Mollenhauer: Erziehung und Emanzipation [Textfassung a1]
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Mollenhauer: Erziehung und Emanzipation

Mollenhauer, K.: Erziehung und Emanzipation. Polemische Skizzen. München 1968. S. 9–21.

[028:9] Die Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg haben gezeigt, daß die
»geisteswissenschaftliche Pädagogik«
nur begrenzt leistungsfähig ist im Hinblick auf die Aufklärung derjenigen Zusammenhänge, die die Wirklichkeit der Erziehung ausmachen. Die Kritik an einer Pädagogik-Konzeption, die durch verstehendes Auslegen und Deuten pädagogischer Texte und pädagogischer Praxis einen Begriff des
»eigentlich Pädagogischen«
zu gewinnen suchte, um dann von ihm her die geschehende Erziehung beurteilen zu können, diese Kritik wurde zunächst [...] vornehmlich von erfahrungswissenschaftlichen Positionen her vorgetragen.1.
1.Vgl. dazu u. a. W. Brezinka, Die Pädagogik und die erzieherische Wirklichkeit, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1959, S. 1 ff.; ders., Über den Wissenschaftsbegriff der Erziehungswissenschaft und die Einwände der weltanschaulichen Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1967, S. 135 ff.; R. Lochner, Deutsche Erziehungswissenschaft, Meisenheim/Glan 1963 ferner Arbeiten von H. Roth, besonders: Die realistische Wendung in der pädagogischen Forschung, in: ders., Erziehungswissenschaft, Erziehungsfeld und Lehrerbildung, hrsgg. von H. Thiersch und H. Tütken, Hannover 1967.
[028:10] Aber während diese Auseinandersetzung noch im Gange ist, melden sich Zweifel, ob die Alternative: hier hermeneutisch verfahrende Pädagogik – dort empirisch verfahrende Erziehungswissenschaft2.
2.Für solche Vereinfachungen vgl. vor allem Brezinka und Lochner, a. a. O.
richtig formuliert ist.3.
3.Dazu H. Blankertz, Pädagogische Theorie und empirische Forschung, in: Zur Bedeutung der Empirie für die Pädagogik als Wissenschaft, Neue Folge der Ergänzungshefte zur Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik, Heft 5, hrsgg. von M. Heitger, Bochum 1966; I. Dahmer, Theorie und Praxis, in: Geisteswissenschaftliche Pädagogik am Ausgang ihrer Epoche – Erich Weniger, hrsgg. von I. Dahmer und W. Klafki, Weinheim 1968; P. M. Roeder, Zur Problematik der historisch-systematischen Methode, in: Die Deutsche Schule, Jg. 1962; H. Thiersch, Hermeneutik und Erfahrungswissenschaft – zum Methodenstreit in der Pädagogik, in: Die deutsche Schule, Jg. 1996.
Verfolgt man nämlich die wissenschaftstheoretischen Diskussionen der letzten Jahre in der Sozialwissenschaft, dann läßt sich mindestens das Problem nicht übersehen, das sich nun für die Erziehungswissenschaft aus der Kritik an einer
»positivistisch halbierten Rationalität«
ergibt, einer Wissenschafts-Konzeption nämlich, nach der Wert- und Zwecksetzungen nur noch beschrieben, aber nicht mehr wissenschaftlich diskutiert werden können. Eine solche Verkürzung der Erziehungswissenschaft um die Reflexion derjenigen Probleme, die die Orientierung im Handeln betreffen, ist vielleicht das letzte Wort nicht. Aufklärung ist ja nicht nur die Intention der Wissenschaft; sie sollte auch, sofern sie Selbstbestimmung ermöglicht, der Zweck |a1 252|der Bildungs- und Erziehungspraxis sein. Oder anders formuliert: Für die Erziehungswissenschaft konstitutiv ist das Prinzip, das besagt, daß Erziehung und Bildung ihren Zweck in der Mündigkeit des Subjektes haben; dem korrespondiert, daß das erkenntnisleitende Interesse der Erziehungswissenschaft das Interesse an Emanzipation ist. [...]
[028:11] Dafür allerdings ist Empirie unerläßlich und ein notwendiges Instrument der Emanzipation. Dafür ist aber ebenso unerläßlich die Interpretation des Verständigungszusammenhanges, in dem die Praxis ihre Zwecke diskutiert.
[...]
[028:14] Die These, daß der Gegenstand der Erziehungswissenschaft die Erziehung unter dem Anspruch der Emanzipation sei, muß jedem suspekt erscheinen, der als wissenschaftliche Theorie nur gelten läßt, was dem in den Naturwissenschaften entwickelten empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriff entspricht. Die zunehmende Verbreitung empirischer Verfahren in der pädagogischen Forschung, die Einsicht in die Unerläßlichkeit solcher Verfahren für Erkenntnis und Planung pädagogischer und bildungspolitischer Vorgänge legt es nahe, mit solchen Verfahren auch zugleich den Wissenschaftsbegriff zu übernehmen, der ihnen in anderen Wissenschaften korrespondiert. Die Verführung ist groß, die Tätigkeit des Erziehungswissenschaftlers für um so wissenschaftlicher zu halten, je ausschließlicher er sich jenem empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriff verpflichtet zeigt.
[028:15] Nachdem die wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung in der Erziehungswissenschaft lange Zeit ruhte, hat sie Wolfgang Brezinka wieder neu entfacht, und zwar als Apologet einer Erziehungswissenschaft als Erfahrungswissenschaft:
[028:16]
»Von der Physik bis zur Geschichtswissenschaft. von der Archäologie bis zur Erziehungswissenschaft kann man mit guten Gründen für sie alle die gleiche deduktiv-empirische Methode fordern: Aus einer vorläufig noch unbegründeten Annahme, aus einer Hypothese oder einem theoretischen System werden auf deduktivem Wege Folgerungen abgeleitet, die logisch wie anhand der Tatsachen (empirisch) geprüft werden können. Wer als Erfahrungswissenschaftler anerkannt werden will, muß sich der Übereinkunft über diese allgemeinsten Grundsätze der erfahrungswissenschaftlichen Methode anschließen.«
4.
4.W. Brezinka, Über den Wissenschaftsbegriff der Erziehungswissenschaft und die Einwände der weltanschaulichen Pädagogik, in: Zeitschrift für Pädagogik, Jg. 1967, S. 156.
[028:17] Brezinka setzt damit allerdings ein wenig außerhalb des Diskussionsrahmens ein, in dem die Kontroversen in der Sozialwissenschaft gegenwärtig geführt werden. Nach ihm scheint es so, als sei die gebräuchliche Unterscheidung von Natur- und Geisteswissenschaften bzw. von empirisch-analytischen und hermeneuti|a1 253|schen Wissenschaften für die Pädagogik irrelevant, ja als sei diese Unterscheidung selbst ein überspannter Gedanke und als seien alle Wissenschaften ein und derselben Erkenntnisweise zu unterwerfen. Er läßt keinen Zweifel daran, daß er damit eine Entscheidung für einen bestimmten Wissenschafts- und Theoriebegriff fällt, und nennt dies seine vorwissenschaftliche Basisentscheidung. Er erweckt damit den Anschein, als sei diese Entscheidung nicht mehr sinnvoll diskutierbar. Gerade das aber wird durch die genannte sozialwissenschaftliche Diskussion widerlegt: Die von Brezinka so genannte Basisentscheidung, der für die Wissenschaft angenommene Zweck, wird dort diskutiert.
[028:18] Welcher Zweck läßt sich für die Erziehungswissenschaft angeben? Brezinkas These klingt einleuchtend:
[028:19]
»Stellt man die Frage nach den Beziehungen zwischen Wissenschaft und Werturteilen im allgemeinsten Sinne, so hängt die Antwort natürlich davon ab, was man unter Wissenschaft versteht und welche Aufgaben man ihr zuweist. Wer ihren Zweck darin sieht, die Wirklichkeit zu erforschen und über sie zu informieren, entscheidet sich damit für einen anderen Wissenschaftsbegriff als jemand, der fordert, sie solle auch die moralischen Überzeugungen, die Einstellungen und Handlungen der Menschen beeinflussen. Hier geht es um vorwissenschaftliche Entscheidungen.«
Es handelt sich
»um das Problem der Wertbasis der Wissenschaften, also um die Frage, inwieweit den wissenschaftlichen Aussagen Wertungen zugrunde liegen oder vorausgehen müssen.«
5.
5.A. a. O., S. 159.
Brezinka schreibt weiter, er habe diese Basisentscheidung getroffen, da ihm
»beim Wissenschaftsbegriff seine Fruchtbarkeit für die Erkenntnisgewinnung wichtiger ist als sein Nutzen für die normativ-emotionale Steuerung des menschlichen Verhaltens«
.
6.
6.A. a. O., S. 160.
[028:20] Das Einleuchtende verdankt diese Behauptung einer Ungenauigkeit und einer Unterschlagung. Was bedeutet es, daß die Erziehungswissenschaft ihren Zweck darin zu sehen habe,
»die Wirklichkeit zu erforschen und über sie zu informieren«
? Eine eindeutige Basisentscheidung kann hier nur vorliegen, sofern der Ausdruck
»Wirklichkeit«
eindeutig ist. Wenn wir Brezinka richtig verstehen, müssen wir diesen Ausdruck so auslegen, daß
»Erforschung der Wirklichkeit«
eine Verarbeitung sensorischer Daten in erklärenden Sätzen meint: eben das, was die Naturwissenschaft tut. Die Information über die
»Wirklichkeit«
ist dann also die Weitergabe der so gewonnenen erklärenden Sätze. Der Zweck, zu dem das geschieht, ist die Beherrschung jener Wirklichkeit.
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[028:21] Die Unterschlagung Brezinkas besteht darin, daß er nahelegt, die ernsthafte Alternative zu seinem Wissenschaftsbegriff sei die Auffassung, nach der der wissenschaftliche Nutzen in der
»normativ-emotionalen Steuerung des menschlichen Verhaltens«
liege. In übertriebener Bescheidenheit nimmt er für den empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriff in Anspruch, daß er nur das Interesse an der Erforschung der
»Wirklichkeit«
und an der Information über diese enthalte. Zu welchem Zweck aber will diese Wissenschaft informieren? Ist in Brezinkas Wissenschaftsentscheidung nicht auch schon über diesen Zweck etwas ausgemacht? Wir können mit gutem Grund vermuten, daß dem so ist: Da die Erziehungswissenschaft analog zur Naturwissenschaft verstanden werden soll, dürfen wir annehmen, daß ihr Interesse nicht bei der Information endet, sondern durch die Art der Information auch ihre Verwendung nahegelegt ist; es handelt sich um Informationen über Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge, um kausal-erklärende Sätze, die die Beherrschung naturhafter oder quasi-naturhafter Vorgänge ermöglichen – im Falle der Erziehungswissenschaft also um Sätze, die die Beherrschung pädagogischer Prozesse möglich machen, und zwar durch Einsicht in deren Gesetzmäßigkeiten. Die Ironie der Argumentation Brezinkas ist nun aber gerade, daß derjenige Wissenschaftszweck, den er ausschließen will, in seinem eigenen Wissenschaftsbegriff als dessen Folge enthalten ist: Die
»normativ-emotionale Steuerung«
des pädagogischen Verhaltens wird nämlich gerade durch den empirisch-analytischen Wissenschaftsbegriff wirkungsvoll möglich gemacht; der
»Gegenstand«
der Erziehungswissenschaft wird unterlaufen, sofern dieser Gegenstand durch die dem Anspruch nach rational miteinander kommunizierenden Erziehungssubjekte bestimmt ist. Erfahrungswissenschaftliche und normative Pädagogik sind sich in diesem Punkte näher als sie glauben. Was diese durch normativen Appell zu erreichen hofft, kann jene dadurch verwirklichen, daß sie ein Kausalitätswissen zur Verfügung stellt, das technologisch zur Beherrschung menschlichen Verhaltens verwendet werden kann. In beiden Fällen ist der Respekt vor der Rationalität der im Erziehungsverhältnis miteinander verbundenen Subjekte nicht geboten. Er kann nur noch nachträglich angefügt werden. Der
»vernünftige«
Gebrauch der erfahrungswissenschaftlichen Information soll – wenn wir Brezinka richtig verstehen – nicht mehr Sache der Erziehungswissenschaft sein.
[028:22] Man kann deshalb mit Recht fragen, ob die für die Erziehungswissenschaft relevanten Sachverhalte sich wirklich ohne Not einer derart erfahrungswissenschaftlichen Konzeption fügen. Oder vorsichtiger: Erschöpfen sich die erziehungswissenschaftlich relevanten Daten in jenem von Brezinka hervorgehobenen Wissen|a1 255|schaftsbegriff? Sofern die Erziehungswissenschaft zu den Handlungswissenschaften zu zählen ist – und es besteht kein Anlaß, daran zu zweifeln –, können wir für sie in Anspruch nehmen, was Habermas von der Sozialwissenschaft im ganzen behauptet:
[028:23]
»Der Objektbereich der Handlungswissenschaften besteht aus Symbolen und Verhaltensweisen, die nicht unabhängig von Symbolen als Handlungen aufgefaßt werden können. Der Zugang zu den Daten wird hier nicht allein durch Beobachtung von Ereignissen, sondern zugleich durch das Verständnis von Sinnzusammenhängen konstituiert. Wir können in diesem Sinne sensorische von kommunikativer Erfahrung unterscheiden. ... Die kommunikative Erfahrung richtet sich nicht, wie Beobachtung, auf Sachverhalte, sondern auf vorinterpretierte Sachverhalte: Nicht die Wahrnehmung von Tatsachen ist symbolisch strukturiert, sondern die Tatsachen als solche.«
7.
7.
J. Habermas, Zur Logik der Sozialwissenschaften, S. 98.
Vgl. dazu auch W. Loch, Empirisches Erkenntnisinteresse und Sprachanalyse in der Erziehungswissenschaft, in: Bildung und Erziehung, Jg. 1967, S. 456 ff.
[028:24] Der Objektbereich der Erziehungswissenschaft ist durch
»kommunikative Erfahrung«
definiert; der Forscher gehört der Kommunikationsgemeinschaft, deren Teil
»Erziehung«
er erkennen will, selbst an. Jeder Forschungsakt ist deshalb notwendig auch ein sinnkonstituierender Akt, ein verändernder Eingriff in diese Kommunikationsgemeinschaft. Oder anders formuliert: Während naturwissenschaftliche Forschung nicht das
»Objekt«
Natur verändert, sondern lediglich ihre Beherrschung ermöglicht, verändert jede erziehungswissenschaftliche Forschung das
»Objekt«
Erziehung, weil dieses
»Objekt«
gar nicht außerhalb der Sinn-Intentionen einer Kommunikationsgemeinschaft existiert, die sich fortwährend über den
»Gegenstand«
Erziehung neu verständigt.
[028:25] Am Beispiel: Daß die Erziehungsforschung sich immer intensiver der Frage nach der Herstellung der Chancengleichheit im Bildungswesen zuwendet, ist nicht ein für ihren Begründungszusammenhang zufälliges, forschungspsychologisches Datum, sondern gehört selbst notwendig zum Objektbereich dieser Wissenschaft und verändert den Interpretationszusammenhang, in dem
»Erziehung«
sich konstituiert. Die empirisch zu sichernde Feststellung, daß die Chancengleichheit im Bildungswesen nicht verwirklicht ist, ist überhaupt nur bedeutungsvoll in einer Kommunikationsgemeinschaft, in der ein Interesse an Chancengleichheit mindestens vorkommt. Sonst wäre solche Feststellung nicht interessanter als die, daß es Menschen mit blonden und Menschen mit schwarzen Haaren gibt. |a1 256|Die Feststellung der Chancenungleichheit und die damit zugleich erkennbar werdende Norm der Chancengleichheit bedeuten, daß der Sinn von Erziehung unter anderm darin besteht, im Heranwachsen Voraussetzungen für eine Beteiligung an gesellschaftlichen Entscheidungsprozessen zu schaffen. Das sind dann allerdings keine normativ-emotionalen Steuerungsvorgänge mehr, sondern allenfalls normativ-rationale. Das durch Untersuchungen zur Chancengleichheit erworbene Wissen darf dann kein solches sein, das zur Beherrschung von Menschen verwandt werden kann – so wie das Wissen über die Natur zu ihrer Beherrschung dient –, sondern nur ein Wissen, das die Emanzipation aus den Ungleichheiten fördert. Nicht die erfahrungswissenschaftliche Ermittlung von Daten ist für die Theorie das Primäre, sondern der Kommunikationszusammenhang, in dem Tatsachen sich als bedeutungsvoll konstituieren.
[028:26] Nun ist gerade am Beispiel der Chancengleichheit leicht zu sehen, daß es sich bei der Wahl des einen oder anderen Wissenschaftsverständnisses – empirisch-analytischer oder hermeneutischer Erkenntnisweisen – nicht um die ausschließliche Entscheidung für eine der beiden Alternativen handeln kann. Würde die Erziehungswissenschaft nach der Empfehlung Brezinkas sich nur erfahrungswissenschaftlich verstehen, dann würde sie vermutlich einem Erziehungshandeln Vorschub leisten, das sich am technologischen Erkenntnis-Modell orientiert: Kommunikationsprozesse zwischen Subjekten würden als instrumentelles Handeln des Erzieher-Subjekts am Kind-Objekt interpretiert. Motive des Handelns im Sinne von Intentionen, die dem Bewußtsein des Handelnden verfügbar sind, würden als Ursachen mißverstanden. [...]
[028:27] Würde dagegen die Erziehungswissenschaft sich ausschließlich hermeneutisch verstehen, sich in der Analyse von
»Sprach-Spielen«
erschöpfen, in denen das Erziehungshandeln sich orientiert, dann bliebe gerade auch die Abhängigkeit der Sprache von sozialen Gewalten undurchsichtig, ihr ideologischer Charakter ungeklärt, ihre Funktion als Vehikel materieller Interessen verborgen. Die Analyse eines pädagogischen Erfahrungsberichtes, sei er nun von einem der sogenannten pädagogischen Klassiker oder einem Erzieher unserer Tage verfaßt, würde zwar das dort geltende Sprach-Spiel zum Vorschein bringen können, sie würde aber zur Kritik des Textes nur beschränkt fähig sein:
[028:28]
»Sprache als Tradition ist offenbar ihrerseits abhängig von gesellschaftlichen Prozessen, die nicht in normativen Zusammenhängen aufgehen. Sprache ist auch ein Medium von Herrschaft und sozialer Macht. Sie dient der Legitimation von Beziehungen organisierter Gewalt. Soweit die Legitimationen das Gewaltverhältnis, dessen Institutionalisierung sie ermöglichen, nicht aussprechen, soweit dieses |a1 257|in den Legitimationen sich nur ausdrückt, ist Sprache auch ideologisch. Dabei handelt es sich nicht um Täuschungen in einer Sprache, sondern um Täuschungen mit Sprache als solcher. Die hermeneutische Erfahrung, die auf eine solche Abhängigkeit des symbolischen Zusammenhangs von faktischen Verhältnissen stößt, geht in Ideologiekritik über.«
8.
8.J. Habermas, a. a. O., S. 178.
[028:29] Das gilt also nur unter der Voraussetzung, daß den Handelnden ihre Motive wie auch die Sprache, in der sie sie auszudrücken versuchen, nicht durchweg durchsichtig und ihnen deshalb rational nicht voll verfügbar sind. Aber gerade hier kommt das Interesse der Erziehungswissenschaft zum Vorschein: Sie will dazu beitragen, die Durchsichtigkeit, Aufgeklärtheit, Rationalität des Erziehungshandelns zu steuern, um damit zugleich zu ermöglichen, daß die heranwachsende Generation solche Rationalität in sich hervorbringt. Man könnte deshalb in vereinfachender Zuspitzung sagen, daß es die Aufgabe der Erziehungswissenschaft sei, undurchsichtig wirkende Motive des pädagogischen Handelns (Ursachen) in rationale Intentionen zu überführen; mit der gleichen Formulierung ließe sich auch die praktische Erziehungsaufgabe benennen.
[...]
[028:34] Das bedeutet, daß eine empirisch-analytisch verstandene Forschungspraxis unter solchen Voraussetzungen unabdingbar ist. Gerade die Erforschung des
»Naturhaften«
in den beobachtbaren Erziehungsverhältnissen und -vorgängen ist unerläßlich, wenn das hermeneutische Verfahren selbst nicht zur Ideologie werden will. [...] Die Verwendung von Verfahren, die dem empirisch-analytischen Wissenschaffsbegriff verpflichtet sind, ist deshalb die Bedingung dafür, daß die Erziehungswissenschaft ihren emanzipatorischen Charakter entfalten kann.
[...]
[028:36] Verarbeitung sensorischer Daten und Diskussion kommunikativer Erfahrung gehören also für die Erziehungswissenschaft untrennbar zusammen. Welche Daten für das Verständnis von Erziehungsphänomenen relevant sind, sagen diese Daten nicht selbst, sondern es ergibt sich aus jener kommunikativen Erfahrung, in der Bedeutungen, das heißt also auch Bedeutsames und Nicht-Bedeutsames, formuliert werden. Nicht das Experiment sollte deshalb als der Prototyp erziehungswissenschaftlicher Forschung gelten, sondern die teilnehmende oder besser: die beteiligte Beobachtung. [...]
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[028:37] Aber auch auf das Experiment kann hier nicht verzichtet werden, und zwar sowohl in seiner empirisch-analytischen wie in seiner gesellschaftlich-praktischen Form. Die
»Kommunikationsgemeinschaft«
ist nicht nur der Interaktionszusammenhang derer, die sich über vorgängige Orientierungen im Handeln verständigen, sondern der Möglichkeit nach zugleich auch eine Experimentiergemeinschaft, in der neue Sinnzusammenhänge entworfen, neue Handlungsorientierungen erprobt werden. Theorie und Praxis folgen hier dem gleichen Zweck: die Befreiung von unbegriffenen Abhängigkeiten voranzutreiben. Diese praktische Experimentiergemeinschaft versucht gegenwärtig ein Teil der jungen Generation in Schulen, Hochschulen, anderen Institutionen und eigens dafür geschaffenen neuen Kommunikationsfeldern wenigstens teilweise zu realisieren. Das ist der nicht nur pädagogische Sinn der Unruhe. Es wäre eine dem rationalen Zweck der Wissenschaft gewiß nicht entsprechende Haltung, wenn durch die Verweigerung der Mittel oder gar durch die Verweigerung der Kommunikation mit diesen Gruppen solche Experimente mit neuen Formen der Beteiligung, neuen Rollen, neuen Prozessen der Aneignung, des Handelns, des pädagogischen Kommunizierens verhindert würden. Gerade das nämlich würde dann bestätigen, was durch eine der Emanzipation verpflichtete Erziehungswissenschaft aufgehoben werden sollte: die Reproduktion der Entfremdung schon im Erziehungsprozeß.