Jugendhilfe.
Modernitätsanforderungen und Traditionsbestände für die sozialpädagogische Zukunft*
1. Zwei Quellen-Texte
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1.[118:12] Offenbar handelt es sich um eine Kultur, die mit ihrem Nachwuchs Schwierigkeiten hat. Trotz eines sehr dichten Lern- und Entwicklungskontrollsystems, das den Namen»Schule«und»Vorschule/Kindergarten«hat und das im ersten Fall 100%, im zweiten Fall ca. 70% aller Kinder erfaßt, scheint nicht alles wie gewünscht zu funktionieren. Offenbar droht die Verletzung von»Rechten«, drohen»Benachteiligungen«, ist die»Umwelt«häufig»ungünstig«oder»gefährlich«(vgl. § 1 KJHG). Obwohl, am Ende des 20. Jahrhunderts, die»Familie«und ihre Varianten – also kleine Zwei-Generationen-Haushalte – das allgemein geschätzte Muster-Setting für das Aufwachsen von Kindern ist, bedarf es offenbar eines Gesetzes, um zu verhindern, daß hier nichts Unerwünschtes geschieht. Zwischen Beschulung und Familienversorgung klafft überdies eine Lücke, in der die in früheren Gesellschaften praktizierten Formen der informellen Sozialkontrolle, der Unterstützung in Notlagen usw. nicht mehr funktionieren und nun unkontrollierbare Einflüsse auf die junge Generation und ihre primären Lebensmilieus einwirken. Das Gesetz entfaltet deshalb ein Spektrum von öffentlichen Leistungen und Aufgaben, die in diesem schwer kalkulierbaren Zwischenfeld zu arrangieren sind, und zwar»zugunsten junger Menschen und Familien«(§ 2 KJHG). Das Spektrum besteht im wesentlichen aus»Jugendarbeit«(und betrifft höchstens 30% eines Jahrgangs), Familien-Förderung (unter 10% der Haushalte),»Hilfen zur Erziehung«(unter 5%) und»Hilfen für junge Volljährige«(vgl. § 2, Abs. 2). An späterer Stelle aufgeführte Einrichtungen beziehen sich auf noch geringere Jahrgangsanteile (extrem niedrig z.B. § 35).
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2.[118:13] Was heißt in dieser Gesellschaft»jung sein«? Der Befund ist widersprüchlich. Dem Gesetz können wir entnehmen (vgl. § 7), daß Menschen unter 14 Jahren»Kinder«genannt werden, 14- bis 18jährige heißen»Jugendliche«, 18- bis 27jährige»junge Volljährige«. Die Volljährigkeitsgrenze ist zusätzlich interessant: Sie trennt»Erziehungsberechtigte«von solchen, die nur Akkusativ-Objekt von Erziehung sein können, nicht aber die erste Person Singular in Sätzen, die sich auf Erziehung beziehen. Nun wissen wir aus historischem Vergleich, daß Gesetzestexte zwar ein wichtiger Indikator für das gesellschaftliche Geschehen sind, dieses aber keinesfalls abbilden. Gleichzeitig nämlich können wir eine signifikante Entfernung der über 14jährigen aus den Erziehungsmilieus und damit aus ihrem Status als Akkusativ-Objekt der Erziehungsrede beobachten. Einerseits also erscheinen die jungen Menschen bis zum 27. Lebensjahr teils erziehungs-, teils unterstützungsbedürftig, also noch nicht als Vollmitglieder der Gesellschaft in einem kulturellen (nicht rechtlichen) Sinne des Wortes; andererseits wissen wir aus einer Unzahl von Dokumenten, daß relativ früh schon die als»Jugendliche«oder»junge Volljährige«Bezeichneten sich mit großem Nachdruck als voll handlungskompetente Subjekte darzustellen versuchen. Im historischen Vergleich könnte es so scheinen, als nähere sich die Situation von 1990 in einigen Hinsichten wieder der von 1690 an: Damals gab es |b 105|nur»Kinder«bis zum Alter von etwa 13 Jahren, danach schlugen sie sich durchs Leben, mal früher, mal später, mal überhaupt nie»selbständig«. Was damals geschah, scheint Teilen der jungen Generation am Ende des 20. Jahrhunderts vernünftig. Die Jugendhilfe-Administration ist indessen in dieser Frage eher beunruhigt und denkt, das könne nicht gutgehen, wie weiland in Halle. Das Problem beginnt also (ungefähr) an dieser historischen Stelle, und es hat seinen Grund oder sein herausragendes Argument in der Ablösung ritueller Lebenszeitübergänge durch eine Dynamisierung, oder besser, durch die Idee langsam fortschreitender»Entwicklungs«-Karrieren.
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3.[118:14]»Entwicklung«scheint, auf der Grundlage der Vordenker des 18. und 19. Jahrhunderts und der nach ihren Maßgaben entworfenen Erziehungsveranstaltungen, im 20. Jahrhundert eine zentrale Vokabel zu sein. Sie ist, für die hier zu beschreibende Kulturlage, schon derart selbstverständlich geworden, daß sie im Index des Achten Jugendberichtes gar nicht mehr auftaucht. Aber allenthalben ist davon die Rede, auch im Gesetzestext.»Entwicklung«wird, nicht immer, aber doch im Regelfall, als gerichtete Bewegung in der Zeit verstanden. Die Bewegung selbst wird dabei – das wissen wir aus vielen anderen Texten – verschieden interpretiert: nach dem Muster des unberührten Wuchses der Pflanze, nach dem des von Anfang an den Wuchs korrigierenden Gärtners, als Aufeinanderfolge logischer Stufen, als Wechselspiel zwischen Triebimpulsen und Realitätserfahrung u.ä.. Bei aller Pluralität der Bilder, der»Wertorientierungen«(vgl. § 3) und»Grundrichtung(en) der Erziehung«(vgl. § 9) ist indessen unstrittig, daß für die Richtung der Entwicklungs- und Bildungsbewegungen das regulative Prinzip einer»eigenverantwortlichen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit«(§ 1)
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4.[118:15]Wie schwierig die Aufgabe ist, die der Jugendhilfe damit aufgebürdet wird, zeigt sich an der hervorragenden Bedeutung, die in beiden Texten der»Planung«zugesprochen wird (vgl. KJHG §§ 36, 79, 80, 83, 84 und Bundesminister für Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit 1990, S. 30 ff., 132 ff., 174 ff.). Es gibt sie in zwei Varianten, als fallbezogene Diagnose von Lebenslagen und als verallgemeinerte Strategie öffentlich-institutioneller Tätigkeit. Die beiden Planungsvarianten repräsentieren aber auch zwei verschiedene Haltungen, Einstellungen, Aufmerksamkeiten im Felde der Jugendhilfe. Dem historiographischen Beobachter kann gar nicht entgehen, daß mit der ersten Variante, der fallbezogenen Diagnose und Erziehungsplanung, vornehmlich Pädagogen, andere subjekttheoretisch interessierte Humanwissenschaftler, phänomenologisch orientierte Alltagstheoretiker, vor allem aber pädagogisch praktizierende Mitglieder der einschlägigen Profes|b 106|sionen identifiziert sind. Für die zweite Planungsvariante, die öffentlich-strategischen Datensammlungen, Sozialdiagnosen und Prognosen schreiben sich naturgemäß Soziologen, Sozialstaatstheoretiker, Politikwissenschaftler die naheliegende Kompetenz zu, vor allem aber die Mitglieder der Jugendhilfeverwaltung. Wir haben es also offensichtlich mit zwei verschiedenen Typen gesellschaftlicher Praxis zu tun. Wir können freilich diese Differenz durch Erfindung neuer Vokabeln kaschieren, aber wir können sie, wenn ich recht sehe, nicht aufheben.Die beiden Planungswege sind durchaus verschieden. In idealtypischer Stilisierung kann man sagen, daß die praktisch-diagnostische Variante einen hermeneutischen Weg zu gehen versucht; sie konstruiert die nächsten Schritte aus einer möglichst»dichten Beschreibung«von Lebenslagen und versucht, die Formen und Situationen vernünftiger Erziehungsplanung im Anschluß an solche Beschreibungen zu finden. Die zweite, die Sozialplanungsvariante, bevorzugt»dünne Beschreibungen«, nämlich dessen, was bereits in der Form des Kollektiv-Allgemeinen gegeben ist und über die singulären Fälle hinausgehende Vorhersage möglich machen könnte, also beispielsweise Sozialstaats-Regulative, Professionalisierungsstrategien, Bevölkerungsentwicklung, Kriminalitätsraten. Anders als im Schulsystem, wo stabile und auf lange Dauer gestellte Institutionen bewirken, daß Lehrer und Administratoren, Lern-Diagnostiker und Schulsystem-Forscher sich wechselseitig entlastet fühlen können, sind im Jugendhilfesystem beide Praxis-Typen oder Blickpunkte ständig aufeinander angewiesen, und zwar aus einem Grunde, der in der Eigenart dieses Sektors gesellschaftlicher Wirklichkeit liegt: seine geschichtlichen Veränderungen haben kürzere Wellen. Jugendhilfe ist ein empfindlicherer Seismograph für strukturelle Verschiebungen in der Gesellschaft als die Schule; die rasch wechselnden Schlagworte und Moden sind ein ziemlich guter Ausdruck für das, was häufig beklagt wird, daß nämlich die Jugendhilfe auf gesellschaftlich erzeugte Problemstände reagiert. In solcher Lage braucht der hermeneutisch-diagnostisch orientierte Praktiker die Daten der Planungsvorhersagen, damit sein Handeln»gebildet«bleibt, und braucht der Administrator die hermeneutische Erfahrung der pädagogischen Praxis – denn: Ungefähr alle zehn Jahre ändert sich die Lage.
2. Sozialwissenschaftliches
3. Kulturelles
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1.[118:30] Seit längerem schon ist in der Jugendhilfe zunehmend von»Kultur«die Rede. Das Verdikt, die Anrufung von Kultur und ihrer Verheißungen sei eine bürgerliche»Affirmation«bestehender Verhältnisse, ist, sofern man es undifferenziert weiter verwendet, gewiß veraltet. Das breite Spektrum kultureller Aktivitäten im Jugendhilfebereich – Pädagogische Aktion München; Stadt- und Kulturhäuser zwischen Eßlingen, Hamburg und Bochum; historische»Spurensuche«und handwerklich-ästhetische Projekte; Jugendtheaterarbeit; Einführung ästhetischer Praktiken in der Heimerziehung – ist Dokument eines produktiven Umgangs mit Sinnorientierungsbedürfnissen (vgl. Honig 1988, Treptow 1990), das nur der als»konservativ«oder»affirmativ«denunzieren kann, der sie nicht kennt. Diese Problemstellung reicht also weit in die Praxis von Familien, der Jugendarbeit, der Heimerziehung, ja selbst der Einzelbetreuung nach § 35 KJHG hinein (vgl. Gintzel/Schrapper 1991).
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2.[118:31] Derartige Jugendhilfe-Aktivitäten zeichnen sich in der Regel durch zweierlei aus: durch eine Anbindung an regionale Problemstellungen und durch einen Bezug auf elementare Symbol-Erfahrungen. Um dies in den Vordergrund der Aufmerksamkeit zu bringen, haben sich zwei Vokabeln bewährt,»Lebenswelt«und»Alltag«– unabhängig von dem wissenschafts- oder gar erkenntnistheoretischen Ort, den sie sonst haben mögen. Sie spielen deshalb auch im Jugendbericht der Bundesregierung eine prominente Rolle. Die beiden Ausdrücke heben hervor, was für die Perspektiven der Jugendhilfe von zentraler Bedeutung ist: die Orientierung an sinnstiftender Tätigkeit im Kontext je gegebener Lebensfelder. Freilich war das Lebensfeld jenes zitierten 15jährigen Mädchens, ihr»Alltag«, eine Schrekkenskammer; der Anschluß an die Skinheads aber war ebenso eine kulturelle Sinn-Such-Bewegung wie ihre Vorliebe für das Traktor-Fahren; beides verweist auf jenen Bestandteil des»Lebenswelt«-Begriffs, der der phänomenologischen Tradition entstammt und dort als das»Leib-Apriori«jeder Erfahrung bezeichnet wird (vgl. z.B. Meyer-Drawe 1984).
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3.[118:32] Damit ist eine entschiedene Erweiterung des gelegentlich immer noch verwendeten emphatischen Kulturbegriffs angezeigt. Die spektakulären Glanzlichter – Ausstellungen, Festivals, Rockkonzerte, historische Museen – sind zwar die leicht sichtbare Borke um den Stamm, sind auch Momente eines Marktes öffentlicher Inszenierungen, in denen, durch die Allianz mit der politischen und ökonomischen Macht, andere Bedeutungen codiert werden. hat das in einer treffenden Metapher»Zitadellenkultur«genannt (vgl. Werckmeister 1989). Demgegenüber sind die kulturellen Erfahrungen, Entwürfe und Bewegungen, die der Jugendhilfe die Thematik liefern, eher – um ein anderes Bild zu verwenden – in Hinterhöfen und Vorstädten angesiedelt, auf den Hinterbühnen. Es wäre |b 113|für die Jugendhilfe im ganzen wenig hilfreich, wenn, etwa unter dem Namen»Kulturarbeit«oder»Freizeitpädagogik«, diese Dimension sozialpädagogischer Tätigkeit auf Dauer ressortiert würde. Sie beginnt übrigens schon bei der Architektur unserer Einrichtungen (vgl. Rittelmeyer 1990), bei der Gestaltlosigkeit von Treppenhäusern und Küchen, ist also ein elementarer Bestandteil des Jugendhilfe-Alltags, Teil eines»ABCs der Elementarbildung für das Alltagsleben«(Winkler 1988, S. 305)
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4.[118:33] Schließlich sollten wir uns vor Augen halten, daß der Begriff»Kultur«die Gesamtheit der Reaktionen auf die materiellen Substrate des gesellschaftlichen Lebens meint. Dazu gehören auch alle Deutungen, symbolische Reaktionen also, mit deren Hilfe wir Problemlagen bestimmen und sie uns verständlich zu machen suchen. Ausdrücke wie»Pluralisierung von Lebenslagen«,»multikulturelle Problemstellungen der Sozialpädagogik«,»Individualisierung«,»Entwicklungslogik«,»strukturbezogene Normalitätsannahmen«,»individualisierende Zuschreibungen«,»System«und»Lebenswelt«,»Verwahrlosung«und»Kriminalität«usw. enthalten freilich immer auch Empirisches. Sie sind aber zugleich Klassifikationen, die im Prinzip auch anders ausfallen könnten. In den Formen unserer kommentierenden Rede bringen wir also immer auch einen kulturellen Gestus zur Sprache, dem eine Einstellung und dann auch eine Handlung entspricht. Die Tatsache beispielsweise, daß die Jugendhilfe sich, unter Modernitätsdruck, auf den Weg der Versozialwissenschaftlichung begeben hat, bis hinein in die sprachlichen Formen, ist selbst von kultureller Natur; wir müssen solche Entscheidungen nach Kosten und Nutzen abwägen; wir müssen wissen – wenn wir die Diagnosen von für zutreffend halten –, daß die Verwissenschaftlichung der Jugendhilfe im Prinzip die Systemkomponenten stärken und die Lebensweltkomponenten schwächen kann. Diese Frage steht bei jeder Einzelfall-Diagnose auf dem Spiel. Wir sind also, was immer wir tun, nicht nur Beobachter, sondern auch Mitspieler der Kultur, gleichviel ob wir jenem 15jährigen Mädchen unmittelbar helfen wollen oder ob wir zunächst die Daten zur Jugendhilfe des zu Rate ziehen.
4. Fachlichkeit
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1.[118:35] Die Eigenart derjenigen Probleme, mit denen die Jugendhilfe zu tun hat, erfordert»dichte Beschreibungen«(vgl.Geertz 1987). Dieser der Ethnologie entstammende Ausdruck bezeichnet ein Problem, das, wie ich vermute, jedem geläufig ist, der eine Jugendamtsakte führt und immer wieder genötigt ist, sozialdiagnostische Urteile niederzuschreiben oder auch nur die Beobachtungen anderer zusammenzufassen; das Problem müßte allerdings auch dem»Streetworker«, dem Personal in Kindergärten, Heimen und Jugendzentren geläufig sein. Eine»dichte Beschreibung«ist keine»individualisierende Zurechnung«von Gründen oder Ursachen. Individualisierende Ursachen-Zurechnungen sind ebenso»dünn«wie»strukturbezogene«, wenn sie jeweils nur für sich auftauchen.»Eine gute Interpretation ... versetzt uns mitten hinein in das, was interpretiert wird«(ebd., S. 26)»dichte Beschreibung«zuwege bringen. , und beispielsweise waren Meister solcher dichten Beschreibungen.
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2.[118:36] Dichte Beschreibungen sollten deshalb immer, in mehrfacher Hinsicht und in der Jugendhilfe,»doppelte Beschreibungen«sein. Gute Diagnosen, Gutachten, Erziehungspläne zeichnen sich dadurch aus, daß es ihnen gelingt, verschiedene Perspektiven miteinander zu verschränken. Eine Beschreibung der Problemlagen von Kindern und Jugendlichen nur unter dem Gesichtspunkt ihrer eigenen, wie es immer wieder heißt,»Bedürfnis- und Interessenperspektive«ist ebenso unzureichend wie die Beschränkung der Perspektivenwahl auf sogenannte»objektive«Daten. Ein psychiatrisches Gutachten wird sozialpädagogisch bedeutsam erst dann, wenn die psycho-somatischen Beobachtungen mit den Selbstdeutungen konfrontiert werden, mit deren Hilfe der Jugendliche sich selbst zu verstehen sucht. Die Beschreibung der Problemlage einer Familie erfordert von vornherein, die verschiedenartigen Perspektiven der Mitglieder auf das Interaktionsgeschehen hin zur Geltung zu bringen. In die (notwendige) Beschreibung formaler Strukturdaten kommt erst dann eine pädagogisch produktive Bewegung hinein, wenn sie mit kulturellen Deutungsmustern verknüpft wird. Jede |b 115|Problemlage der Jugendhilfe hat, in unserer Kultur, eine Verursachungs- und eine Deutungsseite, sie muß einerseits»erklärt«, andererseits»verstanden«werden (so können wir etwa die schwierigen Äußerungen eines verhaltensauffälligen Kindes mit der Ursache einer cerebralen Dysfunktion in einen sinnvollen Verursachungs-Zusammenhang bringen; aber haben wir sie damit»verstanden«?). Die Nötigung zu doppelter Beschreibung ergibt sich überdies aus einem fundamentalen Sachverhalt: Individualitäten kommen nicht einfach zur Welt, sondern entstehen im Prozeß der Vergesellschaftung; die Bildungsimpulse des heranwachsenden Menschen sind von Beginn an dem immer schon typisierten Feld sozialer Struktur, kultureller Deutungen und pädagogisch eingespielter Aufgabenstellungen konfrontiert. Andererseits sind Strukturdaten nicht schon individuell konturierte Sinn-Beschreibungen. Sozialpädagogische Formulierungen von Bildungs- oder Selbstbildungsproblemen ergeben sich erst aus beidem. Es kann deshalb keine befriedigende Beschreibung von Problemlagen der Jugendhilfe geben, die nicht eine»doppelte«wäre.
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3.[118:37] Problemlagen in der Jugendhilfe und mit pädagogischem Anspruch lassen sich nicht beschreiben, wenn nicht Normatives ins Spiel käme. Die in Krieg und ökonomischer Ausbeutung mißbrauchten Kinder des Orients, Asiens und Afrikas bringen, wenn wir derartige Urteile selbstreflexiv bedenken, das Problem zur Sprache: Von welchen Normalitätsannahmen gehen wir aus, und welche halten wir für begründungsfähig? Normalitätsannahmen sind ein Moment von Lebensformen. Deshalb bringen wir sie in der Regel unwillkürlich zur Geltung. Die Lage jenes zitierten 15jährigen Mädchens ruft in uns Empörung hervor. Eine der seit klassischen pädagogischen Attitüden, das Abwarten (vgl. Winkler 1988, S. 351), funktioniert hier nicht. Die Empörung entstammt der Gewißheit von Gesittungen, die in Lebensformen gebunden sind. Denken wir darüber nach, dann kommen wir auf ethische Begründungen des Jugendhilfe-Handelns, auf ihre Ursprünge in der christlichen Tradition und in der säkularen praktischen Philosophie: Der Mensch dürfe immer nur als Zweck, niemals aber als Mittel genommen werden. Aber: Gibt es nicht vielleicht doch einen höheren Zweck als den Menschen, zumal in der Weise, in der die europäische Neuzeit ihn dachte?»Multikulturelle Erziehung«, oder bescheidener und kleinräumiger gedacht»pluralisierte Lebensformen«legen die Frage nahe, ob solcher Pluralität auch eine Vielzahl von Normalitätsentwürfen, also auch verschiedene Wege der Begründung von Sittlichkeit entsprechen. Zu dem Modernitäts-Projekt von Sittlichkeit gehört hingegen der universelle Anspruch, die philosophische Fiktion, der Mensch sei der Möglichkeit nach ein voll handlungsfähiges Subjekt, in der Abwägung seiner Handlungsmotive autonom und in den daran anschließenden Entscheidungen einem universellen Denken verpflichtet: postkonventionelle Moral. Die Jugendhilfe hingegen wird es empirisch, wie ich vermute, noch lange mit einer faktischen Pluralität von Lebensformen zu tun haben, die nicht einfach auf die lineare Per|b 116|lenkette hin zu jener philosophischen Fiktion gefädelt werden können. Ethische Argumentationsfähigkeit ist deshalb das dritte Merkmal von Fachlichkeit, das ich postulieren möchte.