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[013:1] Sozialpädagogik.
Das Wort Sozialpädagogik hat sich als Bezeichnung für einen bestimmten
Umkreis pädagogischer Aufgaben und Einrichtungen und deren Theorie eingebürgert. Die Sozialpädagogik umfaßt alle jene Aufgaben, die in der
›indu|a1 289|striellen Gesellschaft‹
als besondere Eingliederungshilfen notwendig geworden sind und gleichsam
an den Konfliktstellen dieser Gesellschaft entstehen. Es gibt sie in diesem Sinne
erst, seit die gesellschaftlichen Vorgänge einer pädagogischen Kritik unterzogen
werden und es augenfällig wurde, daß die traditionellen Erziehungswege nicht
mehr ausreichten, um den Vorgang des Heranwachsens zu sichern.
[013:2] Es haben vornehmlich drei Motive ihre Entstehung bestimmt:
[013:3] (1) die Idee einer allgemeinen
Volkserziehung; sie
bewirkte, im Gefolge der Aufklärung und im Zusammenhang mit ersten Demokratisierungstendenzen, daß
die ganze Breite der heranwachsenden Generation in ihrer gesamten
Lebenswirklichkeit ein Gegenstand des pädagogischen Interesses und der
pädagogischen Bemühung wurde; (2) die Kenntnis der sozialen Bewegung
Frankreichs und die Sorge angesichts des
›Pauperismus‹
; man mobilisierte die pädagogischen Kräfte, diesen Entwicklungen
zu begegnen, die befürchtete soziale Katastrophe zu verhindern und die neuen Lebenssituationen des Menschen in
Stadt und Industrie zu bewältigen; der sozialpädagogische Begriff
›Gefährdung‹
hat hier seinen Ursprung; (3) die
›Jugendverwahrlosung‹
, die erst jetzt als ein im Grunde pädagogisches Problem betrachtet wurde, nämlich sofern
offensichtlich wurde, daß die mit diesem Begriff gemeinten Erscheinungen
eine Funktion der sozialen und der Erziehungssituation des Menschen sind.
[013:4] Aus der pädagogischen Reformbewegung im ersten Drittel des 20. Jhs. erwuchsen die Anfänge einer
sozialpädagogischen Theorie (Ch. J.
Klumker, A. Fischer,
G. Bäumer, H. Nohl), die teilweise ihre
juristische Entsprechung im Reichsgesetz für Jugendwohlfahrt von 1924 und im Jugendgerichtsgesetz von 1923 gefunden hat. Jugendpflege, Jugendfürsorge und Gefängniserziehung waren diejenigen
Einrichtungen der pädagogischen Praxis, von denen das sozialpädagogische
Bewußtsein und die sozialpädagogische Theorie ihren Ausgang nahmen. Seither hat sich das sozialpädagogische Feld durch Umformungen
und Erweiterungen verändert und differenziert, so daß heute die vielen
Arten der Heimerziehung, der vor- und nebenschulischen Kindererziehung, der Jugendarbeit
und Jugendsozialarbeit, der Erziehungs-, Eltern- und
Familienberatung, der organisatorischen Maßnahmen des Kinder- und Jugendschutzes
u. ä. noch dazuzurechnen sind (→ Sozialpädagogische
Einrichtungen).
[013:5] Gemeinsam ist allen diesen Einrichtungen, daß sie – neben den
kontinuierlich das Heranwachsen steuernden oder begleitenden Erziehungswegen von
der Familie durch Schule und Berufsbildung bis zur Erwachsenenbildung – ein bewegliches System von |a1 290|Maßnahmen bilden, die im je besonderen Erziehungsfall entweder planvoll eingesetzt
werden können oder als helfende Institutionen für das Bedürfnis der Familien, Kinder und Jugendlichen bereitstehen.
[013:6] Sozialpädagogik als Terminus für einen bestimmten Aufgaben- und
Einrichtungskomplex ist etwas anderes als das mit dem Begriff Sozialerziehung Gemeinte; dieser Begriff
bezeichnet lediglich einen bestimmten Aspekt nahezu aller Erziehungsvorgänge,
gleichgültig, ob sich diese Vorgänge nun in der Familie, der Schule, an der
Arbeitsstelle oder in einer sozialpädagogischen Institution abspielen. Der
Begriff Sozialpädagogik ist
demgegenüber an Erziehungseinrichtungen von einer bestimmten Aufgabenart
gebunden und so wenig ein Aspekt der Erziehung im allgemeinen Sinne, wie es
Familien-, Schul- oder Erwachsenenpädagogik sind. Das schließt nicht aus, daß die institutionelle Trennung nicht immer
gelingt und auch kaum durchgehend zu wünschen ist. Erziehungsberatung und
Schule, Erwachsenenbildung und Jugendpflege, Familienerziehung und Fürsorge
haben, wie viele andere pädagogische Einrichtungen, nicht nur mannigfache
Berührungsstellen, sondern dringen häufig eine in die andere ein und übernehmen
dort wechselseitig Aufgaben, wo nur in solcher Kooperation die pädagogische
Aufgabe zu bewältigen ist. Andererseits aber ist nicht zu übersehen, daß es die
Sozialpädagogik besonders nachdrücklich mit dem sozialerzieherischen Aspekt zu
tun hat. Ihre Einrichtungen, als ein dritter pädagogischer Ort neben Familie und
Schule, entwickeln sich mehr und mehr zu eigenständigen, nachholenden oder begleitenden Stätten
der Sozialerziehung, die angesichts der fundamentalen Erziehungsprobleme, welche
Industrialisierung und Demokratisierung stellen, von Familie und Schule allein nicht mehr zu lösen sind; denn die
Anforderungen, die die moderne Gesellschaft an die Soziabilität ihrer Bürger
stellt, sind höher als die sozialen Fähigkeiten, die sich im pädagogisch nicht
vermittelten Hineinwachsen in diese Gesellschaft bilden.
[013:7] Grundprobleme. Eine Reihe von Problemen, die an sich in allen pädagogischen
Institutionen und Vorgängen eine Rolle spielen, treten in der Sozialpädagogik in
charakteristischer Weise hervor und bestimmen ihr Profil.
[013:8] 1. Die Sozialpädagogik ist nicht nur gleichzeitig mit der
›industriellen Gesellschaft‹
entstanden, sondern sie hängt auch der Art nach eng mit dieser zusammen.
Sie kommt überall dort ins Spiel, wo die soziale
Entwicklung das Heranwachsen gefährdet, wo sie dem Menschen Schaden zugefügt hat
oder zuzufügen im Begriffe steht. Sie kann daher nur begrenzt von den sozialen
und kulturellen Traditionen ausgehen und an diesen Halt finden, denn sie sieht
sich dem Werden einer Gesellschaft gegen|a1 291|über, deren
Unvollkommenheiten dem Sozialpädagogen unmittelbar als Gefährdungen entgegentreten; das aber bedingt, daß der sozialpädagogischen Tätigkeit immer auch ein sozialkritischer Gedankengang innewohnt. Die in der Praxis täglich neu erfahrene
subjektive Entsprechung einer problematischen gesellschaftlichen Lage im
einzelnen Erziehungsfall weist die Erziehungstätigkeit auf diese Lage zurück als
auf die Bedingungen der individuellen Erziehungsbedürftigkeit. Die sozial-pädagogische Erziehungsrichtung nimmt daher nie nur den direkten Weg auf den einzelnen
zu, sondern schließt die Absicht zur Veränderung der Erziehungsbedingungen mit ein. Neben den pädagogischen Bezug tritt die Erziehungsplanung die bisweilen sogar zur
ausschließlichen pädagogischen Tätigkeit werden kann. Das enge Verhältnis
zwischen Sozialpädagogik, Fürsorge und Sozialpolitik hat hier seinen Grund.
[013:9] 2. Die sozialpädagogische Praxis geschieht in einem Spannungsfeld
zwischen dem als normal Geltenden und den vielen Formen
von Abweichungen bis hin zur juristisch definierten Kriminalität. Sie will das
›Normale‹
stützen und fördern, den Abweichungen vorbeugen und, sofern das mit
pädagogischen Mitteln zu leisten ist, die eingetretenen Schäden aufheben. Es
fällt aber schwer, das
›Normale‹
positiv zu beschreiben, da einerseits Minimalforderungen pädagogisch
unfruchtbar sind – der Erziehungsprozeß würde erstarren – und andererseits
Maximalforderungen die Breite der heranwachsenden Generation nicht erreichen
würden; zwischen beiden liegt ein Spielraum, der dem der Gruppen, Konfessionen
und Weltanschauungen entspricht, die je einen besonderen Begriff von
›Normalität‹
vertreten. Wenn deshalb in dieser Hinsicht nur schwer Einigkeit zu
erwarten und vielleicht auch nicht zu wünschen ist, so sind doch gewisse
Abweichungen beschreibbar; sie werden unter dem Begriff Verwahrlosung
zusammengefaßt. Psychologie, Psychotherapie und Psychiatrie haben für
die Aufklärung der Verwahrlosungserscheinungen und ihrer Ursachen
Entscheidendes geleistet, dabei aber den Begriff in eine Fülle je
besonderer
›Krankheits‹
-Bilder aufgelöst. Der Begriff
selbst ist, wie sich zeigt, ein pädagogischer, da er das akute
Zurückbleiben eines Verhaltens hinter einer gesetzten und dem Individuum
angemessenen Erziehungsaufgabe (Moor) bedeutet. Die als Verwahrlosung zu bezeichnenden
Erscheinungen wechseln daher in der geschichtlichen Entwicklung je nach
den besonderen Erziehungsaufgaben, die in der bestimmten sozialen
Situation gestellt sind. Diesem historischen Wechsel unterliegen allerdings die verschiedenen Verwahrlosungserscheinungen in verschiedenen Graden.
[013:10] Dasselbe gilt für jene Phänomene, die in der sozialpädagogischen
Diskussion unter dem Begriff Gefährdung zusammen|a1 292|gefaßt
werden. Auch ihre Bestimmung hängt von dem normativen Aspekt der Erziehung ab. Die Sorge um die Gefährdung der Jugend kann
sogar als der wesentliche Impuls der gesamten Sozialpädagogik seit ihren
Anfängen bezeichnet werden. Die in diesem Begriff und seiner allgemeinen
Anwendung vorausgesetzte Diskrepanz zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit
und den Bedingungen eines gesunden Heranwachsens kann allerdings leicht zu Ideologien führen, wie sich zum
Beispiel an den zunächst übertriebenen Befürchtungen im Hinblick auf die
Gefährdung der Jugend durch den Film oder die Gefährdung des Menschen
durch die Fließbandarbeit gezeigt hat. Eindeutig ist indessen der Begriff dort, wo durch bestimmte Einwirkungen die physische Existenz des jungen
Menschen in Mitleidenschaft gezogen wird (Reizüberflutung, Verkehr, Kinderarbeit) oder eindeutig beschreibbare psychische Schäden auftreten. In einem
pädagogisch verantwortbaren Sinne kann daher überall dort von Gefährdung gesprochen werden, wo die Bedingungen der
Autonomie und Initiative bedroht sind.
[013:11] 3. Da diese Leistungsfähigkeit sich nicht im Prozeß des Heranwachsens
gleichsam von selbst herstellt, sondern ihre Entwicklung nachdrücklich gefördert
werden muß, liegt alles daran, die Bedingungen für die Entfaltung von Autonomie
und Initiative zu erkennen. Die entsprechenden Überlegungen und Versuche sind in
den Diskussionen um das Problem der Grundbedürfnisse formuliert worden. Offenbar gibt es eine
Reihe von Bedürfnissen, ohne deren Befriedigung keine geordnete Existenz geführt werden kann. Es sind dies zunächst die primären Bedürfnisse der vitalen Existenz, wie
das Bedürfnis nach Nahrung, Schlaf, Schutz für das leibliche Dasein, nach
Freiheit von Furcht, aber auch nach erotisch-sexuellen Beziehungen.
[013:12] Ihre Befriedigung reicht aber zur Existenzerhaltung nicht aus, solange dem Kinde nicht zugleich fundamentale
Erfahrungen zuteil werden, deren Ausbleiben zum sog. Hospitalismus-Syndrom führt (Entwicklungsstillstand, Gewichtsverlust, Schlafstörungen, Wimmern,
motorische Verlangsamung, Kontaktstörung bis zur Kontaktunfähigkeit, idiotie-ähnliche Symptome, erhöhte Sterblichkeitsgefahr). Es handelt sich dabei um die –
jeweils verschieden formulierten – Erfahrungen der seelischen Geborgenheit, der
›affektiven Zufuhr‹
(Spitz) und
der Sprache. Entbehrt das Kind sie über einen längeren Zeitraum, treten nahezu
irreversible Schädigungen auf – eine Einsicht, die für alle Familien- und
Heimerziehung fundamental ist. Ist die Befriedigung dieser Grundbedürfnisse die
Bedingung für vermutlich jede Form humaner Existenz, so ist darüber hinaus noch
eine Anzahl von Qualitäten zu nennen, die für die kulturelle |a1 293|Existenz unseres Kulturkreises als Bedingungen angegeben werden
können. Erikson nennt: Vertrauen, Autonomie,
Initiative, Intimität, Produktivität, Ich-Integrität. Folgt man Erikson hierin, dann wäre es die Aufgabe der Sozialpädagogik, die
Entfaltung dieser Qualitäten zu schützen, Versäumtes nachzuholen und ihre
Bewährung im Erziehungsraum zu ermöglichen.
[013:13] 4. Für die Sozialpädagogik ist es charakteristisch, daß nicht der
Staat ihr ausschließlicher Träger ist, sondern daß private
Erziehungsinitiative in ihr eine hervorragende Rolle spielt. Das hängt sowohl mit der Entstehungssituation und der
damit begründeten Tradition wie auch damit zusammen, daß private
Initiative, konfessionelles und weltanschauliches Engagement,
Experimentierfreudigkeit und -möglichkeit hier eine besondere Bedeutung
haben. Das Jugendamt hat zwar die Durchführung der im Jugendwohlfahrtsgesetz vorgesehenen Maßnahmen,
vor allem die Berücksichtigung des Rechtes des Kindes auf Erziehung (§ 1) zu überwachen; der Vollzug selbst aber
verteilt sich unter eine Vielzahl von Trägern und Trägerverbänden (Arbeiterwohlfahrt, Caritas-Verband, Innere Mission, Deutsches Rotes
Kreuz usw.). Daß diese Differenziertheit und Pluralität des
sozialpädagogisch-institutionellen Feldes nicht nur Schwierigkeiten,
sondern auch besondere Chancen in sich birgt, hat sich in Zeiten der Not
immer erwiesen.
[013:14] Grundbegriffe. Für die Sozialpädagogik
gelten, wie für den gesamten Bereich der Erziehungswirklichkeit, die
Grundbegriffe der allgemeinen Pädagogik. Indessen treten in ihr doch
eine Reihe von Phänomenen hervor, die in der allgemeinen Pädagogik nur
peripher behandelt werden.
[013:15] 1. Anpassungsschwierigkeiten sind ein fundamentales
sozialpädagogisches Problem. Von Anpassung muß überall dort die Rede
sein, wo eine vorgegebene und relativ stabile Verhaltens- und
Normenstruktur vom Subjekt verlangt, daß es sich auf sie in einer
bestimmten Weise einstellt. Es gibt kaum eine sozialpädagogische
Maßnahme, in der nicht auch eine mißglückte Anpassung korrigiert, eine
versäumte nachgeholt oder eine besonders schwierige eingeübt werden
müßte. Das Heranwachsen in der Familie ist zum großen Teil von dieser
Art, ebenso die sog.
›Resozialisierung‹
von
Straffälligen, die Erziehung von Schwererziehbaren und Verwahrlosten in
Heimen, die Hilfsmaßnahmen im Bereich der Fürsorge, aber auch das
Einüben geselligen Umgangs in Jugendheimen, in der Jugendpflege wie im
Stil jeder Art, in die Regeln der Arbeitsstelle oder einer andern Umgebung. Der Begriff Anpassung deckt dabei nie das Ganze
jedes erzieherischen Geschehens, sondern hebt nur einen, hier freilich
für die Tätigkeit des Sozialpädagogen wichtigen Aspekt des
erzieherischen Umgangs hervor.
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[013:16] Eine charakteristische Schwierigkeit der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Lage ergibt sich aus der Notwendigkeit, das Umlernen zu lernen. Nicht
nur die zeitlich aufeinander folgenden sozialen Umwelten des
Heranwachsenden (Familie, Schule, Arbeitsstelle) erfordern durch ihre
Andersartigkeit eine jeweils neue Einstellung auf die je andere
Struktur, sondern auch diejenigen sozialen Umwelten, die nebeneinander
und bisweilen konkurrierend dem Menschen je ein bestimmtes Verhalten
zumuten, verlangen von ihm, daß er sich umstellen, sich immer neu
anpassen, daß er umlernen kann. Ein großer Teil der Hilfen, die die
Sozialpädagogik gibt, sind daher Umlern-Hilfen. Sie sind besonders dort
nötig, wo solche Schwierigkeiten am häufigsten sind: im Bereich der
Fürsorge, der Bewährungshilfe, der Kriminalpädagogik, aber auch bei der
Erziehung Verwahrloster oder in der Jugendpflege. – Hier zeigt sich, daß
diese Erziehungsaufgabe nicht erst bei akuten Konfliktfällen auftritt,
sondern als Vorbereitung für solche Situationen schon in den normalen
Erziehungsverlauf hineingenommen werden sollte. Weiter bringt die
besondere Lage der industriellen Gesellschaft es mit sich, daß Krisen, die sich als
gesellschaftliche Krisen in individuellen Schicksalen niederschlagen, in
der Sozialpädagogik eine immer gewichtigere Rolle spielen. Die Krise als
ein Prozeß der inneren Umwandlung ist mindestens für solche Bereiche der
Erziehungstätigkeit konstitutiv, in denen eine neue Lebenseinstellung
gewonnen werden muß. Die sozialpädagogische Relevanz dieser Phänomene
wird besonders in der Erziehungs- und Familienberatung, in der
Familienfürsorge und dem Jugendstrafvollzug deutlich, d. h. in jenem
Sektor der Sozialpädagogik, der weitgehend den Charakter einer Nothilfe
hat.
[013:17] Gerade bei Krisenphänomenen offenbart sich, wie unerläßlich in
jedem sozialpädagogischen Akt gegenwärtig zu halten ist, daß der
Hilfsbedürftige von sich her schon etwas will und kann. In der alten
Formulierung, Fürsorge sei Hilfe zur Selbsthilfe
(Klumker), war dies
gemeint. Wenn Selbständigkeit und Integrität die Kriterien für geglückte
Erziehung sind, dann müssen Selbständigkeit und Selbsthilfe auch in
allen Erziehungsvorgängen ihre Stelle haben, aber nicht nur als ein
intendiertes Ziel, sondern als etwas, das ständig zu unterstützen ist,
und das auch dann, wenn nur ein Minimum davon im Hilfsbedürftigen
angetroffen wird.
[013:18] 2. Eine Reihe von erzieherischen Maßnahmen, denen jeweils auch
spezifische Haltungen entsprechen, sind für die Sozialpädagogik derart
grundlegend, daß sie in allen ihren Einrichtungen auftreten. Der Schutz vor den Gefährdungen der industriellen
Arbeitswelt ist in den Kleinkinderbewahranstalten zu Beginn des 19. Jhs. und
dann in dem Schutz der Kinder |a1 295|vor der
Industriearbeit eine der ersten Funktionen der Sozialpädagogik gewesen.
Er ist seitdem ausgebaut worden und durchzieht das ganze
sozialpädagogische Feld. Er beruht auf dem Mißtrauen in die Humanität
der faktischen Gesellschaft, auf der Annahme, daß eine
›gesunde‹
Entwicklung der Jugend nur gewährleistet werden kann,
wenn diese nicht schon mit dem ganzen Ernst gesellschaftlicher
Wirklichkeit konfrontiert wird.
[013:19] Die Abwehr des Gefährdenden (Jugendschutzgesetz,
Arbeitsschutz) ist jedoch nur eine Funktion dieses Schutzes; in der
Formulierung
›positiver Jugendschutz‹
ist ausgesprochen, daß das
notwendige Korrelat in einer Unterstützung dessen zu suchen ist, was zu
einer gesunden Entwicklung führt (Kinderspielplätze, Jugendheime,
Jugendbildungsarbeit, Jugenderholungseinrichtungen).
[013:20] Solche Unterstützung geschieht als Pflege. Sie soll anreizen, Kräfte zu
stärken, Gelegenheit zur Übung zu geben. Der Ausdruck Jugendpflege ist daher treffend, da
der Staat sich hier – wenigstens in der Formulierung – aller
nachdrücklich formenden Erziehung zu enthalten strebt und nur
Übungsfelder für ein gesundes Aufwachsen und freies
In-die-Gesellschaft-Hineinwachsen zur Verfügung stellt. Ist dieser
pädagogische Ansatz in der Jugendpflege institutionalisiert, so ist er
doch für alle Einrichtungen der Sozialpädagogik wesentlich; selbst im
Jugendstrafvollzug
ist auf ihn kaum zu verzichten, da auch hier die pädagogische Aufgabe
nur zu bewältigen ist, wenn dem Jugendlichen ein freier Raum bleibt, der
zwar gesichert ist, innerhalb dessen sich aber doch die Spontaneität
frei entfalten kann.
[013:21] Die ältesten Formen sozialpädagogischer Tätigkeit sind Fürsorge und Hilfe. Ursprünglich ein
Reservat christlicher Liebestätigkeit, sind sie heute
selbstverständlicher Bestandteil jeder säkularen Sozialpädagogik. Im
Unterschied zu Schutz und Pflege wollen sie nicht vor latenten
Gefährdungen bewahren oder gegen sie immunisieren, sondern in akuten
Nöten Abhilfe schaffen, die verletzte Menschlichkeit wiederaufrichten,
sei es, daß sie durch leibliche oder wirtschaftliche, sei es, daß sie
durch seelische oder geistige Not Schaden genommen hat. Immer geht es
darum – auch in der materiellen Hilfeleistung (Wirtschaftsfürsorge,
Gesundheitsfürsorge, Subventionierung pädagogischer Einrichtungen u. ä.)
–, den Bedürftigen in die Lage zu versetzen, sein Leben selbständig
führen zu können, und ihm zu helfen, die willkürlich erscheinende Not
des eigenen Schicksals in bewußter Auseinandersetzung zu bewältigen. In
Theorie und Praxis der Einzelfallhilfe (Casework) hat diese Form
sozialpädagogischen Verhaltens ihren prägnantesten Ausdruck
gefunden.
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[013:22] Im Begriff der Beratung ist enthalten, daß alle Sozialpädagogik
immer auch im Medium des Wortes geschieht. Die Tatsache, daß die unter
diesem Begriff zusammenzufassende Gruppe pädagogischer Maßnahmen in der
gegenwärtigen Praxis immer größeren Raum einnimmt (Erziehungsberatung,
Elternberatung, Familienberatung, Mütterberatung, Berufsberatung),
zeigt, daß sich in diesem Begriff ein wichtiger Aspekt der
Sozialpädagogik ausdrückt. Beratung ist Hinweis auf die Lösung eines
Problems; sie ist zu einem wesentlichen Teil Aufklärung (Bewußtmachung),
zum anderen Teil Hinweis auf mögliche Auswege; sie setzt den Willen und
die – wenn auch begrenzte – Fähigkeit des Ratsuchenden, selbst zu
entscheiden und zu handeln, voraus; sie will ihn nicht verändern,
sondern zeigt ihm die Mittel, sich selbst und seine Situation zu
verändern; sie impliziert pädagogischen Takt. Auch für sie gilt, daß sie
– obwohl in bestimmten Einrichtungen institutionalisiert – nicht auf
diese beschränkt ist, sondern alle sozialpädagogischen Verhältnisse
durchzieht, in denen der Heranwachsende bzw. der Hilfsbedürftige oder
Klient als Ratsuchender aufzutreten in der Lage ist.
[013:23] 3. Für die sozialpädagogische Praxis ist von entscheidender
Wichtigkeit, daß sie in
›sozialer‹
Form geschieht.
Gruppenpädagogische Fragen sind deshalb von besonderer Bedeutung. Die
Gruppe ist nicht nur
das Kernstück traditioneller Jugendpflege (Jugendgruppe).
Bewährungshilfe und Schutzaufsicht arbeiten häufig mit Gruppen, im
Strafvollzug wird der Gemeinschaftserziehung ein wichtiger Platz
eingeräumt, für Kinder- und Jugendheime aller Art sind
gruppenpädagogische Kenntnisse und Fähigkeiten fundamental
(Differenzierung innerhalb des Heims, familienanaloge Heimstruktur,
Größe der Gruppen usw.). Sie tauchen überall dort auf, wo das
Erziehungsverhältnis nicht auf den Dialog (wie in der Beratung)
beschränkt bleiben kann, weil vielseitige sozialbildende Wirkungen
angestrebt werden. – Das Heim ist gegenüber Dialog und Gruppe eine kompliziertere
Institution, in der verschiedene Erziehungsverhältnisse wie auch
verschiedene Erziehungsmaßnahmen kombiniert werden können. Neben
personalen Erziehungsverhältnissen entstehen hier die Fragen
sozialpädagogischer Organisation, da es Bedingungen zu schaffen gilt,
unter denen sinnvolle Erziehung geschehen kann. Probleme der Größe, der
Zusammensetzung der Kinder und Jugendlichen, der Gruppierungsformen, der
Mitarbeiterschaft, der Koedukation, der Altersspannen, der
psychologischen Begutachtung und Auswahl, der Geschlossenheit oder
Offenheit bilden hier die wichtigsten Themen.