Konjekturen und Konstruktionen [Textfassung b]
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Konjekturen und Konstruktionen

Welche
Wirklichkeit
der Bildung referieren Dokumente der Kunstgeschichte?1
|b 180|1Der ursprüngliche Titel des Symposionvortrags lautete: Der fiktionale Gehalt bildungstheoretischer Rekonstruktionen an Beispielen der Kunstgeschichte.

[123:3] Im Hinblick auf Bild-Materialien, von bildungshistorisch interessierter Geschichtsschreibung als Dokument verwendet, zu sagen, sie seien
fiktiv
, ist entweder trivial oder führt in schwierige begriffliche Problemstellungen hinein. Gleiches gilt für den propositionalen Gehalt historiographischer Sätze. Die Schwierigkeiten – sie würden übrigens ähnlich im Hinblick auf literaturhistorische Quellen auftauchen – stellen sich angesichts der Frage ein, in welchem Sinne behauptet werden könnte, daß
fingierte
Bilddokumente keine zu sichernde Realitäts-Referenz enthalten, in welchem Sinne es also vernünftig wäre zu behaupten, daß antike Bildwerke, niederländische Interieurs oder Landschaften, die
Lindenstraße
oder die Graffiti an Betonwänden keine Auskunft geben können über den je historischen Stand einer Bildungswelt. Zu einer derartigen Behauptung wird man sich schwerlich entschließen können.
[123:4] Die
Realität
der Bildung, zu gegebenen historischen Zeitpunkten, ist ein Sachverhalt, der mit der Erwartung
empirisch
zuverlässiger Daten, also zählbar und meßbar nicht hinreichend beschrieben werden kann. Wenn – nach einem Theorem des symbolischen Interaktionismus – nicht nur die zähl- und meßbaren Daten einer Situation zu deren Realität gehören, sondern auch die von den Beteiligten vorgenommenen Definitionen der Situation, der vor- oder zugeschriebene Sinn, dann können auch Bildwerke als Sinnentwürfe und also als Bestandteile von historischer
Realität
genommen werden. Derartige Situationsdefinitionen oder Sinnentwürfe sind es, die für eine Historiographie der Bildung, die sich auf Bildwerke stützen möchte, bedeutungsvoll werden. Daraus folgt, daß nicht die Abbildungs-Repertoires im Zentrum des Interesses stehen, nicht die ikonographischen Details den relevanten Wirklichkeitsgehalt verbürgen, sondern die Komposition oder Konstruktion. Das läßt sich exemplarisch an zwei Vergleichen erläutern.
  1. 1.
    [123:33] Innerhalb des als
    albertinisch
    benennbaren Bildungshabitus – Leon Battista Alberti war nicht nur der Verfasser von kunsttheoretischen Kommentaren zu Architektur und Malerei, sondern auch einer umfänglichen Schrift zur Gestalt der Bildung im 15. Jahrhundert – waren zwei durchaus verschiedene Bildprojekte möglich und vom Publikum geschätzt – im Repertoire ziemlich gleich, in der Komposition/Konstruktion ziemlich verschieden. Mantegna und Bellini, durch Schwesterheirat verwandt, malten je ein Bild, das (fast) eine Kopie des je anderen sein könnte, eine
    Darbringung Jesu im Tempel
    , vielleicht unmittelbar vor der Beschneidung (vgl. Belting 1990, S. 42ff.; Ringbom 1965). Identisch sind die (trivialen)
    Realitäts
    -Referenzen: der in Tücher gewickelte Knabe, die Figuren Marias, Simons, Josephs – bis auf Konturen und Kleidung ziemlich genau übereinstimmend. Vor allem ist der Gesamthabitus identisch: der Blick auf eine bedeutende Szene hin. Verschieden ist indessen die Komposition des Ganzen bzw. die Konstruktion der Bildungsfigur: Mantegna malte ein Andachtsbild mit Heiligenscheinen und sparsamster Personnage. Bellini erzählte eine ambivalente Geschichte zwischen Mythos und Wirklichkeit, und zwar dadurch, daß er die Komposition in wenigen, aber signifikanten Merkmalen veränderte: Die Anzahl der Personen wird vermehrt, die perspektivische Bild|b 179|tiefe wird verstärkt, die Trauergeste der Maria wird physiognomisch deutlicher akzentuiert. Die Kompositionsdifferenz gibt auch dem Jesuskind einen anderen semantischen Ort; bei Mantegna war es nur Jesus Christus, bei Bellini ist es beides: Christus und Wickelkind. Der pädagogische Historiograph, der zwischen 1450 und 1470, zwischen Padua und Venedig vielleicht einen identischen, den
    albertinischen
    Bildungshabitus ausgemacht hat, müßte nun diese beiden Entwürfe von Bildung, den devotionalen und den narrativen, gegeneinander abwägen, als Bestandteil dessen, was
    albertinisch
    als Bildungsentwurf der Fall gewesen ist.
  2. 2.
    [123:34] Die historiographische Rekonstruktion dessen, was zu diesem oder jenem historischen Zeitpunkt der Fall war, sollte, im Hinblick auf Bildungsgeschichte als Bildergeschichte, diejenige Komponente des jeweiligen Bildungshabitus ermitteln, die als je charakteristische
    Seh-Kultur
    bezeichnet und auf je elementare Kompositions-/Konstruktionsregeln zurückgeführt werden kann. Es gibt deren viele. Eine davon ist die oben angedeutete
    albertinische
    : eine
    finestra aperta
    , in der eine bedeutende Handlung zur Darstellung kommt, perspektivisch geordnet, mit eindeutigem Blick- und Fluchtpunkt, physiognomisch – mit
    rilievo
    – konturiertem Individualitäts-Ausdruck etc.. Einen anderen Habitus präsentiert die etwas spätere niederländische Malerei: keine
    finestra aperta
    , keine perspektivisch organisierte bedeutende Handlung, nicht
    ut pictura poesis
    , sondern
    ut pictura, ita visio
    , das Bild auf der Netzhaut: die Kuh, die Landschaft, der Fliesenboden sind in diesem Projekt ebenso
    bedeutend
    wie die bedeutenden Erzählungen; die Perspektiven werden diffundiert; Helligkeitsstufen werden wichtig usw.; kurz: die Leibhaftigkeit des Seh-Vorgangs tritt gegenüber der Worthaftigkeit des Bildes in den Vordergrund (vgl. Alpers 1985). (Comenius konnte sich bei dieser Alternative und als Nicht-Niederländer, obwohl in Amsterdam wohnend, in seinem
    Orbis pictus
    nicht entscheiden). Im Bildungshabitus der italienischen Frührenaissance dominierte, stilisierend gesprochen, der ikonographisch-narrative Blick, im Bildungshabitus der Niederländer der leibhaft-phänomenologische. Ich vermute, daß es, wie für das 19. Jahrhundert poetologische Tiefenregeln der Geschichtsschreibung ermittelt wurden (vgl. White 1991), viele solcher visuellen Konstruktionen gibt, die für Bildmaterialien allerdings ikonologisch und nicht poetologisch beschrieben werden müßten. Es würde dann deutlich werden (vgl. Boehm 1980; Imdahl 1986), daß ikonographische Nacherzählungen von Bildquellen nur eine mögliche Variante der bildungshistoriographischen Verwendung von Dokumenten der Malkunst sind, eine Variante zudem, die sich die Konstruktionsregel eines besonderen historischen Typus als Rekonstruktionsregel überhaupt zu eigen gemacht hat.
  3. 3.
    [123:35] Die historischen Dokumente der Malkunst sind Konstruktionen. Die Behauptungen des Geschichtsschreibers der Bildung sind Rekonstruktionen. Die Zusammenfügung der Elemente/Fragmente zu einem als sinnvoll annehmbaren historischen Bericht gelingt nur mit Hilfe von Konjekturen (Bätschmann 1988). Als Bestandteil hermeneutischer Operationen bringen sie, hypothetisch, schon innerhalb der Quelle das dort verschieden Scheinende zusammen. Die Operation wiederholt sich im Zusammenfügen verschiedenartiger Quellen zur Rekonstruktion einer Seh-Kultur, z.B. die Bilder Vermeers oder Saenredams mit der Theorie der Optik von Kepler (Alpers 1985); und noch einmal bei dem Versuch, solche Seh-Kulturen innerhalb eines Bildungshabitus zu lokalisieren, z.B. die Verknüpfung von Vermeer, Kepler, Comenius und der Stadtkultur Amsterdams im 17. Jahrhundert, oder der Bilder Chardins, Locke, Diderot, den Pariser
    Salons
    und Rousseau im 18. Jahrhundert (vgl. z.B. Baxandall 1985; Mollenhauer 1988/89).
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[123:36] Derartige Konjekturen sind prüfbare Hypothesen. Für eine Behauptung, die ein bestimmtes Element der Seh-Kultur als Bestandteil eines Bildungshabitus geltend macht oder eine bestimmte Menge von Bilddokumenten als Beweis für eine Seh-Kultur vorführt, kann im Prinzip geprüft werden, ob es stimmt. Die Historiographie der Bildung folgt also nicht den gleichen Gütekriterien und den gleichen Produktionsregeln wie die Hervorbringung der Dokumente selbst. Diese Differenz zwischen Quelle und historiographischem Satz könnte nur durch einen
postmodernen
Willkürakt beseitigt werden.
[123:37] Dennoch bleibt eine Schwierigkeit übrig, die es einerseits mit der besonderen Charakteristik von Dokumenten der Malkunst und andererseits mit den hier notwendigen hermeneutischen Operationen zu tun hat: Bilder sind als Deutungen, als Situationsdefinitionen zwar real, aber gehören offenbar zu einer anderen Klasse von Wirklichkeits-Elementen als etwa Schulgesetze, Immatrikulationszahlen, Säuglings-Sterberegister, Lehrpläne. Ihr anderer Quellenstatus erfordert Hermeneutik, für die allerdings zuzugeben ist, daß sie eines Restes schwer objektivierbarer Subjektivität nicht entraten kann, jedenfalls beim Sehen von Bildern. Jede Bilddeutung ist nicht nur eine Probe der Sorgfalt, mit der ich die Quelle beschrieben, die Kontexte verglichen, die Konjekturen ins Spiel gebracht, schließlich auch die (hoffentlich) valide und reliable historiographische Behauptung niedergeschrieben habe – sondern auch eine Probe auf mein eigenes Seh- und Empfindungsvermögen. Liegt hier ein (letzter) Rest von
Fiktion
?

Literatur

    [123:41] Alpers, S.: Kunst als Beschreibung. Köln 1985.
    [123:43] Bätschmann, O.: Anleitung zur Interpretation: Kunstgeschichtliche Hermeneutik. In: Belting, H. u.a. (Hrsg.): Kunstgeschichte. Eine Einführung. Berlin 1988, S. 191-221.
    [123:44] Baxandall, M.: Patterns of Intention. On the Historical Explanation of Pictures. Yale University 1985.
    [123:45] Belting, H.: Bild und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst. München 1990.
    [123:46] Ders.: Giovanni Bellini. Pietà. Ikone und Bilderzählung in der venezianischen Malerei, Frankfurt/M. 1985.
    [123:47] Boehm, G.: Bildsinn und Sinnesorgane. In: Bubner, R. u.a. (Hrsg.): Anschauung als ästhetische Kategorie. Neue Hefte für Philosophie, Heft 18/19. Göttingen 1980, S. 118132.
    [123:50] Imdahl, M. (Hrsg.): Wie eindeutig ist ein Kunstwerk? Köln 1986.
    [123:59] Mollenhauer, K.: Diderot und Chardin – zur Theorie der Bildsamkeit in der Aufklärung. In: Pädagogische Korrespondenz, Heft 4, Münster 1988/89, S. 3346.
    [123:63] Ringbom, S.: Icon to Narrative. The Rise of the Dramatic Close-up in Fifteenth-Century Devotional Painting. Acta Academia Aboensis, Ser. A Humaniora. Abo 1965.
    [123:67] White, H.: Metahistory. Die historische Einbildungskraft im 19. Jahrhundert in Europa. Frankfurt a.M. 1991.