Fiktionen von Individualität und Autonomie – Bildungstheoretische Belehrungen durch Kunst [Textfassung b]
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Fiktionen von Individualität und Autonomie

Bildungstheoretische Belehrungen durch Kunst1
1Abschiedsvorlesung, gehalten im Februar 1996 in Göttingen.

[133:2]
Die Seele wohnt an jenem nahezu punktförmigen Ort, an dem das
ich
sich entscheidet
.
[133:3] Das meinte der um dunkle Formulierungen nicht verlegene französische Wissenschaftshistoriker, Mathematiker und Kunstphilosoph Michel Serres. Immerhin: der Ort der Seele ist
nahezu
punktförmig. Das wird sogleich erläutert:
[133:4]
Ich schneide mir die Nägel ... Als Linkshänder nehme ich das Werkzeug in die linke Hand und lege die geöffneten Schneiden an die Nagelspitze des rechten Zeigefingers. Ich versetze mich in den Griff der Schere hinein, das
ich
befindet sich nun dort
, die
linke Hand bearbeitet das Objekt rechter Zeigefinger ... Das
ich
füllt meinen linken Zeigefinger ganz und gar aus
(Serres 1993, S. 17f.)
.
[133:5] Die Seele sitzt nun also im linken Zeigefinger, an der Kontaktstelle zur Schere, weil eben dort das
ich
sich entscheide.
[133:6] Treffen wir bei dieser Operation vielleicht auch auf
Individualität
oder
Autonomie
? Man könnte das vermuten; Serres ist Linkshänder, und er, bzw. sein
ich
,
entscheidet
sich, etwa zwischen den Alternativen kürzer oder länger, gerade oder gekrümmt. Zu dieser Seite hin aber will Serres seine Selbstbeschreibung nicht erweitern. Er gibt sich zufrieden mit der Verwendung der Vokabel
Subjekt
. Es heißt nämlich auch:
Wie entscheidet sich das Subjekt?
– und
das Subjekt linke Hand be|b 128|arbeitet das Objekt rechter Zeigefinger
. Nun darf man das gewiß eine ungenaue Formulierung nennen. Was aber mich im folgenden interessiert, ist die Frage, ob es nicht völlig hinreichend ist – und dann immer noch schwierig genug –, von Ich und Nicht-Ich, von Subjekt und Objekt zu reden? Wieso eigentlich benötigen wir – zumal die Pädagogen – eine Redegewohnheit, in der
Individualität
und
Autonomie
als herausgehobene Orientierungsmarken Geltung beanspruchen, in der Theorie wie in der Praxis? Gibt es hinreichende Gründe dafür, daß es nicht genug sei zu behaupten, die Exemplare unserer Gattung seien letzten Endes, der unendlichen Vielfalt von Determinanten wegen,
unteilbar
? Muß dieser triviale Sachverhalt noch ins Normative gewendet werden? Was ohnehin der Fall ist, bedarf keiner Bekräftigung. Oder
Autonomie
: sich selbst das Gesetz der Entwicklung und des Lebens vorschreiben ist das nicht vielleicht eine Ausgeburt von Ignoranz oder eine vergebliche Hoffnung?
[133:7] Derartige Fragen verfehlen natürlich den Sinn solcher Vokabeln, so wie sie in der Philosophie- und weiteren Geistes- und Sozialgeschichtsschreibung gebräuchlich sind. Dort hat man deutlich differenziert: Der soziologische Sinn etwa von
Individualisierung
oder von
Autonomie der Schulen
(neuerdings) ist ein zwar verwandter, aber doch anderer als der, der im Hinblick auf die Bildung des Menschen geltend gemacht wird, auch wenn er bereits vor mehr als 150 Jahren schon eine auf das Soziale gerichtete Funktion hatte, etwa bei Schleiermacher. Wilhelm von Humboldt hat jenen engeren Rede-Sinn auf Formeln gebracht, die seitdem die pädagogische, besonders die bildungstheoretische Literatur beherrschen. (Die in der pädagogischen Literatur ausufernde Rede von Individualität und Individualisierung will ich hier nicht referieren.) Zur Erinnerung zitiere ich nur eine kleine Textpassage, an der, von Humboldt vielleicht nicht beabsichtigt, die Schwierigkeit des Problems deutlich wird:
[133:8]
Jede menschliche Individualität ist eine in der Erscheinung wurzelnde Idee, und aus einigen leuchtet diese so strahlend hervor, daß sie die Form des Individuums nur angenommen zu haben scheint, um in ihr sich selbst zu offenbaren. Wenn man das menschliche Wirken entwickelt, so bleibt, nach Abzug aller dasselbe bestimmenden Ursachen, etwas Ursprüngliches in ihm zurück, das, anstatt von jenen Einflüssen erstickt zu werden, |b 129|vielmehr sie umgestaltet, und in demselben Moment liegt ein unaufhörlich tätiges Bestreben, seiner inneren, eigentümlichen Natur äußeres Dasein zu verschaffen
(Humboldt 1960, S.603)
.2
2Diese Textpassage verdient freilich genauere Erörterung. So ist etwa die Frage, was eine
in der Erscheinung wurzelnde Idee
sei, nicht leicht zu beantworten. Es steckt in dieser Formel ein halbherziger Platonismus, eine ärgerliche Ungenauigkeit. Der Gedanke aber, den Humboldt hier zum Ausdruck bringt, eröffnet, zur nicht-platonischen Seite hin, eine Argumentation, die in der neueren Psychologie zu einer empirischen Beschreibung des
Selbst
geführt hat: Demnach ist das Selbst die Vorstellung, die ich mir von mir, von meinem Gewordensein, unterschieden von allen anderen mache, erkennbar auch für andere (vgl. Kegan 1991). Ob dieses mir zum virtuellen Objekt werdende
Selbst
eine
Individualität
als
etwas Ursprüngliches
genannt werden darf, kann man auf sich beruhen lassen. Und da es sich lebensgeschichtlich beständig ändert, ist auch Humboldts Formulierung, jenes
Ursprüngliche
sei die Quelle eines
tätigen Bestreben(s), seiner inneren, eigentümlichen Natur äußeres Dasein zu verschaffen
, diskussionsbedürftig.
Individualität
wird hier offenbar als ein organismisches Energiepotential gedacht, das in der Lage ist, sich beständig gegen die
bestimmenden Ursachen
Geltung zu verschaffen. Dieser Gedanke ist freilich eine unerschöpfliche Quelle für Reform-Ideologien.
[133:9] Wir, die Pädagogen, hören freilich diese Botschaft gern. Sie befriedigt unsere sentimentalen Neigungen, für
Mündigkeit
,
Kreativität
,
Reform
,
Lebenswelt
oder was sonst die Referenz-Etiketten der in dieser Frage einschlägigen Diskurse sein mögen. Aber: ob nun, beim Nägelschneiden, das
ich
im Zeigefinger sitzt oder ob es eine
innere, eigentümliche Natur
gebe, die sich ein
äußeres Dasein
zu verschaffen sucht – in beiden (und vielen ähnlichen) Fällen gibt es immer noch einiges zu klären. Können wir uns dabei mit Hilfe jener Objekte der europäischen Kultur belehren, die wir
Kunst
nennen? Die verzweigten begrifflichen Konnotationen, in die die Thematik hineinführen könnte – etwa: Ist der Ausdruck
Subjekt
nicht hinreichend für das, was gesagt werden soll? Ist der psychologische Begriff des
Selbst
nicht das Äquivalent für das, was Humboldt
Individualität
nennt? Haben die neueren
systemischen
Theorien das Problem nicht bereits liquidiert?3
3
Systemische
Theorien haben nicht das
Subjekt
liquidiert, als die Bezeichnung für eine Gattungseigenschaft des Menschen.
Individualität
aber fungiert in ihnen höchstens als nahezu kontingentes Merkmal von Exemplaren innerhalb eines viel weiteren und ziemlich komplexen |b 130|Systems, zunächst innerhalb von Sozietäten, dann aber auch zwischen Mensch und Natur (vgl. Bateson). Die Problemlage wird dort völlig anders beschrieben als in der traditionellen pädagogischen Literatur.
– solche Fragen will ich nicht |b 130|behandeln; auch nicht die Frage, wie das
Ich
zu denken sei, in bezug auf
Subjekt
,
Selbst
,
Individualität
,
Autonomie
oder
innere, eigentümliche Natur
; in dieser Hinsicht verhalte ich mich philosophisch naiv und denke: das
Ich
ist die erste Person Singular im Satz. Mich interessiert nun, was im Satz (oder im Werk) das
Ich
über
sich
aussagt.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Zeichnungen „Gesichtswinkel“ (1792) gezeichnet von Petrus Camper aus dem Werk „Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters“ von Petrus Camper zu sehen.
Abbildung 1: P. Camper

1. Individuum

[133:11] Im 18. Jahrhundert glaubte Petrus Camper die geometrische Regel für die schöne menschliche Physiognomie gefunden zu haben; und Grandville spitzte das Problem, satirisch, 1844 noch zu (diese Hinweise verdanke ich Konrad Wünsche):
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Zeichnung „Apoll steigt zum Frosch hinab“ (1844) von J. J. Grandville zu sehen, welche 1844 in „Le Magasin Pittoresque“ auf S. 272 erschien.
Abbildung 2: J. G. Grandville
[133:12] Beide profitierten von den Kunst-Bemühungen der Renaissance. Leonardo, aber auch Dürer, forschten zeichnerisch der Regel für die menschliche Physiognomie nach, allerdings noch nicht mit dem evolutionstheoretischen Interesse des 18. und 19. Jahrhunderts. Aber wo ist, bei diesen und jenen, Individualität lokalisiert?
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Zeichnung „Zehn Profilköpfe und Gewandstudie“ (um 1515) von Albrecht Dürer zu sehen.
Abbildung 3: A. Dürer
[133:15-16] Dürer scheint sagen zu wollen, daß Individuelles sich am ehesten in der Karikatur zeigt, als Abweichung. Auch der Campersche |b 132|Winkel gibt darauf noch einen Hinweis: die Extremfälle sind gleichsam vollständig determiniert, durch Tierheit einerseits und idealisch phantasierte Proportion andererseits. Hätte Humboldt seinen Einfall von der
inneren, eigentümlichen Natur
hier, im Zwischenfeld, irgendwo unterbringen können, zumal wenn man bedenkt, von welcher Art die Statuen und Gipsabgüsse waren, mit denen er sich in Tegel umgab? Und wie könnte Hegel seine auf den Camperschen Winkel bezogene Behauptung rechtfertigen, in klassizistischer Manier, das griechische (Campersche) Profil sei ein
Ausdruck des Geistigen
, aber, so fügt er kompromißbereit hinzu,
ohne ... alle und jede Individualität zu verbannen
(Hegel 1984, 2. Band, S. 114)
. Klassizistisch verstandene
Schönheit
und auf die empirischen Exemplare bezogene
Individualität
geraten hier offenbar ins Gedränge. Nun hat man – trotz der skeptischen Fragen, in die die Zeichenstudien Dürers hineinführen – gesagt, daß
Individualität
als kulturell-symbolisches Strukturmerkmal durch die Renaissance in die Diskurse eingefädelt wurde, und zwar nicht nur als Gestus der bildnerischen Beobachtung, sondern als normative Idee. Seit Jacob Burckhardts Studien wird dies, mit leichten Varianten, gebilligt. Kronzeugen unter den Dokumenten sind vornehmlich die italienischen Portraitmalereien. An diesen wurde immer wieder – am gründlichsten wohl von Gottfried Boehm – erläutert, daß es die Individualität und ihre gegen alles andere autonom sich behauptende Eigentümlichkeit sei, die in solchen Bildern zur Geltung komme (Boehm 1985, Imdahl 1988). Ist das wirklich so, oder zeigen nicht gerade diese Bilder die theoretische Weglosigkeit der Rede von
Individualität
?
[133:18] Das um 1508 gemalte Bildnis eines jungen Mannes von Lorenzo Lotto (vgl. Abb. 4)ist ein nicht nur frühes, sondem auch herausragendes Exemplar jenes Genres.4
4Die Wahl dieses Bildes und die Stichworte seiner Deutung verdanke ich G. Boehm (1985), S. 167 ff.
Alle wesentlichen, für
Individualität
reklamierten Bildmerkmale sind hier bereits versammelt: Eine subtile Aufmerksamkeit für physiognomische Differenzierung, bis in die feinste Schattierung der Haartracht hinein; die Drehung des Kopfes, die das mögliche Stereotype der enface-Darstellung ebenso zu vermeiden sucht wie die Darstellung eines klar gezeichneten Profils; die dadurch bewirkte
Räumlichkeit
|b 133|der Figur, und das heißt: ihre Disposition für Handlungen, für Tätigwerden, für unvorhersehbar Künftiges; der Verzicht auf ablenkende Tiefen im Bildraum, wie etwa kurz vordem noch gebräuchlich, mit Fensterausblicken in Landschaftliches, das die dargestellte Person im Sozial-Allgemeinen von Zeit und Region lokalisiert – der Vorhang im Hintergrund zeigt nur Räumliches überhaupt und lenkt den Blick nicht auf verallgemeinernde Attribute, in deren Kontext die dargestellte Person einzufügen wäre – die
Bedeutung
des Vorhangs betont sein Zurücktreten hinter das, was hier dargestellt werden soll; die grüne Bordüre, nur noch bildsyntaktisch ins Spiel gebracht, lenkt höchstens – wenn sie denn überhaupt noch etwas außer der Blickbewegung des Betrachters lenkt – zurück auf die dargestellte Person; um so wichtiger wird die ikonographische Anspielung oben rechts im Bild, wie ein allegorischer Kommentar, aber nun soweit zurücktretend, daß man es fast übersehen könnte – ein Kommentar zur Zeit, in der Kerze symbolisiert und vergehend. Es scheint mir so, im fast versteckten Lichte dieser Kerze, daß Allegorisch-Allgemeines nur eben noch als ein ferner Schein zur Sprache gebracht werden soll, die Lokalisierung dieser Person nicht nur im Raum, sondern auch in der Zeit.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes „Bildnis eines Jünglings vor weißem Vorhang“ (um 1508) von Lorenzo Lotto zu sehen.
Abbildung 4: L. Lotto
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[133:20] Tritt damit
Individualität
ins Bild, das, was Humboldt die
innere Natur
nannte? Dieser sprachliche Ausdruck deutet die Schwierigkeit an, und der Maler Lorenzo Lotto sucht sich ihr in einer seltenen Entschlossenheit zu nähern, aber vergeblich. Denn: Welche Chancen gibt es überhaupt, vom Äußeren auf Inneres zu schließen? Das ist nicht nur ein Problem für Maler. Die
Traumdeutung
Sigmund Freuds, dieser epochale Versuch, dem
Inneren
auf die Spur zu kommen, schickt uns auf einen unabschließbaren Weg. Wenn Lotto und andere Portraitisten des Cinquecento auf die damals sonst gebräuchliche Akzentuierung der Perspektive verzichteten, dann ist das vielleicht ein früher bildkompositorischer Hinweis auf diese Unabschließbarkeit, ein Hinweis darauf, daß
Individualität
und damit die
innere Natur
eben nicht durch einen identifizierbaren Fluchtpunkt bestimmt werden kann. Andernfalls wäre das Individualitätsprojekt schon bildsyntaktisch verfehlt.
[133:21] Nelson Goodman zog, nicht aus diesen, aber aus anderen Beobachtungen der Kunstszene die Konsequenz, daß, wenn man schon die Unterscheidung von innen und außen gelten lassen will, ein Bild das
Innere
nur
metaphorisch exemplifiziere
(Goodman 1976)
. Bilder können demnach keine Innenwelt zeigen, sondern höchstens Metaphern dafür in Vorschlag bringen. Von
Metapher
kann allerdings nur insofern die Rede sein, als deren zweite Komponente, neben den im Bild verwendeten Signaturen, das Erleben/Empfinden/Einbilden der Betrachter geltend gemacht werden kann. Die Sprache des Bildes, die Elemente also, aus denen solche Metaphern gebaut werden könnten, sind physiognomische Zeichen. Vergeblich versuchte indessen die Physiognomik, vom Ende des 15. Jahrhunderts bis zu Lavater, Camper und (satirisch) Grandville, die Zeichen für
Individualität
zu ermitteln, also die zweite Hälfte der Metapher zuverlässig zu erschließen. Offenbar läßt sich diese aus dem Repertoire des Allgemeinen nur, im Sinne metaphorischer Exemplifizierung,
konstruieren
, als immer weiter gesteigerte Vervielfältigung der physiognomischen Merkmale, als Bemühung des Beobachters, aus dem sinnlich-äußerlich Gegebenen eine
Innenwelt
zu erfinden. Die ausufernde Individualitätsrhetorik könnte sich also durch die Grenzen, die im Bild sich zeigen, belehren lassen. (Wieviele Geschichten muß man über eine Person erzählen, damit uns endlich ihre
Individualität
verständlich wird?)
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2. Selbstportraits

[133:22] Das Konstrukt muß deshalb nicht haltlos sein. Aber wo, wenn nicht in den empirischen Beschreibungen, könnte es seinen Halt haben? Man hat gesagt (Boehm 1985, S. 97), daß Individualität am ehesten zugänglich sei über den Namen und die Erzählung. Was wäre gewonnen, wenn wir den Namen jenes von Lotto gemalten Jünglings wüßten? Vielleicht wäre etwas gewonnen, wenn wir auch über seine Geschichte etwas in Erfahrung brächten. Hier verschwistert sich das idealistische Individualitäts-Motiv mit dem gegenwärtigen Interesse an Autobiographien. In dieser zweiten, weit in die qualitative Sozialforschung hineinreichenden Komponente, in der Pädagogik derzeit sehr beliebt, zeigt sich das gleiche Problem wie schon im Portrait von Lotto: Das Individuum wird dann doch zum Fall, zum Exempel für Anderes. Als würden die Sozialforscher es ahnen, daß die Suche nach Individualitäten vergeblich sein könnte, verfahren sie gleich von vornherein so, daß das Allgemeine in den Blick kommt, die
Rolle
, die
Funktion
, die
Struktur
, das für Lokalisierungen sonst geeignete soziale Attribut.5
5Ein solches Attribut kann auch
dialektisch
, wie es gelegentlich heißt, konstruiert sein. Es hat dann eine
negative
Form: die nur versprochene, aber nicht erreichte
Mündigkeit
; die erwartete, aber nicht realisierte
Individualität
. Versprechen oder Erwartung (oder Ähnliches) suchen, mit Bezug auf Individualität und Autonomie, Unbeschreibliches zur Geltung zu bringen. Es ist deshalb naheliegend, daß die qualitative Sozialforschung von ihren generalisierten Konstrukten her (Rolle, Struktur, Funktion, Position, Karriere, Mündigkeit etc.) auf die Individuen blickt. Diese selbst, ihre emphatischen Korrelate von Individualität und Autonomie, bleiben der empirischen Forschung verborgen. Sie kann sie nur heuristisch erschließen oder, noch vorsichtiger ausgedrückt, umkreisen.
Das scheint mir vernünftig zu sein.
[133:23] Eben dies war schon das Problem Rembrandts (s. Abb. 5).
[133:24] In der Folge jener Aufmerksamkeit der Renaissance-Malerei für das Porträt entstand, eine oder zwei Generationen später, das Interesse der Malerei an Selbstbildnissen. Wenn man schon nicht in das Innere der anderen Person hineinblicken kann, dann vielleicht in sich selber? Rembrandts Studien sind nicht nur ein entschiedener und wirklich grandioser Höhepunkt solcher Bemü|b 136|hungen, sondem sie dokumentieren auch ihre Vergeblichkeit. 200 Jahre später läßt Georg Büchner, durch Fichte-Lektüre gebildet, seinen Woyzeck sagen:
Dann ... habe ich nachzudenken, wie es wohl angehen mag, daß ich mir auf den Kopf sehe. O, wer sich einmal auf den Kopf sehen könnte!
Maler, besonders wenn sie vor dem Spiegel sitzen, porträtieren sich nicht mit Blick auf den Kopf, aber doch en face. Das Problem bleibt das gleiche. Können sie
sich
malen? Können sie entäußern, was sie als ihre Individualität zu spüren meinen? Nein. Der Lehrgang, den uns Rembrandt in mehr als 60 Versuchen präsentiert, zeigt ihn in nicht enden wollender Variation sozialer Verkleidungen, selbst dort noch, wo das Selbstbildnis eine pure Ausdrucksgeste zur Darstellung zu bringen scheint. Diese Serie von Selbstbildnissen zeigt nicht nur auf die Grenze des szientifisch Sagbaren, sondern auch und vor allem auf die des bildnerisch Darstellbaren. Auch dort noch, wo alle Attribute verschwunden sind – kein Interieur mehr, keine Staffelei, keine Palette, kein Hinweis durch Kleidung –, bleibt die Ausdrucksgeste sozial, d.h. in die symbolischen und also verallgemeinerten Ausdrucksgesten der Physiognomie und des kulturellen Umfeldes eingebunden. Dies alles aber sei, so meinte Merleau-Ponty, als Allgemeines nur
passiv
konstituiert
(Merleau-Ponty 1966, S.486)
;
Individualität
gründe sich demgegenüber in
Aktivität
. Von dieser indessen gibt es höchstens Spuren. Sie zeigen sich kaum im Sujet; am ehesten vielleicht in der Mal- oder bei Poeten in der Schreibweise. Freilich können wir aus dem Duktus des Pinsels, des Stifts, der Nadel Rembrandts Objekte relativ rasch aus vielen anderen herausfinden (aber auch in dieser Hinsicht gibt es Schwierigkeiten, weil auch andere dies als
Manier
übernommen hatten).
[133:26]
Individualität
oder gar
innere Natur
sind also Konstruktionen aus der Beobachterperspektive, das, was die Beobachter sich hinzudenken. Der in vielen Hinsichten unvergleichliche Lessing hatte das schon gut im Blick, als er, im
Laokoon
, meinte, es sei die
Einbildungskraft
, die sich Individualität
hinzudenke
(zit. nach Boehm 1985, S.99)
. Derartige Konstrukte der Einbildungskraft zum Orientirungspunkt für praktische Empfehlungen zu machen, scheint mir eine ziemlich abenteuerliche Operation zu sein. Aber weiß ich, ob das Abenteuer nicht notwendig ist?
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Radierung „Selbstbildnis mit Mütze, lachend“ (1630) von Rembrandt zu sehen.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Radierung „Selbstbildnis mit Mütze, den Mund geöffnet“ (1630) von Rembrandt zu sehen.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Radierung „Selbstbildnis mit krausem Haar“ (um 1630) von Rembrandt zu sehen.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Radierung „Selbstbildnis mit Grimasse“ (1630) von Rembrandt zu sehen.
Abbildung 5: Rembrandt
[133:28] Es wäre lohnend, eine Geschichte des Selbstportraits zu schreiben, die nicht unsere kulturelle Gewohnheit der Rede von
Individualität
bekräftigt, sondem sie als deren Scheitern beschreibt – nicht allerdings als Problem der Subjektphilosophie, aber doch als eine Vorstellung, die für das Erziehungs- und Bildungshandeln leitend sein könnte. Selbstbildnisse geraten beispielsweise in unserem Jahrhundert nicht nur ins Hintertreffen, sondern sie zeigen, je mehr wir an unsere aktuelle Gegenwart herankommen, geradezu verzweifelte Findungsgesten. Ich zeige nur zwei Beispiele (Abb. 6/7).
[133:30] Beide Porträtisten nennen ihre Objekte zwar noch
Selbstbildnis
; man darf sie, aus diesem und aus anderen Gründen, deshalb der mit Rembrandt begonnenen Kulturreihe zurechnen. Aber während Rembrandt, zwar auch schon mit gequälter Geste, dem Geheimnis des Selbst noch nachzuforschen versucht, wird es hier, nicht weniger gequält, als ein Darstellbares verabschiedet. Die Geste des Ausstreichens oder Übermalens, die Geste der instrumentell verzerrten Physiognomie lassen die Stellen, an denen Individualität sich zeigen könnte, leer. Über
innere Natur
gibt es nichts zu sagen. Um so mehr tritt die Außenseite hervor. Der pure Körper und seine Oberfläche, seine Abdrücke und die Spuren, die er hinterläßt, |b 138|sind das Thema, das nun in die Aufmerksamkeit rückt. Das gilt weniger für Rainer und Helnwein, mehr indessen für das, was sonst gegenwärtig als Körper-Inszenierung in der Kunst vorkommt (vgl. Identity and Alterity 1995).
Individualität
schrumpft demgegenüber zum abgesunkenen Kulturgut, zum Kleinbürger- oder Großbürgerprojekt eines bloßen, aber leeren Versprechens. Die Aufmerksamkeit auf den Körper ist eine Aufmerksamkeit auf das Subjekt, keine auf
Individualität
, sofern mit dem Ausdruck
Subjekt
gerade auf das Allgemeine der Gattung hingewiesen werden soll, auf
Herr und Knecht
in einer Person, nicht aber auf irgendwie Einzelnes. So auch von Rainer und Helnwein.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Fotografie „Tragkranz“ (1971) von Arnulf Rainer zu sehen.
Abbildung 6: A. Rainer
[133:33] Ist nun also Individuelles vollständig verschwunden? Nein. Es bleibt, wie bei Rembrandt, durch die gewalthaften Zerstörungs- oder Negationsgesten gerade noch erhalten, wenngleich nur als mittelbare Spur der künstlerischen Tätigkeit, im Schwung des Pinsels oder im Mechanismus der Kamera. Ist also vielleicht die zu Beginn zitierte Meinung Michel Serres’ gar nicht so abwegig, wie es zunächst scheinen könnte, nämlich daß die Seele, das Ich, die Individualität ihren Sitz hier zwar nicht in der Nägel schneidenden Fingerspitze, aber im ästhetischen Akt, in Pinsel und |b 139|Kameraverschluß haben? Befindet sich die
innere, eigentümliche Natur
dann im Kameraverschluß? Hat man erst einmal die Alternative von Innen- und Außenwelt gewählt, dann scheint es, als geriete man immer tiefer in die Sackgasse hinein; denn nun, wo die Künstler weitere Nachforschungen nach
Individualität
verabschieden wollen, verlagert sich die Frage endgültig zum Beobachter hin: Können wir die Tätigkeitsspuren von Pinsel und Kamera als Dokumentation der
inneren Natur
interpretieren? Das hieße, daß der Negations-Gestus der Kunstobjekte eine positive Suchbewegung, nun zur Individualität des Künstlers hin, provoziert – aber man ahnt schon, daß auch diese sich rasch in schlechten Spekulationen verfangen könnte.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung der Fotografie „The Last Days of Pompeii II“ (1987) von Gottfried Helnwein zu sehen.
Abbildung 7: G. Helnwein
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3. Autonomie

[133:36] Derartiges liegt in der Nähe der schon von Humboldt vorgenommenen Verknüpfung von Individualität und Autonomie. Jenes
Ursprüngliche
, schlechthin
Individuelle
, jene
innere, eigentümliche Natur
zeige sich
nach Abzug aller dasselbe bestimmenden Ursachen
, ein Restposten also, der keiner Heteronomie mehr unterworfen ist. Ist dieser Rest, die Entscheidung für diesen Strich, für diesen
Augen
-Blick der Kamera,
Autonomie
genannt, noch für irgendeine empirische Prozedur zugänglich? Oder ist das nicht eher eine parabolische Rede, deren Triftigkeit deshalb erst im Unendlichen sich erweist? Adorno, der die Schwierigkeiten der Problemstellung deutlicher sah als Humboldt, versuchte zu erläutern, daß, wenn schon Individualität und Autonomie mögliche Kandidaten für Gegenstände der Erfahrung sein sollten, sie nur in der Reflexion auf die eigene Erfahrung sich zeigen könnten. Die Tränen, die ihm, nach eigenem Bekunden, bei der Musik Schuberts kamen, weisen darauf hin; sie bleiben aber der wissenschaftlichen Rede entzogen. Diese entdeckt vielmehr überall nur die gesellschaftlichen Bedingungsfelder, in die die Musik, als Komposition, Aufführungspraxis und Rezeption, verwoben ist. Die
Träne
stellt sich nur gleichsam am Rande ein, nach dem schmerzhaften Durchgang durch die Analyse. Am Ende einer solchen Analyse der Kammermusik heißt es deshalb:
[133:37]
Was eine Funktion hat, ist ersetzlich; unersetzlich nur, was zu nichts taugt
(Adorno 1973, S. 291)
.
[133:38] Autonomie wäre demnach Untauglichkeit, nur als Negation bestimmbar. Das gilt für die Träne wie für das Werk. Luigi Nono, zu dessen frühen Kompositionen Adorno keinen Zugang mehr fand, gab 1980 in seinem Streichquartett
Fragmente – Stille, an Diotima
ein Beispiel.
[133:40] Als Auftragswerk für das Beethoven-Festival in Bonn komponiert, ist es zwar ein Objekt des bürgerlichen Warenmarktes. Außer dem damit definierten Tauschwert verweigert dieses Stück aber jede Tauglichkeitserwartung. Das wurde Nono übelgenommen, erwartete man doch von ihm eine Fortsetzung der politisch-agitatorischen Komponenten, die in seinen früheren Opera häufig waren:
Autonomie
also als enttäuschte Erwartungen (vgl. Henius 1993). Für keinerlei pragmatische Zusammenhänge, schon |b 141|gar nicht für moralische, kann diese Musik tauglich sein – höchstens für die Zahlung des Honorars an den Komponisten. Für sie gilt nur die größte Konzentration auf die Lösung eines musikalischen Problems, unter Absehung von allem anderen. Es kommt nur darauf an,
ob es stimmt
, bekräftigte Nono eine anekdotisch mitgeteilte Äußerung Bachs. Das erinnert an die Meinung Maria Montessoris, die Selbständigkeit des Kindes zeige sich am ehesten in der konzentrierten Aufmerksamkeit für Operationen, in denen Sinnlichkeit und Verstand gleichermaßen in Anspruch genommen werden, und dies sei höchst lustvoll, gerade weil keinerlei pragmatische Kalkulation des Kindes in Anspruch genommen wird – seit Kant und Schiller ein theoretischer Topos.
[133:41] Was sich an der Kammermusik oder bei Maria Montessori zeigt, das findet man auch in der bildenden Kunst, besonders prägnant im Stilleben. Es scheint mir bemerkenswert zu sein, daß nicht nur die (vergeblichen) Bemühungen der Porträtmalerei an das Autonomie-Problem heranfahren, sondern, wenn ich recht sehe, gerade das Stilleben.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes „Stillleben mit Milchsatte“ (1905) von Paula Modersohn-Becker zu sehen.
Abbildung 8: P. Modersohn-Becker
[133:44] Als
Nature morte
löst dieses Genre, diese Gattung, das Sujet aus allen pragmatischen Kontexten heraus.
An die Stelle des gegenstandsabbildenden tritt ein gegenstandshervorbringendes Malen
, konstatierte Imdahl,
das den Gegenstand durch ... nichts außer sich bedeutenden Sichtbarkeitswerten neu erschafft
(M. Imdahl zit. nach Stilleben in Europa 1979, S. 524)
. Nirgends au|b 142|ßer im Stilleben der Moderne wird dieser Gestus derart prägnant vorgeführt. An Paula Modersohn-Beckers Bild ahnt man schon die spätere, noch konsequentere Reduktion des Themas von Morandi; man erkennt aber auch die Vorgeschichte, etwa in Manets
Zitrone
, oder in dem schon um 1730 gemalten Krug von Chardin.
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes „Le citron“ (1880) von Edouard Manet zu sehen.
Abbildung 9: E. Manet
Hier ist eine schwarz-weiße Abbildung des Gemäldes „Verre d'eau et cafetière“ (1761) von Jean Baptiste Siméon Chardin zu sehen.
Abbildung 10: J.-S. Chardin
[133:49] Diese äußerste Konzentration auf das Problem der Sichtbarmachung von etwas (vgl. dazu Fiedler 1991, Boehm 1994) – wie im |b 143|Falle Nonos auf das Hörbarmachen von etwas – gibt einen Hinweis auf Autonomie (sowohl der Künste als auch des Subjektes!) nur insofern, als auch das Stilleben,
Nature morte
, eine Geste der Negation ist. Freilich läßt sich auch diese kulturhistorisch in die Heteronomien von Moden und Märkten, von ikonographischen Traditionen und ideologischen Stereotypen einreihen. Das gilt aber von allem, das sich das Etikett
Autonomie
zuschreibt. Es liegt indessen in solchen artifiziellen Hervorbringungen immer auch der andere, kultursoziologisch nicht einholbare Sinn: die Träne Adornos, das Fremde der Klänge Nonos, diese völlig unpragmatische Aufmerksamkeit für das Stilleben, für das Nicht-Ich, das Ding, das sich, wie tot, weit entfernt von mir aufhält, aber auch Montessoris Ideen zur Selbständigkeit des lernenden Kindes berühren eine empirisch nicht zureichend beschreibbare Antithesis zu dem, was uns, in wissenschaftlicher Einstellung, zugänglich ist.

4. Schluss: Einige theoretische Erwägungen

[133:50] Aus den vorgetragenen Hinweisen, Beschreibungen und (sehr knappen) Erörterungen gewinne ich den (hypothetischen) Vorschlag, Vokabeln wie
Individualität
und
Autonomie
in der Rhetorik der Erziehungswissenschaft zu vermeiden, sofern damit irgendein empirisches Datum, irgendeine normative Erwartung verbunden sein sollte, die dasjenige positiv anleiten könnte, was wir
pädagogisches Handeln
nennen. Die modische Vokabel
Selbstverwirklichung
ist dafür ein signifikantes Symptom. Wenn ich mein
Selbst
kenne, es also schon wirklich ist, was gibt es da zu verwirklichen; kenne ich es nicht, was ist dann das, was zu verwirklichen wäre (vgl. Tugendhat 1979)? Die Vokabel ist indessen nicht so aporetisch, wie es scheinen könnte. Sie verweist, so unpassend hier auch der Ausdruck
verwirklichen
sein mag, auf ein Problem, das man nur dann verfehlt, wenn man sie als empirisch-normative Aufforderung versteht, als nur peinlich-falsche Beschreibung dessen, was der Fall ist oder der Fall sein sollte, und nicht als Hinweis auf eine aufklärungsbedürftige Schwierigkeit des Denkens, Redens und Handelns.
[133:51] Von ganz unerwarteter Seite kommt uns nun Hilfe zu. Wenngleich in anderen Vokabularien, wird uns in der Naturwissen|b 144|schaft z.B. folgendes vorgetragen: Im Hinblick auf die Evolution der Gattung sind zuverlässige Prognosen nicht möglich; zwar gibt es
zyklische
Verläufe, verstehbar nach dem Modell reversibler, also wiederholbarer Zeit; wir können die Experimente Galileis mit der auf schräger Fläche rollenden Kugel wiederholen und kämen, im Prinzip, zu gleichen Ergebnissen; dies ist etwa so, wie in den musiksoziologischen Analysen Adornos die Gesetze des bürgerlichen Warenmarktes als
wiederholbar
beschrieben werden oder wie unsere Bildungseinrichtungen die Wiederholbarkeit von Bildungsverläufen zu institutionalisieren versuchen. Aber ebenso gibt es die
irreversible Zeit
, Verläufe also, die nicht wiederholbar und nicht vorhersehbar sind, die mit
fraktalen Strukturen
, mit nichtkalkulierbaren Brüchen im Fortgang der Ereignisse zu tun haben. Man kann nicht Vorhersagen, welche Richtung der
Zeitpfeil
, der nicht der Regel des Zyklus, der reversiblen Zeit folgt, demnächst nehmen wird. Friedrich Cramer nennt dies die
Gratwanderung
alles Lebendigen (Cramer 1995), eine in jedem Moment labile Gleichgewichts-Erwartung. Der Mensch kann sich bei der Lösung dieser biologisch auferlegten Aufgabe auf das Zyklische, zuverlässig Wiederkehrende stützen und, um im Bild zu bleiben, auf allen vieren über den Grat kriechen. Entschließt er sich zum aufrechten Gang, muß er sich, wenigstens heuristisch, zu einem wie auch immer riskanten Gegengewicht entschließen. Die ideellen Konstrukte von Individualität und Autonomie sind vielleicht solche Gegengewichte. Wir können sie zwar nicht empirisch identifizieren, als etwas, worauf Verlaß wäre; sie sind nur mental gegeben als Vorstellung, nur schwach konturiert. Wir können sie deshalb auch nicht normativ, in Erziehungs- und Bildungstheorien, zur Geltung bringen, als Handlungsempfehlungen etwa, denn dann müßten wir über prognostisches Wissen verfügen. Individualität und Autonomie sind also, im strengen Sinne dieser Rede,
kontrafaktische
Ideen, die auf keine Wirklichkeit, sondern nur auf Möglichkeiten verweisen (Rittelmeyer 1993, S. 131), auf Hoffnungen einer Gattung, die sich noch nicht aufgegeben hat.
[133:52] Die empirische Uneinlösbarkeit der beiden mich hier interessierenden Vokabeln führt also nicht in den Vorschlag, sie und das, was sie meinen, schlechterdings als Bezugsmarken zu liquidieren, auch wenn sie eines noch wissenschaftlich zu nennenden Sinnes entbehren sollten. Sie verweisen auf ein Paradox, das in |b 145|einem hier vielleicht treffenden Physiker-Witz gut formuliert ist: Ein Physiker hat sich ein Haus gebaut und lädt einen Kollegen zum ersten Besuch ein. Über der Haustür ist ein Hufeisen, ein Glücksbringer also, angebracht. Der Besucher fragt:
Wie denn das? Bist Du inzwischen abergläubisch geworden?
Der Hausbesitzer antwortet:
Nein. Natürlich nicht. Nicht entfernt. Aber: die Leute hier sagen, es hilft, auch wenn man nicht dran glaubt!

Literatur

    [133:53] Adorno, Th. W.: Einleitung in die Musiksoziologie. Gesammelte Schriften 14, Frankfurt/M. 1973
    [133:54] Boehm, G.: Bildnis und Individuum. München 1985
    [133:55] Boehm, G. (Hrsg.): Was ist ein Bild? München 1994
    [133:56] Cramer, F.: Gratwanderungen. Das Chaos der Künste und die Ordnung der Zeit. Frankfurt/M. 1995
    [133:57] Fiedler, K.: Schriften zur Kunst, 2 Bände, hrsg. von G. Boehm. 2. Aufl. München 1991
    [133:58] Frank, M./Haverkamp, A. (Hrsg.): Individualität. München 1988
    [133:59] Goodman, N.: Sprachen der Kunst. Frankfurt/M. 1976
    [133:60] Hegel, G. W. F.: Ästhetik. 2 Bände, hrsg. von Fr. Bassenge. 4. Aufl. Berlin und Weimar 1984
    [133:61] Henius, C.: Schnebel, Nono, Schönherg oder Die wirkliche Musik und die erdachte Musik. Hamburg, 1993
    [133:62] Humboldt, W. v.: Schriften zur Anthropologie und Geschichte. Werke in 5 Bänden, hrsg. von A. Flitner und K. Giel, Band 1. Darmstadt 1960
    [133:63] Identity and Alterity. Figures of the body 1895/1995. La Biennale di Venezia. Venezia 1995
    [133:64] Imdahl, M.: Relationen zwischen Porträt und Individuum. In: Frank/Haverkarnp, a.a.O.
    [133:65] Kegan, R.: Entwicklungsstufen des Selbst. Fortschritte und Krisen im menschlichen Leben. 2. Aufl., München 1991
    [133:66] Merleau-Ponty, M.: Phänomenologie der Wahrnehmung. Berlin 1966
    [133:67] Parmentier, M.: Das gemalte Ich. Über die Selbstbilder von Rembrandt. In: Zfpäd. 1997 Heft 5, S. 271-737
    [133:68] Rittelmeyer, Chr.: Individualität und Autonomie. In: Bildung und Erziehung 1993, Heft 2, S. 129ff.
    [133:69] Rudolph, E.: Odyssee des Individuums. Stuttgart 1991
    [133:70] Serres, M.: Die fünf Sinne. Frankfurt/M. 1993
    |b 146|
    [133:71] Stilleben in Europa. Hrsg, von G. Langemeyer und H.-A. Peters, im Aufträge des Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe und der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden. Münster 1979
    [133:72] Tugendhat, E.: Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung: Frankfurt/M. 1979
    [133:73] Wünsche, K.: Bildung, Anthropologie, Karikatur. In: Ästhetik/Aisthesis, hrsg. von K. Mollenhauer und Chr. Wulf. Weinheim 1996

Verzeichnis der Abbildungen

  1. Abb. 1:
    [133:74] Petrus Camper: Gesichtswinkel vom Affen bis zum Apollonkopf. 1792; zit. nach N. Borrmann: Kunst und Physiognomik. Köln 1994, S. 146
  2. Abb. 2:
    [133:75] J. G. Grandville: Apoll steigt zum Frosch hinab. 1844; zit. nach N. Borrmann, a.a.O., S, 171
  3. Abb. 3:
    [133:76] Albrecht Dürer: 10 Profile, ca. 1515; zit. nach K. Wünsche, a.a.O.
  4. Abb. 4:
    [133:77] Lorenzo Lotto: Jüngling vor weißem Vorhang, um 1508; Wien, Kunsthistorisches Museum
  5. Abb. 5:
    [133:78] Rembrandt: Selbstportraits, 1630; zit nach Chr. Wright: Rembrandt. Self-Portraits. London 1982
  6. Abb. 6:
    [133:79] A. Rainer: Selbstporträts, 1971–73. Zit. nach: Identity and Alternity, a.a.O., S. 496 ff.
  7. Abb. 7:
    [133:80] G. Helnwein: Selbstporträt. Zit. nach: G. Helnwein, hrsg. von Peter Feierabend, Köln 1992, S. 48
  8. Abb. 8:
    [133:82] P. Modersohn-Becker: Stilleben mit Milchsatte (Der Frühstückstisch) 1905, Ludwig-Roselius-Sammlung der Böttcherstraße, Bremen
  9. Abb. 9:
    [133:83] E. Mauer: Le Citron, 1880–188 1. Paris, Musee d’Orsay
  10. Abb. 10:
    [133:84] J.-S. Chardin: Wasserglas und Kaffee-Topf, 1760. Pittsburgh, Museum of Art Carnegie Institute