Rundgespräch im Anschluß an das Gespräch Mollenhauer und Schulze [Textfassung a]
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Rundgespräch im Anschluß an das Gespräch Mollenhauer und Schulze

[V67:3] Gruschka
[V67:4] eröffnet das Gespräch mit der Frage: Warum hat die Kritische Theorie die geisteswissenschaftliche Pädagogik nicht stärker angeregt und befruchtet? Klaus Mollenhauer sagte, die Kritische Theorie war wichtig, um sich von den Vätern zu emanzipieren. Zu einer wirklichen Begegnung ist es anscheinend nicht gekommen. Blieb man nicht faktisch doch bei den Vätern?
[V67:5] Warum gibt es keine kritische Theorie der Erziehung? Einige Versuche in der Richtung sind heute praktisch wieder vergessen. Das Erbe der geisteswissenschaftlichen Pädagogik machte es anscheinend unmöglich, sich von diesem Ansatz zu emanzipieren. Ein Indiz dafür sehe ich im Schluß der Ausführungen von Mollenhauer, in denen er wieder ganz zu Wilhelm Flitner zurückkehrt.
[V67:7] Mollenhauer
[V67:8] geht darauf ein und meint, Gruschka mache sich das zu einfach, wenn er schon die Übereinstimmung mit Wilhelm Flitner als Argument der Kritik vorbringt. Es habe doch eine Art sozialwissenschaftlicher Theoriebildung gegeben, die die Pädagogik vorangebracht hat. Seine zugespitzte Formel wissenschaftliche oder gute Argumentation sei nicht so naiv, wie sie vielleicht angekommen ist. Es gebe s. E. keinen konsistenten Begriff von Wissenschaft, und deshalb sei das Kriterium: sachlich begründen und sorgfältig argumentieren wichtiger als der Streit um
Wissenschaftlichkeit
. Wenn z. B. Pannowski Bilder interpretiert, so tut er das nach Regeln, und das muß von anderen überprüft werden können. Pädagogik aber nur nach den Regeln der empirischen Sozialwissenschaften beurteilen zu wollen, ist eine Selbstkastration. Ich muß aber so argumentieren, daß ich bereit bin, mich jeder sachlichen Kontrolle zu stellen, im Grunde sei W. Flitners Formel:
Ich reflektiere über eine |a 67|Praxis, die mir am Herzen liegt, aber die Reflexion muß stimmen
, die liberalste und die produktivste. Sein Hauptproblem mit der Kritischen Theorie liege darin, daß sie den Begriff der
negativen Erziehung
bzw. der Emanzipation nicht entfaltet habe.
Negative Erziehung
sei für ihn ein unmöglicher Begriff. Zu sagen
Vernunft ist nur negativ
, wie Adorno das tun konnte, sei problematisch. Eine kritische Erziehungstheorie mit diesen Vorgaben sei nicht möglich.
[V67:11] Mollenhauer
[V67:12] wird aus dem Kreis gefragt, ob es für ihn ein zusammenfassendes Thema, ein zentrales Anliegen der Pädagogik gebe.
[V67:15] Mollenhauer:
[V67:16] Mein Thema lautet:
Was will denn eigentlich die ältere Generation mit der jüngeren?
[V67:17] Rauschenberger
[V67:18] stellt fest, daß Mollenhauer neuerdings mehrere plausible Erklärungen zu pädagogischen Sachverhalten liefere, die sich widersprächen.
[V67:19] Mollenhauer
[V67:20] meint dazu, im Gespräch mit seinem akademischen Publikum mit seinem Anspruch und Standard mache er Selbstbildungsübungen und da leiste er sich gewisse Widersprüche. Handeln denn die
Vergessenen Zusammenhänge
von dem, was der Autor vergaß? wird er ergänzend gefragt.
[V67:21] Mollenhauer:
[V67:22] Ja. Aber es geht auch um einen Nachholbedarf für unsere Disziplin, für die Studenten.
[V67:23] Loch
[V67:24] meint, die Aufnahme Augustins in den Vergessenen Zusammenhängen weise auf eine Tradition der Pädagogik, die über |a 68|Schleiermacher hinausgehe. Was bedeutet das für unser pädagogisches Denken? Was für eine Zukunft soll unsere Disziplin haben?
[V67:25] Mollenhauer:
[V67:26] Als ich W. Flitners Allgemeine Pädagogik las, war mir das damals das wichtigste Buch, und darin besonders wichtig die Hypothese, es gebe einen pädagogischen Gedankengang, der sich durch die Geschichte der menschlichen Gattung hindurchzieht. Das hat wenig oder nichts mit unserem Fach im engeren Sinne zu tun. Auch vorher gab es schon ein pädagogisches Nachdenken, z. B. die Geschichte des Bildungsdenkens in der Frührenaissance. Wie instrumentiert man das?
[V67:27] Hier suche er selbst nach neuen Entwürfen, die über die fachdisziplinären Ansätze hinausgehen.
[V67:29] Lütgert
[V67:30] nimmt noch einmal den Streit um die pädagogische Autonomie auf und meint, man solle doch an einer phänomenologischen Pädagogik Weiterarbeiten, um vielleicht auf diesem Wege zu einem substanziellen Autonomie-Begriff zu kommen. So könnten Wissens- und Wirklichkeitszusammenhänge, die den Vorsprung (die Autonomie) des Pädagogischen für die Menschwerdung des Menschen verständlich machen, entdeckt und erarbeitet werden.
[V67:31] Scheilke
[V67:32] formuliert Fragen, die s. E. nach dem bisherigen Stand des Gesprächs bearbeitet werden müssen:
  1. 1.
    [V67:33] Wo liegen Zusammenhang und Abgrenzung im Verhältnis von Pädagogik und Politik?
  2. 2.
    [V67:34] Bedeutung und Reichweite der Sprachformen beschreiben, analysieren, werten blieben unklar. Warum besteht bestimmten Diskussionen gegenüber eine deutliche Sprachlosigkeit? Warum hat die Diskussion um die ökonomischen Probleme die Pädagogik eine Zeitlang so stark beeinflußt?
  3. 3.
    [V67:35] Die erneute Hinwendung zum Bildungs-Begriff bedarf weiterer |a 69|Klärung. Was heißt das für die Bildungspolitik?
  4. 4.
    [V67:36] Ich habe die
    Wende
    Mollenhauers auch als eine Art Treulosigkeit gegenüber den Adoptiv-Kindern empfunden. Was bedeutet dieser Traditionsbruch für die junge Generation der Pädagogen, die sich an Mollenhauer und die ihm Gleichgesinnten angeschlossen hatten?
[V67:37] Mollenhauer:
[V67:38] Das, was Sie, Herr Scheilke sagen, betrifft die ganze Zunft. Was mich angeht, so kann ich Ihre kritische Anfrage durchaus akzeptieren, ohne daß ich im Augenblick darauf antworten möchte.
[V67:39] Nipkow
[V67:40] nimmt noch einmal die Idee eines pädagogischen Grundgedankens auf, der die geschichtlichen Epochen übergreift. Was bedeutet dieser Zusammenhang über die Traditionsbrüche hinweg für die Weiterarbeit in der Pädagogik?
[V67:41] Mollenhauer
[V67:42] schließt das Gespräch ab, indem er die Frage stellt: Sollten wir in den linearen Stilisierungen des Umgangs mit geschichtlichen Problemen so weitermachen wie bisher oder neue Formen des Gesprächs und der Auseinandersetzung finden? Er habe das versucht, z. B. in der Interpretation von Rembrandt-Bildern.
[V67:43] Gibt es nicht zu denken, daß sich das Zeitbewußtsein des Kindes synchron mit seinem Erinnerungsvermögen entwickelt?
[V67:44] Er glaube, daß in dem Maße, wie es uns gelingt, die Breite und Tiefe der Überlieferung zu rezipieren, wir auch mehr Phantasie entwickeln könnten, um die Zukunft zu gestalten.
[V67:45] Das Gespräch ist aus den persönlichen Aufzeichnungen von Hans Bernhard Kaufmann rekonstruiert worden.