so bisher noch kaum entfaltet worden.
[V66:92] Mollenhauer:
[V66:93] Ich glaube, Du hast recht. Es ist ein wesentliches Versäumnis, daß der Ausdruck Emanzipation so schnell die Runde machte und so plausibel war, daß kaum noch jemand sich die Mühe machte, ihn mit der gleichen Sorgfalt auf die Bildungsgänge hin zu rekonstruieren, wie man das vorher mit anderen einheimischen Begriffen getan hat. Deshalb machten wir es auch den Gegnern leicht., dies alles als ein großes ideologisches Manöver von linken Pädagogen abzutun. Wolfgang Brezinka hatte es zum Beispiel leicht, in der Kritik dieses Buches zu zeigen, daß hier ein Ausdruck verwendet wird, der gar kein wissenschaftlicher Terminus sein könne, sondern nur eine Vokabel sei, mit der bestimmte linke Ideologien transportiert werden sollen. An diesem Mißverständnis, denke ich, war die Diskussion innerhalb der Erziehungswissenschaft, die diesen Begriff verwendet hat, selbst schuld.
[V66:94] Schulze:
[V66:95] Noch einmal zum Thema Emanzipation. Du hast als Vorzug dieses Begriffs angesehen, daß er sich mit politischen Bewegungen in Verbindung bringen läßt. Das bringt für die Pädagogik natürlich auch gleichzeitig ein Problem. Wenn man von der geisteswissenschaftlichen Pädagogik her|b 79|kommt, stellt sich die Frage, wie es denn dann mit der pädagogischen Autonomie aussieht.
[V66:96] Mollenhauer:
[V66:97] Der neu entstandenen sozialwissenschaftlichen Attitüde entsprach natürlich, den Begriff der pädagogischen Autonomie für bürgerlichen Unfug zu halten, für eine Selbsttäuschung der Pädagogik über ihre tatsächlichen Abhängigkeiten von den gesellschaftlichen Systemen. Das lag sehr nahe, und also spielte wohl in den Diskussionen – jedenfalls in diesen Gruppierungen – eine Zeitlang der Begriff der Autonomie gar keine besondere Rolle, es sei denn, in einer etwas verschämten Version, die Weniger schon verwendet hatte, als er von
relativer Autonomie
sprach. Nun kann man sagen, mit relativer Autonomie ist man gut dran, das stimmt immer. Das war keine sehr entschiedene Stellung. Etwas entschiedener wurde die Sache, als von Emanzipation die Rede war und als es um Erziehungspraxis ging. Da tauchte die Autonomiefrage wieder neu auf. Ein persönliches Beispiel: 1969 habe ich in Frankfurt mit Freunden einen antiautoritären Kinderladen betrieben. Mitglieder dieses Kinderladens waren natürlich Eltern vom linken Rand der Frankfurter Studenten- oder Assistentenschaft. Natürlich sollte dieser Kinderladen auf dem erreichten pädagogischen-politischen Niveau geführt werden. Es mußte beispielsweise vermieden werden, die Kinder frühzeitig in Geschlechterrollen einzuüben; natürlich mußten die Kinder die Wirklichkeit der handarbeitenden Bevölkerung kennenlernen; natürlich mußten die Kinder auf Demonstrationen mitgenommen werden, denn sie sollten sehr früh erfahren, was politischer Kampf ist, was Klassenauseinandersetzungen sind. Aber plötzlich zeigte sich: das geht nicht; irgend etwas war falsch. Es gibt dazu eine hübsche Anekdote: Aus dem Kinderladen kommen mein jüngster Sohn Paul und sein Freund nach Hause, beide drei Jahre alt, und rufen ganz laut:
Männer zu Männer, Frauen zu Frauen.
Da dachten wir:
Um Gottes willen, was haben wir falsch gemacht. Da sind sie erst drei Jahre alt und wollen schon die Geschlechtsrollendifferenzierung.
Da nun im Kinderladen das Bedürfnis der Kinder oberstes Gebot war, haben die Kinder die Parole durchgesetzt, und die Bezugspersonen haben gute Miene zum bösen Spiel gemacht. Aber das war kein böses Spiel, das war ganz in Ordnung. [V66:98] Eine andere Erfahrung gleichsam vor-politischer pädagogischer Autonomie stellte sich im Umgang mit den
entwichenen Heimzöglingen
aus Hessen ein: Plötzlich waren in Frankfurt zwischen 80 und 100 Jugendliche, die irgendwie untergebracht werden mußten und die zugleich in die verführerische Gefolgschaft von Andreas Baader und Gudrun Enßlin hineingerieten, von denen wir damals nicht vermuteten, daß sie irgendwann in die terroristische Szene gehen würden. Das Thema der Diskus|b 80|sion war: Gibt es eigentlich noch eine Grenze zwischen dem pädagogischen und politischen Handeln? Diese Auseinandersetzungen haben mich eigentlich wieder in die Arme der pädagogischen Autonomie zurückgeführt. Das war die Frage: Gibt es sowas wie einen nicht nur unverwechselbaren Gegenstand, sondern gibt es auch sowas wie einen Raum, der nicht nur durch soziologische oder soziale Determinanten erläutert werden kann? Ein solcher Begriff von pädagogischer Autonomie, so scheint mir, ist einfach eine Möglichkeitsbedingung für verantwortbares pädagogisches Handeln.
[V66:99] Schulze:
[V66:100] Ein Begriff, der einen Spielraum für ein politisches Handelnöffnet, aber der auch Grenzen zieht, so daß man deutlich sagen kann, dieses hier geht über den Spielraum hinaus, ist ein anderes Handeln?!
[V66:101] Mollenhauer:
[V66:102] Besonders der Unterschied zwischen politischem Handeln und politischer Bildung wurde mir deshalb wichtig. Gerade auch der Frankfurter Adressaten wegen. Da war für mich wichtig zu sagen, daß sie das, was sie als politisches Subjekt machen, nicht einfach verlängern können in die pädagogischen Verhältnisse hinein; daß politische Bildung etwas kategorial anderes ist als politisches Handeln.
[V66:103] Schulze:
[V66:104] Ich möchte jetzt einen Sprung machen. In der letzten Gesprächsphase wird für mich schon ein bißchen der geistige Raum sichtbar, den Du dann betreten und auszufüllen begonnen hast. 1983 bist du mit Deinem Buch
Vergessene Zusammenhängeüber Kultur und Erziehung
in die Öffentlichkeit getreten. Wie ist dieser Titel zu verstehen? Er läßt zunächst so etwas wie eine Rückkehr vermuten. In der Einleitung schreibst Du, wenn von Emanzipation die Rede sei, dann nur noch in Anführungsstrichen. Unter den Leitkategorien tuacht der Begriff Emanzipation nicht mehr auf. Wie deutest Du selber diese Veränderung? Ist es eine modische Wende? Ist es eine Rückkehr zu den Ursprüngen?
[V66:106] Mollenhauer:
[V66:107] Solche Selbstkommentierung ist schwierig.
[V66:113] Schulze:
[V66:114] Mit einer letzten Frage will ich schließen. Otto Friedrich Bollnow hat vorhin gesagt: Ich habe mich in meinem Leben noch nie darum geküm|b 82|mert, was wissenschaftlich ist. Und Wilhelm Flitner konnte seine Universitätskollegen damit ärgern, wenn er sagte: Ihn interessiere nicht, ob die Pädagogik eine Wissenschaft sei oder nicht, er reflektiere über eine Praxis, die ihm am Herzen liege . Ob diese Reflexion stimme, das sei allerdings von großer Bedeutung. Könntest Du auch sagen, was wissenschaftlich ist, hat mich in meinem Leben noch nie gekümmert, oder würdest Du es anders formulieren?
[V66:116] Mollenhauer:
[V66:117] Bezogen auf mein Leben sind mir lebhaft Phasen in Erinnerung, wo mir nichts wichtiger war, als von der wissenschaftlichen community anerkannt zu werden, also wissenschaftlich zu sein. Heute würde ich ähnlich wie Wilhelm Flitner antworten: Es ist mir gleichgültig, ob das, was ich tue, für diesen oder jenen in die Klasse
Wissenschaft
gehört. Wichtig ist, ob die Argumentation sorgfältig ist, ob sie stimmt und ob sie verständlich ist. Das gilt für jemanden, der historisch arbeitet ebenso wie für jemanden, der einen aktuellen Text interpretiert, empirische Beobachtungen mitteilt oder die Logik eines Gedankens konstruiert, etwa in der analytischen Philosophie. Wie weit wir dafür den Namen
Wissenschaft
verwenden, ist eine zweitrangige Frage.