Ist ästhetische Bildung möglich? [Textfassung b]
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Ist ästhetische Erziehung möglich?

[100:2a]
Die Dinge, die unser Leben sachlich erfüllen und umgeben, Geräte, Verkehrsmittel, die Produkte der Wissenschaft, der Technik, der Kunst, sind unsäglich kultiviert, aber die Kultur der Individuen ... ist keineswegs in demselben Verhältnis vorangeschritten, ja vielleicht sogar zurückgegangen
(Simmel 1900, S.477)
.
[100:2b] Das schrieb Georg Simmel in seiner zu Beginn des Jahrhunderts erschienenen
Philosophie des Geldes
. Er meinte, daß durch den universalisierten Geldverkehr und die fortgeschrittenen Formen von Arbeitsteilung ein abstraktes Tauschverhältnis zwischen Kulturding und Mensch eingeführt worden sei, das es immer schwieriger mache, die Bedürfnisse, Antriebe oder Sinnentwürfe mit den kulturellen
Objektivationen
zu verknüpfen. Die Produkte unserer Kultur seien der Persönlichkeit immer weniger
assimilierbar
, woraus, als Reaktion auf diese Konfliktlage, für das einzelne Individuum folge, daß es zu resignieren geneigt sei und sich auf private Wege der
Selbstverwirklichung
(wie es heute heißt) begebe, um doch noch eine befriedigende Konkordanz zwischen innerer und äußerer Natur, zwischen Person und Kulturobjekt herstellen zu können.
[100:4] Wenngleich manche Bestandteile der Theorie Simmels heute nicht mehr recht befriedigen, hat doch der gerade zitierte Teil seiner Kulturdiagnose auch heute noch Plausibilität: Die Kluft zwischen dem sich bildenden Ich (als Kind oder als Erwachsener) und den zwar raffiniert, aber fremd erscheinenden Produkten der herrschenden Kultur ist, wenn ich recht sehe, nicht geringer geworden. Angesichts der empfundenen Vergeblichkeit, in den vorhandenen Kulturprodukten – den Möblierungen elterlicher Wohnungen, der überlieferten Bilderwelt in den Gemäldesammlungen, der historischen Vielfalt der Architektur, den Rollenverhaltensregeln der Institutionen, dem technischen Standard der Maschinen usw. – noch eine
Objektiviation
der kultivierten eigenen inneren Natur zu erkennen, liegt die Suche nach Aus- oder Nebenwegen nahe. Seit eine derartige Kulturentwicklung wenigstens ahnbar war, seit Schillers
Ästhetischer Erziehung
also, hat es immer wieder nahegelegen, einen Ausweg oder eine Kompensation über Konzepte der ästhetischen Bildung und Erziehung zu suchen. Die Linie zieht sich von dort über die Anfänge der Kunsterziehungsbewegung, das
Bauhaus
bis zu den phänomenologisch-ästhesiologischen Diskussionen zum Bildungsbegriff, die wir gegenwärtig erleben. In allen diesen Erscheinungen – so scheint mir – spielt die Hoffnung eine Rolle, den verlorengeglaubten Kontakt zu den objektiven Kulturprodukten dadurch wiederherstellen zu können, daß die Sinnestätigkeit als eine Art Ausgangspunkt für Bildungsprozesse zum Thema gemacht und auf diese Weise das individuelle hervorgebrachte
Werk
tatsächlich als Ausdruck der
inneren Natur
erfahrbar wird. Denn, so Simmel:
Indem der Mensch die Objekte kultiviert, schafft er sie sich zum Bilde
, sind
sie nur die Sichtbarkeit oder der Körper für die gleiche Entfaltung unserer Energien
.
[100:5] Man kann in dieser Lage verschiedenartig reagieren: man könnte das sich neuerdings verbreiternde Interesse an ästhetischer Erziehung aufgreifen und praktisch unterstützen in der Hoffnung, daß die darin liegenden Versprechen auch erfüllbar seien; man könnte in ideologiekritischer Einstellung von der Vermutung ausgehen, daß diese Interessen vielleicht immer schon nichts anderes gewesen seien als eine bürgerliche Kompensation der Schwierigkeiten, die die kapitalistisch-industrielle Gesellschaft mit sich bringt; man könnte wohl auch einen |b 262|Nachholbedarf der Bildungstheorie konstatieren und – etwa im Sinne einer
anthropologischen Ästhetik
(zur Lippe) – die in den Hintergrund geratene Leibhaftigkeit aller Bildung wieder stärker ins Bewußtsein heben. Mein eigener Beitrag an dieser Stelle ist weniger anspruchsvoll. Mir scheint, daß es in dieser Situation nützlich ist zu fragen, ob wir mit Bezug auf ästhetische Erziehung mit hinreichenden begrifflichen Unterscheidungen operieren, und welche solcher Unterscheidungen vielleicht stärker als bisher zur Diskussion gestellt werden müßten, wenn wir denn tatsächlich
ästhetische Erziehung
nicht nur als eine didaktische Spezialität des Faches Kunsterziehung verstehen, sondern als breite Komponente von Bildungsprozessen überhaupt. In diesem Sinne möchte ich die folgenden Unterscheidungen behandeln:
  1. 1.
    [100:5a] Worin unterscheiden sich ästhetische Urteile von anderen?
  2. 2.
    [100:5b] Gibt es so etwas wie
    ästhetische Empfindungen
    ?
  3. 3.
    [100:5c] Sollte die allgemeine Rede von
    ästhetischer Erziehung
    nicht differenziert werden nach Maßgabe der verschiedenen davon betroffenen menschlichen Sinne?

1.
Ästhetische
und
nicht-ästhetische
Urteile.

[100:6] Wer für ästhetische Erziehung plädiert, setzt sich also in Ideologieverdacht, wenigstens aber der Vermutung aus, er wolle auf eher private Selbsterfahrung ausgehenden und an
Ästhetik
im allgemeinen Sinne interessierten Tendenzen befördern, er ziele, im Hinblick auf
Selbstbestimmung
, weniger die Bestimmung des Selbst in den objektiv gegebenen Kulturverhältnissen der Moderne an als vielmehr einen archaischen, prä- oder postmodernen Punkt, von dem her dann der Bildungsprozeß
ursprünglich
konstruiert werden könne. Eine derartige Perspektive ist freilich für Pädagogen verführerisch, verspricht sie doch eine Kompensation der oftmals frustrierenden, jedenfalls aber schwierigen Erfahrungen mit der Moderne, und sie scheint in der
Natur des Gegenstandes
eine Rechtfertigung zu haben, sofern nämlich die anthropologische Gestalt des Kindes uns die Annahme gestattet, daß gleichsam vor dessen Integration in die Differenzierungen der objektiven Kultur die leibhaftig gegebene Sinnenwelt den ersten Schritt der Bildung vorantreibe. Was liegt also näher, als die ästhetischen Problemstellungen zur Bildung des Menschen in Richtung auf die Ursprungsbedeutung von
Aisthesis
hin auszuweiten? Die Bildung des Begriffs
ästhetisch
an die Kunst erscheint dann eher als eine Fessel, die den freien pädagogischen Gang behindert. Der Ausdruck
ästhetische Kommunikation
scheint dann der Sachlage angemessener zu sein, weil er von lästiger begrifflicher Anstrengung befreit. Irgendwie ist das vielleicht sogar vernünftig, etwa in dem Sinne, in dem es vor einigen Jahren an exponierter Stelle hieß:
Vielleicht kommen wir dem Sinn der Kunstvermittlung näher, wenn wir die Vorstellung zulassen, daß in der Kunstvermittlung auch anderes Bedeutung bekommt als die Kunst. – Zum Beispiel eine kleine, bislang nicht entdeckte Fähigkeit, zum Beispiel eine bislang nicht beachtete eigene Erfahrung, ein Stück eigene Lebensgeschichte; zum Beispiel eine bislang nicht wahrgenommene Beziehung; zum Beispiel eine größere Nähe zu sich selbst
(Ehmer 1983, S.214)
. Ehe ich einen solchen Eintopf auslöffele, möchte ich doch – in zugegeben pedantischer oder konservativer Attitüde – die Zutaten schmecken können.
[100:7] Bei diesem Versuch scheint mir hilfreich, was von Kant bis zur analytischen Philosophie unserer Tage zur Differenz zwischen ästhetischen und nicht-ästhe|b 263|tischen Urteilen erörtert wurde. Natürlich fällen wir im Alltag ununterbrochen
Aisthesis
-Urteile, Urteile also über unsere Sinnesempfindungen. Unter diesen aber gibt es – möglicherweise neben vielen anderen möglichen Unterscheidungen – auch die Differenz zwischen Urteilen etwa der folgenden Art: Ein Ton kann mir, im Vergleich zu anderen, länger oder höher vorkommen; eine Figur befindet sich rechts auf dem Bild; ein Tanzschritt überwindet die Distanz von zwei Metern; das Berühren der Oberfläche eines Gegenstandes zeigt mir, daß er kantig ist; ein Duft kann scharf sein und mich also vom Verzehr des Objektes, von dem der Duft ausgeht, fernhalten. Dieser Art von Urteilen stehen andere gegenüber, in denen es etwa heißen könnte: Der Ton oder die Tonfolge und die damit verbundenen Intervalle repräsentieren
Trauer
, das Bild ist
ausgewogen
, der Tanzschritt sei
anmutig
, die Objekt-Oberfläche
samten
, der Geruch
verblüffend
. Die erste Klasse der Urteile läßt sich, in ihrem Wahrheitsgehalt, durch einfache Messung entscheiden. Für die zweite Klasse der Urteile ist das nicht möglich. Freilich kann man diese Klassendifferenz für unerheblich erklären; dann aber wäre die logische Folge, daß es eine Besonderheit
ästhetischer Erziehung
überhaupt nicht gäbe;
ästhetische Erziehung
wäre dann einfach nichts anderes als die Bezugnahme pädagogischer Prozeduren auf
Sinnliches
überhaupt. Das hatte schon Kant und Schiller nicht befriedigt, und sie grenzten ästhetische Empfindung deshalb nicht nur gegen
theoretische
Urteile ab – gegen solche also, die sich durch objektivierte Messung begründen oder widerlegen ließen –, sondern auch gegen
praktische
. Danach ist ein ästhetisches Urteil eines, das weder an dem
Material
(bei einem Stilleben beispielsweise, daß man die dargestellten Früchte essen könnte und wollte) noch an der
Moralität
(z.B. daß in der 5. Symphonie Beethovens die vielzitierten Schicksalsschläge an die Tür pochen, oder daß Picassos
Guernica
für antifaschistische Propaganda verwendet werden kann) interessiert ist, sondern sich,
interesselos
, ganz und gar auf das einläßt, was durch das ästhetische Objekt unserem Empfinden dargeboten wird. Das ästhetische Urteil ist also nicht einfach eine Subsumption der Sinnesempfindung unter einen vorher schon gewußten allgemeinen Begriff, kein
bestimmendes Urteil
also, sondern es ist ein Urteil, das in der Auseinandersetzung mit den Sinneseindrücken und den durch sie erregten Empfindungen einen dazu passenden Begriff allererst hinzufinden muß, ein
reflektierendes
Urteil also.
Ist das Allgemeine ... gegeben, so ist die Urteilskraft, welche das Besondere darunter subsumiert ... bestimmend. Ist aber nur das Besondere gegeben, wozu sie das Allgemeine finden soll, so ist die Urteilskraft bloß reflektierend
(Kant/Weischedel 1977, Bd. 10, S. 87)
.
[100:8] Schiller faßte das zusammen, als er im 21. Brief
Über die ästhetische Erziehung
schrieb: Die Schönheit sei
in Rücksicht auf Erkenntnis und Gesinnung ... völlig indifferent und unfruchtbar
, und im nächsten Brief, daß
der Begriff einer schönen lehrenden (didaktischen) oder bessernden (moralischen) Kunst
ein Widerspruch sei, denn
nichts streitet mehr mit dem Begriff der Schönheit, als dem Gemüt eine bestimmte Tendenz zu geben
, eine Richtung also, die aus dem Ästhetischen herausweist. Die analytische Philosophie der Ästhetik unserer Jahrzehnte nimmt diesen Problemtypus auf und fragt unter anderem, ob es denn einen Zusammenhang, gar einen begründenden, geben könne zwischen derartigen ästhetischen Urteilen und solchen, die sich einfach nur auf Sinnesempfindungen beziehen, nicht aber schon der Klasse der ästhetischen zugerechnet werden können.
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2. Ästhetische und nicht-ästhetische Empfindungen.

[100:9] Die ästhetischen und die nicht-ästhetischen Urteile unterscheiden sich – so jedenfalls lautet eine Position innerhalb der analytischen Philosophie – darin, daß, in einem Vergleich gesprochen, es sich um zwei verschiedene Spiele handelt, allerdings mit den gleichen Steinen. Wir können uns zwei Spiele denken, die beide mit, sagen wir, 12 weißen und 12 schwarzen Steinen gespielt werden können, wenngleich nach verschiedenen Regeln. Die Spielsteine wären, nach diesem Vergleich, die Sinnesreize, die im nicht-ästhetischen wie auch im ästhetischen Urteil ganz unverzichtbar sind; auch das ästhetische Urteil kann offenbar ohne sie überhaupt nicht zustande kommen. Indessen nehmen die Spielsteine doch in beiden Spielen und in Abhängigkeit von der je anderen Regel eine je andere Bedeutung an. Aber das betrifft nur die Differenz zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Urteilen. Ich möchte nun fragen, ob es nicht schon im Hinblick auf unsere Sinnesempfindungen einen Unterschied gibt, der jenem zwischen ästhetischen und nicht-ästhetischen Urteilen vergleichbar ist oder nicht sogar eine homologe Struktur hat.
[100:10] Unter vielen möglichen Unterscheidungen läßt sich auch die folgende treffen: Wir können unterscheiden zwischen solchen Sinnesempfindungen, die in praktische Zwecke eingespannt sind, und anderen, die sich von solchen Zwecken gleichsam lösen. Ich kann
Hunger haben
und also, ohne weitere Repräsentation dieses Sachverhaltes in meinem Bewußtsein, eilen, ihn zu stillen; ich kann aber auch
Hunger spüren
, d. h. meine Aufmerksamkeitsrichtung von dem Zweck der Nahrungsaufnahme weg und auf das Empfinden jenes Reizes selbst lenken. Im ersten Fall wird die Aufmerksamkeit auf ein Objekt gerichtet, das zur Befriedigung dienlich ist; im zweiten Fall wird die Aufmerksamkeit auf die Leibempfindung konzentriert und also diese Empfindung selbst zum Gegenstand. So wie ich sagen kann:
Picassos Bild Guernica schaue ich mir als Bild und nicht als eine politische Parole dieser oder jener Partei an
, kann ich auch sagen:
Ich blicke jetzt auf die Empfindung, die ich beim Betrachten dieser Linie, beim Hören dieses Tons, beim Ertasten dieser Oberfläche habe
. Relativ unabhängig von dem Hunger, den ich habe, kann ich analog meine Aufmerksamkeit auch vollständig auf das Schmecken konzentrieren. Freilich sind solche Empfindungen vermutlich oder in der Regel nur möglich in Situationen, in denen die primären Lebensbedürfnisse sich nicht allzu dringlich melden. Mindestens also kann man sagen, daß ein derartiges Aufmerken auf die sinnlichen Empfindungen möglich ist. Das Empfinden selbst und das Aufmerken auf diese Empfindung ist offenbar zweierlei. Das Aufmerken macht sich die Empfindung zum Gegenstand. Das Aufmerken oder Gewahrwerden wird nicht einfach nur des Reizes gewahr oder der Reaktion des Organismus, sondern es wird der Empfindung gewahr, die sich daraufhin einstellt.
[100:11] Dieser Unterschied hat mit der
Interesselosigkeit
zu tun, von der bei Kant und Schiller die Rede war. In der zweiten Aufmerksamkeitsrichtung werden Interessen und praktische Zwecke gleichsam suspendiert, und an ihre Stelle tritt die in Lust- und Unlustempfindungen ausdrückbare Konzentration auf das
Phänomen
, das Erscheinen derjenigen Empfindungen, die sich angesichts eines äußeren Reizes einstellen. Ich möchte vorschlagen, derartige Empfindungen, die sich bei der Aufmerksamkeit auf Sinnenreize in dieser Art einstellen,
ästhetische Empfindungen
zu nennen. Folgt man dieser Unterscheidung, dann wären ästhetische Tätigkeiten solche, die auf diese besondere Art der Empfindung und Aufmerksamkeits|b 265|richtung repräsentieren.
Ästhetische Erziehung
wäre dann, nicht nur, aber auch, das Ensemble solcher Bemühungen, die derartige Aufmerksamkeitsrichtungen befördern.
[100:17] Hier ist vielleicht eine Nebenbemerkung angebracht, die auf Schwierigkeiten der
Pädagogisierbarkeit
der beschriebenen Problematik verweist. Wir sagen häufig – ohne uns dabei um die begrifflichen Schwierigkeiten des Ausdrucks
Symbol
besonders zu kümmern –, daß ästhetische Äußerungen, in welchem Medium auch immer,
symbolisch
seien. Man kann das so verstehen – und insbesondere in der psychiatrischen Literatur über ästhetische Äußerungsformen von seelisch Kranken ist dies in der Regel der Fall –, daß Symbole solche Zeichen seien, die unmittelbar auf leib-seelische Erfahrungen verweisen, die Erfahrungen dessen also, der derartige Produkte hervorbringt, einerseits repräsentieren, andererseits aber auch dem, der sich solchen Produkten als Betrachter gegenübersieht, einen unmittelbaren Nachvollzug ermöglichen. Die
Bedeutung
derartiger Symbole wäre also nicht arbiträr, nicht durch beliebige Konventionen durch andere Zeichen zu ersetzen – so wie wir etwa im griechischen Alphabet niedergeschriebene Wörter ohne Veränderung der Information auch in lateinischen Buchstaben schreiben könnten, oder wie wir bei der Einrichtung unserer Verkehrsampeln auch andere Farben für die gleiche Bedeutung einsetzen könnten. Ich riskiere hier einmal diese Behauptung: das in Ultramarinblau gemalte Gewand einer Madonna läßt sich nicht durch Orangerot ersetzen, der Totem-Pfahl nicht durch einen Querbalken, das Quintintervall am Ende eines Musikstücks nicht durch einen Dreiklang, ohne daß damit auch eine andere Bedeutung gegeben wäre. Oder: wenn ein Tanzschritt durch einen anderen ausgetauscht wird, läßt sich durch keine Konvention sichern, daß er für den Tanzenden das gleiche bedeutet; eine Wellenlinie kann nicht, durch Verwendung von Übersetzungsregeln, die gleiche Empfindung hervorrufen wie eine gezackte; auf einem Bild ist jedes Element nur bestimmbar im Hinblick auf alle anderen. Ein
ästhetisches Symbol
würde dann also, folgt man diesem Vorschlag, die leib-seelische Erfahrung eines Menschen auf dem Weg über die Konzentration auf die dabei sich einstellende Empfindung zum Ausdruck bringen, und zwar auf eine vorbegriffliche, vor-rationale Weise. Zugleich würde etwa die Zeichnung eines vierjährigen Kindes, das Bild eines Schizophrenen, die Leibgesten eines Schamanen während einer rituellen Heilungsbehandlung beim Betrachter derartiger Produkte oder Vorgänge – konzentriert er sich nur hinreichend intensiv auf das, was der sinnlichen Empfindung dargeboten wird – die in der ästhetischen Gebärde ausgedrückte Stimmung oder leib-seelische Empfindung hervorrufen können. Freilich können derartige Zeichen- oder Symbolrepertoires sich von Kultur zu Kultur ändern. Aber sie sind offenbar stärker an die gattungsspezifische Organausstattung gebunden als andere Arten von konventionalisierten Zeichensystemen. Derartiges – hier nur eben angedeutet – läßt sich zwar beschreiben, läßt sich auch begrifflich präzisieren über diese vagen Andeutungen hinaus. Aber läßt sich daraus ein pädagogisches Projekt machen? Läßt sich
Konzentration auf das, was ich empfinde
lernen, und zwar so, wie wir innerhalb unserer Kultur den Ausdruck Lernen verwenden? Ist eine Art Einübung in ästhetisches Symbolverstehen als
Curriculum
denkbar? Taugt der seit Lessing und Schiller inzwischen stark veränderte Begriff
Erziehung
zur Beschreibung dessen, was hier hilfreich wäre? Kann – unter derartigen Bedingungen –
ästhetische Erziehung
überhaupt mehr heißen als: Bereitstellen von Situationen, in denen ästhetische Erfahrungen möglich sind?
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[100:19] Die Propagandisten ästhetischer Erziehung und Bildung haben diese Schwierigkeit möglicherweise geahnt. Es ist vielleicht kein Zufall, daß das Projekt ästhetischer Erziehung gegen Ende des 19.Jahrhunderts zu der Frage schrumpfte, wie ein entwicklungsgerechter Zeichenunterricht einzurichten sei; dann zu dem anderen Problem, wie dem
Genius im Kinde
aufgeholfen werden könne; schließlich auch der Ausweg aus diesem Dilemma durch die Erfindung von Allerweltsvokabeln wie z. B.
ästhetische Kommunikation
; oder, etwas präziser, der Ausweg in eine Soziologie ästhetischer Produkte, in der derartige ästhetische Hervorbringungen nur noch als Elemente eines historischen und konventionellen Zeichenrepertoires interpretiert und den Charakteristika der Gesellschaftsstruktur zugerechnet werden. Derartige Bemühungen sind gewiß verdienstvoll und erweitern den Horizont von diesem oder jenem; ob sie aber etwas zu tun haben mit dem, was Schiller
ästhetische Erziehung
nannte, bleibt doch wohl höchst ungewiß.

3. Die Verschiedenheit der Sinne.

[100:21] Die Problemlage kompliziert sich für mich noch einmal, wenn man versucht, das allgemeine Reden über
Ästhetisches
zu differenzieren, da es doch immerhin verschiedene Sinne gibt, die an dem Ganzen beteiligt sind. Die generelle Rede von
ästhetischer Erziehung
unterstellt, daß die Sachlage in allen Bereichen des Ästhetischen gleich sei. Das aber ist, wenn ich recht sehe, nicht der Fall. Schon ein flüchtiger Blick auf die verschiedenen Künste zeigt, daß das ästhetische Urteil, über die allgemeinen Bestimmungen Kants und Schillers hinaus, sich mit verschiedenen Operationen auseinandersetzen muß: Die Wortkunst bedient sich der linguistischen Regeln, die Musik kann in einem konventionellen Zeichensystem notiert werden, in der bildenden Kunst ist jedes singuläre Objekt zugleich die
Aufführung
seiner selbst. Analoges gilt für das ästhetische Gewahrwerden: Körperbewegung und Gleichgewichtssinn, das Hören auf den momentan erklingenden, den gerade nachklingenden und den erwarteten Ton, die einer Kombination von Farbempfindungen korrespondierende innere Bewegung – die je besondere Aufmerksamkeit also, die in diesem oder jenem Sinn korrespondiert, setzt dem zusammenfassenden Reden über
Ästhetisches
notwendige Differenzierungen entgegen und verunsichert auch das Reden von ästhetischer Erziehung/Bildung.
[100:23] Das Problem ist nicht neu. Diderot in den
Salons
und Lessing im
Laokoon
hatten schon versucht, nicht nur die Verschiedenheit der Künste, sondern auch die Verschiedenheit der dabei beteiligten Sinne zu unterscheiden, und zwar mit Hilfe der Annahme, daß die am ästhetischen Urteil, der ästhetischen Empfindung, den entsprechenden Tätigkeiten und den dabei erzielten Produkten ins Spiel gebrachten Regeln abhängig seien von der Natur oder der Bildungsbedeutung jedes einzelnen Sinnes.
[100:24]
Auf alle Fälle

Scheißt der Hund kei' Gummibälle
.
[100:25] Dieser hessische Kindervers demonstriert das Problem: er ist in kein anderes ästhetisches Medium übersetzbar, ohne Informationsverlust. Auch die Erinnerung an Synästhesien hilft uns nicht weiter. Der Witz ist rein sprachlich. Das ließe sich durch Erörterung der Logik solcher Äußerungen begründen, beispielsweise |b 267|mit Hilfe der Frage, wie denn die Äußerung
Auf alle Fälle
in einem anderen als sprachlichen Medium ausgedrückt werden könnte. In Bild, Ton und Bewegung geht das nicht – wenn ich recht sehe. Heinrich von Kleist hatte ein ähnliches Problem, als er versuchte, die Empfindungen angesichts des Bildes
Der Mönch am Meer
von Caspar David Friedrich in einen poetischen Text zu übertragen. Er behalf sich mit einem
als ob
und mit dem Eingeständnis, daß die heftigen Empfindungen, die das Bild im Gesichtssinn und dessen seelischen Folgen auslöste, im Medium der Sprache nur
verworren
ausgedrückt werden könnten. Nimmt man derartige Sachverhalte, Anmahnungen oder Erinnerungen ernst, dann fällt es nicht mehr so leicht, zusammenfassend über
ästhetische Erziehung
zu reden. Der jeweilige
Sinn der Sinne
, wie H. Pleßner und E. Straus sagen, wäre auszumachen, um wenigstens in die Nähe dessen zu kommen, was dann auch als
Bildungssinn
dieses oder jenes Sinnes zu bestimmen wäre. Ich kann das hier nur andeuten.
[100:26] Wir bewohnen unseren Leib
wie eine Hülle, ein Futteral
(Pleßner)
; wir
haben
ihn, aber wir sind auch zugleich der Leib, den wir haben. Unser Leib vermittelt uns sowohl
Ich-
und
Mich-Töne
, ist aber ebensowohl sinnliches differenziertes Instrument, auf dem wir spielen. Diese Differenz ist die anthropologische Möglichkeitsbedingung für das, was wir riskanterweise ästhetische Erziehung nennen. Wer seine Aufmerksamkeit ganz auf die
Ich- und Mich-Töne
konzentriert, mag rasch von Synästhesien sprechen, vom Zusammenspiel des sinnlich Verschiedenen im Hinblick auf die
Ich
-Instanz, die angeblich alles zusammenhält. Wer sich mehr für die Hülle, das Futteral interessiert, für das gleichsam instrumentelle Verhältnis zwischen dem Ich und den Sinnen also, der ist vielleicht eher an den Differenzen zwischen den Sinnen interessiert, daran, welche Ich- und Mich-Töne durch welche Organe ins Spiel gebracht werden. Also:
  1. 1.
    [100:27] Das Sehen. Wenn der Mensch sich aufrichtet, sei es am Anfang seiner Gattungsgeschichte, sei es im Kleinkindalter, eröffnet sich ihm das
    Auge-Hand-Feld
    . Der Augensinn löst sich aus der Verbundenheit mit den Nah-Sinnen und kann nun horizontal in die Weite schweifen und nach Belieben willkürlich die Richtung wechseln. Da er in der Kombination von Reichweite und Zielgenauigkeit (gelegentlich reicht das Ohr weiter als das Auge, dann aber mir geringerer Zielgenauigkeit) allen anderen Sinnen überlegen ist, übernimmt er jetzt die Führung: Hand- und Geh-Bewegungen vermitteln zwischen dem Leib und den fernen Objekten. Der Begriff einer
    Handlung
    wird denkbar, auf ein fernes Ziel gerichtet. Deshalb heißt es immer wieder, wo in historischen Zeugnissen der Anthropologie vom Auge die Rede ist, daß es
    strahlig
    oder
    strahlend
    sei. Im
    Strahlen
    des Auges wird seine Gerichtetheit zur Sprache gebracht, die Idee der geraden Linie und alles dessen, was daraus folgt – Winkelbrechung, Dreieck, Parallele, Perspektive, Wandern von Punkt zu Punkt (Pleßner 1980, S.258ff.). Der Gesichtssinn enthält als einen
    Logos
    (deshalb spricht Pleßner in diesem Zusammenhang von einer
    Ästhesiologie
    ) aber nicht nur diese Idee der Geometrie; er registriert auch Flächen, und das heißt Farben, da alle Flächen ausgedehnt, also keine Punkte sind. Der Bildungssinn des Auges müßte also mindestens in diesen beiden Hinsichten bestimmt werden.
  2. 2.
    [100:28] Das Hören. Nicht nur das Auge, sondern auch das Ohr ist ein Organ (Werkzeug) des Fernsinns. Aber es enthält eine gänzlich andere Idee, einen anderen
    Sinn
    seiner Tätigkeit. Zunächst – man kann es an sich selbst erproben – ist das Gehör, im Unterschied zum Gesicht, nicht nur nach außen, sondern auch nach innen hin empfänglich. Das Ohr läßt sich, genau genommen, nicht schließen wie das Auge. Schließe ich die Augen, dann sehe ich – vom
    Nachhall
    der Lichtemp|b 268|findungen abgesehen – nichts;
    schließe
    ich dagegen das Ohr, höre ich mich (Blutrauschen, Pulsschlag u. ä.). Die propriozeptive (selbstwahrnehmende) Fähigkeit des Ohres korrespondiert mit der Tatsache, daß Töne, wie es metaphorisch heißt, rascher
    zu Herzen gehen
    als optische Empfindungen (Shakespeare hat das immer wieder bekräftigt, und Herder meinte, daß das Gehör
    die eigentliche Tür zur Seele
    sei). Dies wiederum korrespondiert damit, daß die Empfänglichkeit des Ohres anders strukturiert ist als die des Auges. Sie ist nicht auf Richtung und Ziel hin orientiert, sondern, in dieser Hinsicht, diffus und eher unbestimmt. Diese richtungsmäßige Unbestimmtheit hat eine Entsprechung in der Körperhaltung: in bezug auf eine Schallquelle kann ich mich in beliebiger Körperhaltung und -richtung befinden, ohne dabei den Sinn der akustischen Empfindung zu verletzen. Das wiederum hängt damit zusammen, daß der metaphorische Ausdruck
    Tonraum
    etwas durchaus anderes bezeichnet als den Raum, der dem Gesichtssinn zugänglich ist oder von ihm konstruiert wird. Überhaupt verweisen die Metaphern zur Bezeichnung akustischer Ereignisse – Tonraum, Tonhöhe, Klangfarbe, Tonleiter usw. – nicht etwa auf den Eigen-Sinn des Gehörs, sondern deuten eher die Verlegenheit an, diesen Sinn gehörig zur Sprache bringen zu können. Die spezifischen Sensationen (Sinnesereignisse) des Gehörs haben so denn auch eher mit dem Intervall, dem Volumen (aber auch dies sind räumliche Metaphern) und mit der Zeitlichkeit akustischer Phänomene zu tun (Pleßner 1980, S.221ff., 343ff.). Das Auge kann, gerichtet und strahlig, beliebig auf einem Punkt oder einer Fläche verweilen; das Ohr aber – entsprechend den akustischen Objekten, die es wahrnimmt – muß naturgemäß in der Zeit von Ton zu Ton weitereilen, innerhalb des Tons seine Veränderungen wahrnehmen, das Verhältnis der Töne zueinander registrieren. Diese – gemessen am Gesichtssinn – höchst
    abstrakte
    Leistung vollbringt das Gehör nur mittels seiner Zweiseitigkeit als fremd- und selbstwahrnehmendes Organ: die Tonfolge, in dieser oder jener zeitlichen, voluminösen und Intervall-Struktur wahrgenommen, kommt zu ihrem
    Sinn
    in der inneren oder äußeren Bewegung des Leibes (wer zu einer erklingenden Tonfolge nur den Takt zu schlagen versteht, hat eigentlich nichts davon verstanden).
  3. 3.
    [100:29] Bewegung. Im Unterschied zu optischen und akustischen Empfindungen scheint der Bewegung kein Sinnesorgan zu entsprechen. Dennoch soll ihr hier ein
    ästhesiologischer
    Eigenwert zugesprochen werden. Zwar scheint sie merkwürdig
    zwischen
    den verschiedenen Sinnesorganen zu liegen – nicht nur zwischen Gehör und Gesicht, denn auch Muskelreize, Gleichgewicht, libidinöse Empfindungen sind beteiligt – aber gerade diese Zwischenstellung zeichnet sie aus: Bewegung ist, darin dem Gehör mindestens ähnlich, auf sehr dichte Weise sowohl fremd- als auch selbstwahrnehmend (apperzeptiv und propriozeptiv)! Das wird bereits in der Ursprungssituation des Gehens deutlich:
    Der gehende Mensch bewegt sich so, daß der Körper vorgeschwungen wird. Dem Schwerpunkt wird für einen Augenblick die Unterstützung entzogen. Das vorgestreckte Bein ist es, das den drohenden Fall aufzufangen hat ... unser Gehen ist eine Bewegung auf Kredit
    (Straus 1960, S.228)
    . Der Ausdruck
    Bewegung auf Kredit
    bedarf weiterer Erläuterung: Der Sachverhalt wird nirgends deutlicher als beim gerade Gehen lernenden Kind; gegen die äußeren Widerstände, gegen Stolpern und Fallen, den Zug der Schwerkraft zurück auf die Knie, bietet das Kind den Gleichgewichtssinn und die nach oben gerichtete Streckbewegung des Oberkörpers auf, riskiert, den einen Fuß anzuheben, im Glauben oder zweifelnden Vertrauen (Kredit) darauf, daß es gelingen möge. Die Widerstände kommen zugleich von außen (Stolpern) und innen (die Tendenz zum Fallen wird in der |b 269|Schwere des eigenen Körpers verspürt); gegen sie werden Arme, zur Unterstützung der Balance-Problem-Lösung, und Augen, zur Regulierung der Reichweiten und Richtungen, ins Feld geführt. Wir brauchen das Kind gar nicht darüber zu befragen: seine Körperbewegungen teilen uns alles mit; sie sind unmittelbar symbolischer Ausdruck des Sinnes der Bewegung. Die Bedeutung der Formel
    ich bin mein Leib
    kann in der Bewegung am intensivsten erfahren, am wenigsten verborgen werden. Die Unbefangenheit der Körperbewegungen, die wir an Kindern beobachten, verliert sich bald aus eben diesem Grund: in der nicht-routinierten Bewegung, in expressiv-freien Tanzbewegungen etwa, geben wir unwillkürlich viel von uns den anderen preis. Aber selbst noch in den routiniert-standardisierten Bewegungsformen – in rituellen Tanz, dem Schlenderschritt in Einkaufsstraßen, den Bewegungsgesten in Klassenzimmern und auf Pausenhöfen, im Menuett des 18. und dem Walzer des 19. Jahrhunderts, in den Tanzstilen der Discos heutzutage – offenbart sich zwar nicht das je individuelle Ich, aber das Leib-Ich-Projekt eines Kollektivs.
  4. 4.
    [100:30] Die Nahsinne. Bewegung hegt zwischen den Fern- und den Nahsinnen. Auge und Ohr sind zwar für sie nützliche Hilfsmittel; zugleich aber ist sie dicht mit der selbstempfundenen Leiblichkeit verbunden, mit dem Spüren von Schwerkraft, Balance, Muskelreizen. Schmecken, Riechen, Tasten sind demgegenüber anders zu lokalisieren. Daß es an unseren Schulen Unterricht im Zeichnen/Malen, Hören/Musizieren, in Bewegen/Tanzen/Rhythmik/Leibeserziehung gibt, aber keinen Unterricht für Tasten, Riechen oder Schmecken ist kein Produkt unserer Erziehungsgeschichte, das mit diesen oder jenen Merkmalen
    bürgerlichen
    oder gar
    abendländischer
    Vereinseitigungen erklärbar wäre. Diese Vernachlässigung der Nahsinne hat einen anthropologischen Grund: in ihnen läßt sich schlechterdings kein Bildungssinn finden. Zwar haben auch sie eine ihr eigene
    Ästhetik
    ; zwar können wir auch mit ihrer Hilfe ästhetisch genießen; zwar lassen sich Geruch; Getast und Geschmack verfeinern, differenzierter ausgestalten. Aber: Sind sie zu Symbolbildungen fähig? Kann irgendeine Sinnesempfindung dieser Art über den Wahrnehmungsmoment hinaus Dauer beanspruchen, dergestalt, daß sie, für andere mitteilbar, situationsunabhängig objektiviert wird? Andererseits operiert die Sprache (und wohl auch unsere Vorstellung)
    synästhetisch
    , das heißt wirbelt die verschiedenen Sinne in Metaphern zusammen: süße Töne, duftige Farben, rauhe Bewegungen usw.. Die prinzipielle Unsagbarkeit der ästhetischen Empfindung, jedenfalls im Sinne der diskursiven Rede, des
    bestimmenden Verstandesurteils
    , führt uns offenbar dahin, durch metaphorische Anreicherung des Redens über ästhetische Empfindungen das Vokabular der je anderen Sinne zu Hilfe zu nehmen. Diese (im übrigen noch lexikalisch zu überprüfende wechselseitige Vertausch- oder Vertretbarkeit zwischen den verschiedenen Sinnen suggeriert eine
    Einheit
    der ästhetischen Erfahrung, die womöglich gar nicht existiert, sondern deren Konstruktionen lediglich der Schwierigkeit des ästhetischen Aussagens geschuldet sind. Jedenfalls gibt es diesen wichtigen Unterschied zu Auge und Ohr: evolutionsgeschichtlich verloren die Nahsinne an lebenserhaltender Bedeutsamkeit; für die Konstruktion von Kulturen traten sie deshalb zurück. Es entspricht dieser kulturellen Logik, wenn der Roman über den Geruchssinn, Süskinds
    Das Parfum
    , in einem tierischen Desaster endet. Dennoch ist die heute gelegentlich anzutreffende Schwärmerei für die Nahsinne (sie liegen ja auch der Sexualität näher als die Fernsinne) ein nachdenkenswertes Indiz für eine wichtige ästhesiologische Eigentümlichkeit: sie vermitteln dichten Kontakt der lebendigen Organismen; sie sichern rasche und unwillkürliche Reiz-Reaktions-Muster; sie sind ganz an das Gegenwärtige, das |b 270|raum-zeitliche Hier-Jetzt gebunden; die entsprechenden ästhetischen Empfindungen lassen sich zwar erinnern, aber nicht in ihrem eigenen Medium dauerhaft repräsentieren. Sie sind das Verbindungsglied zwischen Natur und Kultur und verweisen, in ihrer
    natürlich-biologischen
    Ästhesiologie, voraus auf Kultur, und zwar insofern, als sie die primären Sinne der Selbstwahrnehmung sind. Bei H. Pleßner heißt es:
    Wenn etwas meine Haut berührt, kommt sofort ein Mein- und Michton ins Spiel.
    Das ist der springende Punkt der Nahsinne. Fremd- und Selbstwahrnehmung fallen gleichsam zusammen. Aber dieses Zusammenfallen ist distanzlos. Es entbehrt des Umweges über das Fremde und Ferne, die mögliche Sicht von außen, der Perspektive des
    Wir
    . Im besten Fall vermittelt es die Empfindung dyadischer Symbiose oder leibhafter Trennung; aber es vermittelt keinen in die Welt ausgreifenden Gestus, der kulturelle Produktionen ermöglichen könnte. Die Nahsinne sind ästhesiologisches Fundament; aber sie machen den Bau nur möglich, sie können ihn nicht aufführen. Deshalb auch haben sich in ihrem Medium keine
    Künste
    entfaltet, ebensowenig wie ihre Vorform, eine intersubjektiv mitteilbare Symbolik; sie erfüllen ihren Sinn
    in bloßer Leibvergegenwärtigung
    (Pleßner 1980, S.273)
    .
[100:31] Es bleiben also – wenn wir die frühkindlichen Sinneserfahrungen und ihre fundamentale Bedeutung für die weitere Entwicklung außer acht lassen, denn davon sollte hier nicht die Rede sein – Sehen, Hören, Bewegen als die für ästhetische Erziehung thematischen Sinnesereignisse. Die in diesen Bereichen möglichen
natürlichen Zeichen
(Lessing) verweisen einerseits auf den Sinn der je betroffenen Leib-Empfindung und bringen, der Möglichkeit nach, diesen zum Bewußtsein des einzelnen Subjekts. Sie verweisen andererseits auf die aus diesem Sinn kultivierbare Kunst als eine kulturelle Objektivation in der Sphäre des Allgemeinen.
[100:33] Ist also, nach Berücksichtigung derartiger Unterscheidungen,
ästhetische Erziehung
möglich? Zunächst kann man sagen, daß die eingangs von mir zitierte normative Vorstellung Simmels über die zu wünschende Entsprechung von Innerseelischem und äußeren objektivierten Kulturprodukten nicht so ohne weiteres bekräftigt werden kann. Das Problem besteht, wenn ich recht sehe, weniger darin, Wege der Selbstverwirklichung zu finden – dieses Problem besteht freilich irgendwie immer – als vielmehr darin, wie, unter gegebenen historischen Bedingungen, die Leibhaftigkeit unserer historischen Existenz in ein Verhältnis zu den Formen ästhetischer Produktion unserer Kultur gesetzt werden kann. Gerade diese Differenz zwischen privat-sinnlicher Leiberfahrung und öffentlich-symbolischer Objektivation im Felde der Kunst bringt die schwierigen Differenz-Erlebnisse hervor, mit denen ästhetische Erziehung/Bildung es zu tun hat. Ohne Bezugnahme auf Kunst wäre zwar allerlei möglich, auch Respektables; aber es hätte wenig oder nichts mit
Ästhetik
zu tun. Ohne Bezug auf die leibhafte Organausstattung des Menschen wären zwar mancherlei semiologische Lehrgänge, Curricula denkbar zur ikonographischen Decodierung der
ästhetischen
Zeichen unserer Umwelt, aber wie verhielten sie sich zu den Aufmerksamkeiten auf
Empfinden
und deren Symbolisierungen?
Ästhetische Erziehung
, wenn dies denn ein vernünftiges Projekt sein sollte, läge also zwischen dem Bewußtwerden eigener Sinnlichkeit und den kulturell-semiologischen Lehrgängen. Wir hätten zu klären, was dieses
Zwischen
bedeutet: zwischen Urteil, Empfindung, Tätigkeitund Produkt, zwischen Gehör, Gesicht, Bewegung und den anderen Sinnen, zwischen dem selbst erfahrenen Ausdruck einer empfundenen Empfin|b 271|dung und den symbolischen Repräsentationen in Picassos
Guernica
, Weberns Klaviervariationen oder Thomas Bernhards Kindheitserinnerungen. Mir kommt die Erwartung, das Problem lösen zu können, ziemlich schwierig vor.
[100:34] Das mag recht akademisch klingen. Denn tatsächlich geschieht ja Tag für Tag, in Schulen, Familien und anderswo anscheinend dauernd das, was manch einer
ästhetische Erziehung
nennt – wenngleich nicht mit dieser Absicht; aber ist das wichtig? Man könnte deshalb meinen, daß das Stichwort
ästhetische Erziehung
etwas hervorhebt, was ohnehin geschieht, da doch unsere Leib-Seele, vom ersten Lebenstage an – darin jedenfalls können wir den Sensualisten des 18.Jahrhunderts kaum widersprechen – den Sinneseindrücken ausgesetzt wird, angesichts der sie umgebenden Kulturprodukte, zu beständigen Symbolisierungen genötigt ist. Was gibt es da noch zu
erziehen
oder zu
bilden
? Derartiges ist einfach der Fall!
[100:35] In seiner ersten Vorlesung am
Bauhaus
gab 1921 Paul Klee eine schlichte, durchaus bescheidene, auf sein Metier bezogene Antwort, vorläufig, später in gekürzter Form als
Pädagogisches Skizzenbuch
veröffentlicht: Aus der Führung des Stiftes über das weiße Blatt Papier läßt sich eine Welt erzeugen, eine Sprache entwickeln, in der das objektivierte ästhetische Produkt wie auch das innere Gewahrwerden der eigenen Empfindung aufgehoben sind: Vielleicht sollten wir Pädagogen, die über die Möglichkeiten ästhetischer Erziehung nachdenken, bei Malern, Poeten, Komponisten, Choreographen in die Lehre gehen.
[100:36] Aber das wäre dann ein weiterer Vortrag.

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