Diskussion am 4.9.1973 [Textfassung a]
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7. Wie definiert man interpersonale Taktiken als möglichen Unterrichtsgegenstand?

Mit Hilfe welcher Instrumentarien (Methoden) können Lehrer und Schüler sensibilisiert werden, über solche Probleme zu reflektieren?

[V40:1] Diese Fragestellungen leiten sich aus den bisher skizzierten Überlegungen (Abschnitt 5 und 6) ab. Sie waren Gegenstand einer Diskussion, die am 4. September 1973 im Bildungstechnologischen Zentrum (BTZ) Wiesbaden mit Klaus Mollenhauer, Herbert Schulte, Bernd Stickelmann und Thomas Heinze stattfand (die wesentlichen Gedankengänge sind vom Tonband transkribiert und sinngemäß zusammengefaßt worden).
[V40:2] Mollenhauer:
[V40:3] Ich habe auf zwei verschiedenen Ebenen Fragen: einmal habe ich noch keine deutliche Vorstellung – das ist bei diesem Gegenstand auch schwierig, weil man da auf wenig Vertrautes zurückgreifen kann – von welcher theoretischen Bedeutung die Feststellung interpersoneller Taktiken ist. Diese Frage könnte ich offen lassen und auf die zweite Ebene kommen – so tun als sei das sinnvoll –. Dann entstehen detaillierte Fragen wie z. B. die: wenn ich interpersonelle Taktiken zum Gegenstand pädagogischer Forschung mache, muß ich wissen, wie die Schüler sich selbst gegenüber den Taktiken, die sie verwenden, verhalten. Wie interpretieren sie diese Taktiken, welche Bedeutung haben sie für sie selbst (als einzelnes Individuum) und welche Bedeutung haben sie für Gruppenkommunikation und damit für Unterrichtsverläufe? Wenn man diese Frage stellt, dann scheint mir an den Protokollen (Schülerprotokolle) die ganze Schwierigkeit deutlich zu werden, die ein solcher Ansatz aufwirft, weil die Schüler offenbar die Frage nach |a [118]-119| solchen Taktiken als die Frage nach einem Bereich verstehen, der völlig selbstverständlich ist und überhaupt nichts Problematisches enthält. So lese ich das, was die Schüler sagen. Sie geben zwar bereitwillig Auskunft und plaudern darüber, was sie alles an kleinen Nebenbeschäftigungen erfinden, aber mehr im Sinne von Anekdoten. Das hat weiter keine Bedeutung, sie nehmen das zwar wahr, aber auch wenn sie es nicht wahrnehmen würden, etwa bei Nachbarn, würde sich, so interpretiere ich jetzt nach Meinung der Schüler, nichts Gravierendes ändern. Ob sie das machen oder nicht, ist eigentlich nur von Bedeutung für den einzelnen Schüler insofern, als er vielleicht eine Unterrichtssequenz von 20 Minuten etwas besser mitbekommen hätte, wenn er nicht an den Nägeln gekaut hätte.
[V40:4] Welches Problem stellt das für den Wissenschaftler? Das ist mir auch noch nicht ganz klar. Genügt es, so etwas zu beschreiben, oder muß der Wissenschaftler nicht unterstellen, daß es eine Bedeutung – und Goffman tut es – solcher Taktiken gibt, die nicht nur einen individuellen Symptomwert haben, sondern die eine kommunikative Bedeutung haben?
[V40:5] Ein Psychoanalytiker würde das verwenden und als Symptom interpretieren: bestimmte Mängelerlebnisse in der Situation oder neurotoide Tendenzen bei dem einen oder anderen Kind (an den Nägel kauen etc.) Das ist aber nicht Ihr Interesse.
[V40:6] Von Interesse ist es, dies zu interpretieren im Rahmen des Situationskontextes. Wie kommt man |a 120| daran? Gibt es ein Verfahren, mit dem man die Schüler noch stärker stimulieren könnte, die Frage nach der Bedeutung solcher Taktiken aufzuwerfen? Gibt es ein Verfahren, mit dem man das Interesse der Schüler für diese Frage, als eine für sie sehr wichtige Frage, noch stärker wecken könnte? Es steckt darin ja auch die Frage nach der Intentionalität solcher Taktiken. Ich habe den Eindruck, daß die Schüler diese einzelnen Gesten, die im Unterricht auftauchen, nicht als absichtsvolle interpretieren, sondern als unwillkürliche.
[V40:7] Ist damit das Problem der Intentionalität erledigt?
[V40:8] (Intentional wäre ein Akt, bei dem sich das Individuum der Bedeutung dessen, was es tut, bewußt ist und eine bestimmte Wirkung auch hervorrufen will).
[V40:9] Schulte:
[V40:10] Eine Möglichkeit, die Bedeutung dieser Taktiken den Kindern bewußt zu machen, besteht darin, daß man diese Taktiken in eine Planung miteinbezieht. Daß man Vorentwürfe macht, z. B. inhaltlicher Art, daß man sich über bestimmte Lernzielvorstellungen unterhält, daß man sich vorher Gedanken darüber macht, woran man das Erreichen oder nicht Erreichen von bestimmten Zielvorstellungen beobachten will, daß man ein Spektrum von Zielvorstellungen in der Klasse erarbeitet, was man sich in der nächsten Zeit gemeinsam vornehmen will, Im nachhinein sollte man dann an bestimmten Konfliktstellen, wo die Zielvorstellungen, die man gemeinsam |a 121| entworfen hat, nicht erreicht worden sind, bzw. es zu Spannungen in der Klasse gekommen ist, fragen: warum wurden die Spielregeln nicht eingehalten? Man könnte dann aufgrund von Unterrichtsaufzeichnungen feststellen: an einer bestimmten Stelle hat der Lehrer soch so verhalten (langweilige Darstellung, Schüler wurden übergangen etc.). Im Zusammenhang damit hat der Schüler X in der letzten Reihe sich unangemessen verhalten (hat geschlafen etc.). Man sollte den Zusammenhang zwischen solchen Verhaltensweisen und dem Unterrichtsgeschehen deutlich machen.
[V40:11] Mollenhauer:
[V40:12] Mir ist noch eine andere Fragestellung im Kopf: Sie arbeiten mit einer bestimmten Hypothese, nämlich der, daß die Verwendung einer bestimmten Klasse interpersonaler Taktiken eine Folge bestimmter Vorgänge im Unterrichtsverlauf ist. Man kann aber auch andersherum fragen: man kann von der Vermutung ausgehen, daß interpersonelle Taktiken eine Klasse von Verhaltensweisen (-merkmalen) sind, die relativ universal sind und relativ früh gelernt werden, unter nur geringer Beteiligung von Bewußtsein, die in Folge dessen einen relativ stabilen Satz von Taktiken umfassen, die sehr stark habitualisiert sind – also dem Bewußtsein nicht mehr verfügbar –, aber die dennoch bestimmte Bedeutung haben, sowohl Bedeutung für das Individuum, das sich dieser Taktiken bedient, wie auch Bedeutung für solche Individuen, die diese Takti|a 122|ken wahrnehmen. Ein Mädchen kaut an den Nägeln, das andere interpretiert dies so, daß es sagt: das ist ein schwer zu klassifizierendes Ereignis. Ein anderer Schüler schreibt einen Zettel, die Mitschüler interpretieren: das ist ein leicht zu interpretierendes Ereignis, denn er schreibt den Zettel, weil er desinteressiert ist. Es gibt schwer und leicht klassifizierbare Taktiken. Unter den leicht klassifizierbaren Taktiken gibt es bestimmte Möglichkeiten der Bedeutungszuordnung. Bei diesem Erkenntnisinteresse könnte der erste Schritt zunächst auf situationsunabhängige Taktiken gelenkt werden. Diese wären zu beschreiben und die Schüler zu ermuntern darüber nachzudenken, sich der Bedeutung der Taktiken, die sie selber spontan und unwillkürlich verwenden, bewußt zu werden.
[V40:13] Der zweite Schritt könnte dann dann zu fragen, wie hängt das mit dem Verlauf des Unterrichts zusammen. Ist der Unterricht vielleicht Auslöser für bestimmte Taktiken und wann werden sie ausgelöst?
[V40:14] Heinze:
[V40:15] Wie sollte man das methodisch durchführen?
[V40:16] Mollenhauer:
[V40:17] Man könnte Unterrichtssituationen – oder andere Situationen – durchspielen, in denen nicht gesprochen wird (Pantomimenprinzip) und auf diese Weise die Schüler nötigen, auf die nichtsprachlichen |a 123| Gesten zu achten und dann deren Bedeutung zu diskutieren. Oder über die Tierverhaltensforschung. Wenn es Schwierigkeiten für Schüler gibt, dieses Problem als ernsthaftes und sie betreffendes wahrzunehmen, dann kann man dies über ein anderes Medium machen: wie verständigen sich Tiere und regulieren wechselseitig ihr Verhalten? Die Schüler könnten dann durch die Brille der Tierverhaltensforschung ihr eigenes Unterrichtsverhalten sehen.
[V40:18] Heinze:
[V40:19] Eine weitere Möglichkeit bestände darin, daß man Unterricht aufzeichnet und im Anschluß mit Schülern über diese Unterrichtsaufzeichnungen diskutiert.
[V40:20] Mollenhauer:
[V40:21] Oder man nimmt eine Gruppensituation auf, an der Schüler nicht beteiligt waren, läßt sie ohne Ton abspielen und läßt die Kinder dann die Situation beschreiben. Sie sollen möglichst genau versuchen zu rekonstruieren, was dort eigentlich geschehen ist. Danach läßt man den Ton mitlaufen. Dann kann man diskutieren und die Unterschiede herausarbeiten. Worauf haben die Schüler im ersten Fall geachtet, worauf im zweiten Fall? Was nimmt man gar nicht wahr, wenn man den Ton hat? Was verändert seine Bedeutung durch den Ton?
[V40:22] Was kann man aus der Art, wie sich Personen bewegt haben (Darstellung der Gruppensituation ohne Ton), schließen? Die Schüler werden beschreiben können, ob die Situation für alle interessant war oder nicht, ob es Differenzen gab, ob es Meinungsver|a 124|schiedenheiten gab, ob es aggressiv oder apathisches Verhalten gab. Die Schüler werden das vielleicht identifizieren können mit bestimmten Ausdrucksgesten, die die einzelnen Gruppenmitglieder verwendet haben. Die Schüler können eine Verlaufsbeschreibung dessen machen, was sich dort abgespielt hat.
[V40:23] Heinze:
[V40:24] Man sollte die verschiedenen in Frage kommenden methodischen Alternativen aufzählen und die Entscheidung für eine bestimmte Methode von den Bedingungen der Klasse abhängig machen.
[V40:25] Mollenhauer:
[V40:26] In einer Klasse, in der ohnehin viel Konfliktstoff vorhanden ist und die Gruppenkonflikte zur Sprache gebracht hat, in der es bestimmte
Buhmänner
gibt, die jedermann kennt oder Cliquen, mit der kann man wahrscheinlich Konflikte im Unterricht thematisieren, weil dies ein Thema ist, was sie spontan interessiert. Wenn man ihnen sagt: nun wollen wir doch mal sehen, was wir alles so für Techniken anwenden, um den Konflikten zu entgehen oder um die Konflikte hochzupeitschen.
[V40:27] Eine Gruppe, die an solchen Taktiken noch kein Interesse entwickelt hat, für die benötigt man den Umweg (didaktischen Umweg). |a 125| Man könnte je nach Bedingung einen direkten Weg wählen, der z. B. die Unterrichtssituation zum Gegenstand macht und einen indirekten Weg, der versucht, zunächst über etwas distanzierende oder objektivierende Medien dies zu praktizieren (Mitschau oder Tierbeobachtung).
[V40:28] Heinze:
[V40:29] Gesetzt den Fall, Schüler erarbeiten in Gruppen die Verlaufsbeschreibung einer aufgezeichneten Situation (z. B. Gruppendiskussion). Dann wird man wahrscheinlich feststellen, daß die Arbeitsergebnisse der einzelnen Gruppen sehr verschieden sind, weil – dies ist das Problem der Universalität – sehr viele nonverbalen Kommunikationsakte (Mimik, Gestik) nicht von allen Schülern gleich gedeutet werden.
[V40:30] Es ließe sich nun mit den Schülern diskutieren, worauf die unterschiedlichen Deutungsversuche zurückzuführen sind. Man könnte fragen: welche interpersonellen Taktiken (in diesem Fall nur nichtsprachliche) gibt es, die universal sind, die für alle das Gleiche bedeuten?
[V40:31] Schulte:
[V40:32] Ich möchte vorschlagen, von solchen Situationen auszugehen, die für die Schüler eine Relevanz haben: z. B. Situationen, in denen man sich nicht wohl gefühlt hat (man hat sich z. B. gestritten) |a 126| oder Situationen, in denen man sich sehr wohl gefühlt hat, man allerdings nicht genau weiß warum. Solche Phasen von Unterricht sollte man auswählen (aufzeichnen). Kriterium für die Auswahl sollte das Gelingen oder Mißlingen von Kommunikation sein. Die Diskussion über diese Situationen sollte sowohl inhaltliche als auch soziale Hintergründe tangieren. Daran anschließen könnte man die Fragestellung, wie man das Gelingen von Kommunikation selbständig organisiert.
[V40:33] Mollenhauer:
[V40:34] Dann erinnern sich die Kinder aber an die Situation. Sie würden wahrscheinlich versuchen, das Geschehen sofort auf die im Unterricht behandelten Gegenstände zu beziehen. Das durchgehende Muster der Selbstinterpretation ist dann eine Dimension: Interesse – Desinteresse. Alle Gesten, die informell neben dem Unterricht herlaufen, werden darauf bezogen. Eine weitere Dimension wäre: Abgespannt sein, Konzentrationsfähigkeit läßt nach.
[V40:35] Das sind die beiden Erklärungsmuster, die noch relativ oberflächlich bleiben.
[V40:36] Ich frage mich, wie man die Schüler motivieren kann, etwas in die Tiefe zu steigen. Je stärker sie sich an die Inhalte erinnern, die mit einer bestimmten Situation verknüpft waren, umso mehr vermute ich, werden sie an diesen Mustern festhalten. Je weniger Hilfen sie haben, umso mehr werden sie durch das, was sie sehen, genötigt, andere Muster sich klar zu machen und vielleicht auch |a 127| zu verwenden, die ihnen nur nicht so bewußt sind.
[V40:37] Schulte:
[V40:38] Wäre es nicht sinnvoll, gerade diesen Zusammenhang auch bewußt zu machen?
[V40:39] Mir geht es u. a. darum, nicht von außen irgendetwas heranzuziehen, sondern das unmittelbar auf die Gruppe zu beziehen. Man könnte aus weit zurückliegendem Unterricht Phasen heranziehen (auch mit stummen Aufzeichnungen), die man im Unterricht behandelt z. B. unter der Fragestellung, ob dies ein Unterricht gewesen ist, bei dem die Schüler sich wohl gefühlt oder gelangweilt haben. Man könnte die Schüler auffordern sich zu erinnern, was da im einzelnen sich abgespielt hat. Man könnte kurze Sequenzen (flüchtig) darstellen, so daß die Schüler nicht am inhaltlichen Kontext festhalten, eine Identifikation mit dem inhaltlichen Kontext nicht mehr möglich ist. Im zweiten Schritt könnte man die gleichen Unterrichtssequenzen mit Ton abspielen lassen.
[V40:40] Stickelmann:
[V40:41] Das, was die Schüler und Lehrer als Unbehagen empfinden und kaschieren mit dem Argument, das hat keinen Spaß gemacht, sollte man aufbrechen. Das, was problematisch ist und als solches gedeutet wird, sollte man schrittweise aufbrechen und nach der Ursache befragen. Man sollte Dimensionen, die man als Regeln erfahren hat, als veränderbar darstellen. Die Frage ist , wie man den Schülern den |a 128| Zugang zum Aufbruch ihrer Deutungsversuche ermöglicht.
[V40:42] Mollenhauer:
[V40:43] Ich finde es allerdings nicht gut, wenn man die Deutungsmuster für solche Taktiken, die man im ersten Zugang ermittelt, disqualifiziert als Muster, die das, was eigentlich passiert, kaschieren. Oder als Muster, die aufgebrochen werden müssen. Ich würde nicht so über den Sachverhalt reden, sondern würde unterstellen, daß dies eine zutreffende Beschreibung ist, wenngleich keine vollständige Beschreibung dessen, was geschieht.
[V40:44] Schüler deuten ihre Taktiken mit dem Erklärungsschema Interesse/Desinteresse, hat Spaß gemacht/hat keinen Spaß gemacht: wenn Unterricht Spaß gemacht hat, bin ich konzentriert dabei und orientiere mein ganzes Verhalten am Gegenstand und an der Unterrichtsführung. Macht das keinen Spaß, hab ich Desinteresse am Unterricht, dann beschäftige ich mich mit mir selber oder mit meinem Nachbarn und verwende eine Gestensprache, die gegenüber dem Unterricht störend wirkt. Das ist eine zutreffende Interpretation, aber umfaßt nicht den ganzen Bedeutungshorizont solcher Gesten.
[V40:45] Heinze:
[V40:46] Es stellt sich nun die Frage, ob man diesen gesamten Bedeutungshorizont nonverbaler Kommmunikationsakte im Unterricht behandeln kann. Oder ist dies |a 129| nur ein besonderes Interesse des Wissenschaftlers? Denkt man die Konzeptionen der Sozialisationstheorien, so stellt man fest, daß sie keine Strategien interpersonellen Verhaltens reflektieren, sondern sich weitgehend in abstrakten Dimensionen bewegen. Eine Möglichkeit, Sozialisationsphänomene zu konkretisieren, wäre z. B. die unterrichtliche Frage an die Schüler nach der Entstehung von interpersonalen Taktiken. Dieses Erkenntnisinteresse legitimiert eine intensive und ausführliche Behandlung interpersonaler Taktiken im Unterricht.
[V40:47] Ein weiteres Problem ist die Tatsache, daß man den Schülern erläutern muß, warum man sich mit solchen Fragestellungen überhaupt befassen soll. In diesem Zusammenhang könnte man auf das Problem der Identität hinweisen: Schüler bedienen sich z. B. verschiedener Taktiken, um ihre Identität zu bewahren. Man könnte fragen, welche Taktiken man sich in Konfliktsituationen, in denen die Identität von Individuen bedroht ist, bedient. Man könnte den Schülern bewußt machen, daß Kommunikation ein Prozeß ist, in dem sich z. B. ein Schüler bestimmter Taktiken bedient, die von einem anderen Schüler in einer spezifischen Weise interpretiert und als Stimulans zur Reaktion verwendet werden.
[V40:48] Mollenhauer:
[V40:49] Es fehlt mir ein voll überzeugender Hinweis auf das praktische Ziel. Warum soll es eigentlich so wichtig sein, daß Prozesse dieser Art zum Gegenstand von Unterricht gemacht werden? Das sie wichtig sind |a 130| im Rahmen der Arbeit von Gelehrten, die sich um die Entstehung menschlicher Kommunikation usw. kümmern, dabei noch nicht genau wissen, wohin das führt, ist einleuchtend. Um diesen Gegenstand als Bestandteil eines Curriculums zu verwenden braucht man noch eine andere Begründung.
[V40:50] Schulte:
[V40:51] Wenn man Unterrichtsaufzeichnungen hat, die bestimmte Gesichter von Kindern zeigen, die Mißbehagen ausdrücken (Langeweile, schlechte Laune etc.), das sich bereits in der Gestik und Mimik niederschlägt, und außerdem Unterrichtsverläufe darstellt, denen man entnehmen kann, daß Schüler und Lehrer sich wohl fühlen (gelungene Kommunikation), dann läßt sich doch vermuten, daß Kinder interessiert sind, woran dies im einzelnen liegt, warum man sich einmal wohl und ein anderes Mal schlecht gefühlt hat etc. Man könnte schrittweise versuchen Gründe zu finden; z. B. dies auf den Inhalt zurückzuführen oder auf den Lehrer, indem man immer mehr Informationen zur Erklärung der jeweiligen Situationen heranzieht.
[V40:52] In einem zweiten Schritt könnte man sich klar machen, an welchen Stellen man eine Veränderung dessen, was negativ interpretiert wurde, vornehmen könnte, um zu einer geglückten Form von Kommunikation zu gelangen. Man könnte eruieren, unter welchen Bedingungen
geglückte Kommunikation
möglich ist und wie man dies gemeinsam organisieren kann.
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[V40:53] Mollenhauer:
[V40:54] An dieser Stelle entscheidet sich, welchen Erklärungsmodus ich anwende und welchen curricularen Stellenwert dieser hat. Ich kann versuchen, das, was ich beobachtet habe, zu erklären durch bestimmte Merkmale des Unterrichtsverlaufs, die den Führungsstil des Lehrers oder den Unterrichtsinhalt betreffen usw. Dann ist die unabhängige Variable das Unterrichtsgeschehen und die Variable die interpersonale Taktik, und ich versuche durch die Beobachtung interpersonaler Taktiken hinter bestimmte Mängel des Unterrichtsgeschehens zu kommen. Das Unterrichtsgeschehen soll geändert werden, damit in Folge davon wiederum andere interpersonale Taktiken auftauchen. Ich kann aber auch die Fragestellung umdrehen, dann hat das einen ganz anderen Stellenwert als Unterrichtsgegenstand. Ich kann sagen, alles, was in einer Unterrichtssituation geschieht, wird zumindest mitbestimmt oder hergestellt durch bestimmte Taktiken, die die an der Situation Betroffenen verwenden. Diese Taktiken verändern selbst die Situation. Jetzt muß ich lernen, solche Taktiken aufzumerken. Ich muß mir bewußt werden, welche ich verwende, welche der andere verwendet und muß Taktiken sinnvoll und situationssensibel einzusetzen versuchen. Dann wäre der Unterrichtsgegenstand die Frage nach meinem persönlichen Verhalten im Hinblick auf das Verhalten von anderen und das Verändern von Situationen durch Veränderung des Verhaltens. Möglicherweise auch Veränderung des Interessantheitsgrades eines Gegenstandes durch Veränderung des kommuni|a 132|kativen Stils. Dieser Weg führt einen ungewohnten Unterrichtsinhalt ein: zu fragen, warum interessiert mich ein Gegenstand nicht, warum schreibe ich jetzt Zettelchen ist eine Frage, die den Schülern relativ naheliegt. Auch ein mittelmäßiger Lehrer wird ab und zu einmal fragen, warum hat dich das nicht interessiert, warum paßt du nicht auf, wann bist du gestern abend ins Bett gegangen etc.
[V40:55] Aber daß im Unterricht auch andere Fragen gestellt werden, daß der Lehrer z. B. fragt, was wolltest du eigentlich dadurch erreichen, daß du jetzt dauernd dahinten hinguckst etc., wolltest du damit etwas Bestimmtes sagen?, erscheint mir von Bedeutung.
[V40:56] Man muß auf die metakommunikative Ebene
steigen
, wenn man dies in Erfahrung bringen will. Die Frage ist, was man als Unterrichtsinhalt anzielt. Beide Aspekte schließen sich nicht aus. Zielt man sie beide an: wie muß man bei dem einen und wie muß man bei dem anderen verfahren?
[V40:57] Heinze:
[V40:58] Wann frage ich als Lehrer nach?
[V40:59] Mollenhauer:
[V40:60] Er macht das aufgrund eines Commonsense-Repertoires an Klassifikationen. Ich interpretiere in der Gruppensituation (im Seminar) bestimmte Verhaltensweisen einzelner Studenten dauernd nach Maß|a 133|gabe eines vorwissenschaftlichen Klassifikationsschemas. Der eine unterhält sich dauernd mit dem Nachbarn, ich interpretiere das als Aggression gegen mich z. B. und frage:
Sagen Sie mal, haben Sie was gegen meine Art hier des Seminarverlaufs?
So direkt mache ich das manchmal. Dies provoziert die Reflexion auf die Bedeutung solcher Verhaltensweisen. Studenten und auch Schüler müssen wissen, wie ich affektiv auf bestimmte Sachen reagiere. Oder jemand redet in einem besonders aggressiven Stil, dann sage ich:
Wenn Sie so aggressiv reden, dann bin ich eigentlich motiviert, genau so zu reagieren.
Dann mach' ich das vor, formuliere ein paar Sätze aggressiv und sage dann:
So ich kann auch anders auf treten, finden Sie es eigentlich richtig, daß wir uns so affektiv provozieren?
Dazu braucht man natürlich eine gewisse Distanz zum Verlauf.
[V40:61] Heinze:
[V40:62] Die Schüler selbst müßten befähigt werden durch eigene Beobachtung bestimmte Verhaltensweisen zu problematisieren.
[V40:63] Mollenhauer:
[V40:64] Man kann das natürlich auch umdrehen. Man kann sagen: es ist eigentlich viel verlangt von 14-15jährigen Schülern, daß sie über ihr eigenes, unwillkürliches Verhalten nachdenken sollen. Was ihnen vielleicht näher liegt ist über die Unwillkürlichkeit des Verhaltens, von dem sie abhängig|a 134| sind, nachzudenken. Wenn sie also aufmerksam gemacht werden auf die interpersonellen Taktiken, die der Lehrer verwendet und die Gelegenheit haben zu sagen, wie bestimmte Verhaltensweisen auf sie eigentlich wirken.
[V40:65] Stickelmann:
[V40:66] Das Ganze müßte ja darauf hinauslaufen, die vorwissenschaftlichen Kategorien so zu heben, daß sie einen gewissen Grad von Rationalität haben, d. h. daß es dem Lehrer z. B. durchsichtig ist, mit welchen Kategorien er die Schüler beobachtet.
[V40:67] Zum zweiten meine ich: wenn man ein Interesse an Veränderung hat, dann kann man wohl anfangen, bestimmte Regeln zu problematisieren, indem man Regeln bespricht und Schüler schrittweise auf die Möglichkeiten der Regelveränderung hinweist. Bestimmte Verhaltensweisen bedeuten einen Rückzug, weil man das Bewußtsein hat, daß man nichts verändern kann: der Lehrer da vorne macht das eben so, ich kann nichts daran ändern, also verhalte ich mich dann auch so. Der Schritt darüberhinaus wäre ja der, Möglichkeiten aufzuzeigen des konkreten Eingreifens: z. B. einzugreifen, indem man sich meldet und Vorschläge macht. Mit dem Bewußtsein, daß ich auf diese Situation Einfluß nehmen kann.
[V40:68] Schulte:
[V40:69] Das geht aber nur über die Selbstbeobachtung, indem |a 135| den Schülern klar wird, an welchen Stellen sie Krisensymptome selbst zeigen und sich dann fragen, woran das liegen könnte.
[V40:70] Heinze:
[V40:71] Goffmann beschreibt situationelle Regeln und Taktiken, die von der Situation abhängig sind, sowie Situationen, in denen sich Individuen Taktiken bedienen, die von den Regeln abweichen. Frage: warum bedienen sich Schüler bestimmter Taktiken des
abgeschirmten Engagements
? Doch wohl deshalb, weil sie Angst vor Sanktionen des Lehrers haben. Man müßte in der Klasse darüber diskutieren, ob es einen gemeinsamen Konsens über Regeln von Unterricht gibt bzw. geben kann und wo dieser liegen kann. Was läßt sich z. B. als Regel bei einem Unterricht mit Anspruch auf Selbstbestimmung und Selbstorganisation definieren, die auf einem gemeinsamen Konsens beruht?
[V40:72] Schulte:
[V40:73] Da ist der Zusammenhang mit der Intentionalität des Unterrichts ganz offensichtlich. So wie man sich Lernziele selbst setzt, vorher verabredet, könnte man sich auch solche Verhaltensnormen, solche Spielregeln vorher verabreden – was sinnvoll ist, wo die Grenze erreicht ist etc. – im Anschluß könnte man versuchen, Abweichungen festzustellen und zu fragen, woran das gelegen haben könnte. |a 136| Man könnte durchaus im nachhinein feststellen, daß Abweichungen von den gemeinsam konzipierten Regeln sinnvoll waren.
[V40:74] Damit würde man den gesamten Unterrichtsprozeß zum Planungs- und Konstruktionsgegenstand der Klasse machen.
[V40:75] Die Machbarkeit und Planbarkeit von Unterrichtsprozessen und Situationen würde den Schülern dann bewußt werden.
[V40:76] Mollenhauer:
[V40:77] Man müßte zwei im weiteren strikt voneinander unterscheiden: die des Lehrers und die der Schüler. Ich muß mir im klaren sein, ob ich Informationen sammeln will, die zur Selbstkritik des Lehrers dienen und ihn sensibilisieren sollen für ganz bestimmte Verhaltensakte der Schüler und zugleich sein eigenes Instrumentarium beobachten und verändern sollen. Dies würde bedeuten, daß man bei der Analyse des Lehrerverhaltens einsetzt und fragt, wie nimmt er bestimmte Verhaltensakte der Schüler wahr, wie bewertet er sie – sozusagen vorrational – wie klassifiziert er sie, wie reagiert er darauf etc.? Die andere Perspektive würde zunächst ein anderes Vorgehen erfordern: Sie umfaßt die Frage, was Schüler dazu beitragen können, um die Interaktionen Lehrer-Schüler bzw. die Interaktion der Schüler untereinander zu verändern.
|a 137|
[V40:78] man umgekehrt vorgehen: man hört nur das, was die Schüler sagen, und dies wird rekonstruiert. Was muß der Lehrer eigentlich gesagt haben, wie muß er sich verhalten haben, damit jetzt bei den Schülern das und das geschieht? Damit würde man beide Perspektiven integrieren.
[V40:79] Ein solches Unternehmen wäre auch als Unterrichtsgegenstand sinnvoll.