Protokollausschnitt einer Diskussion am 22.6.1973 [Textfassung a]
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[V39:1] Im folgenden soll der Protokollausschnitt einer Diskussion dargestellt werden, die am 22.6.1973 im Bildungstechnologischen Zentrum in Wiesbaden mit Klaus Mollenhauer, Thomas Heinze, Jürgen Zinnecker, Bernd Stickelmann und Herbert Schulte (assoziierte bzw. feste Mitarbeiter dieses Zentrums) stattfand.
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[V39:2] Grundlage der Diskussion waren die 1. bis 3. Abschnitte dieses Exposés. Die vom Tonband transkribierten Protokollausschnitte sind an einigen Stellen stilistisch überarbeitet worden.
[V39:3] Im Mittelpunkt der Diskussion standen theoretische und methodologische Fragen zur Funktion und Analyse inter- bzw. intrapersonaler Taktiken der Situationsdefinition von Schülern.
[V39:4] Auf die Frage von Mollenhauer: Warum interessieren sie sich für interpersonale Taktiken? antwortet Heinze: Ich vermute, daß man über diese interpersonalen Taktiken allmählich zu dem Kern der Substanz dessen kommt, was man unter Situationsdefinition der Schüler versteht… z. B.: Ein Lehrer versucht mit den von uns beschriebenen Kategorien (vgl. Abschnitt 5) im Unterricht zu arbeiten. Er stellt z. B. fest, an einer bestimmten Stelle des Unterrichts bedient sich eine bestimmte Schülergruppe oder ein bestimmter Schüler spezifischer Taktiken. Er definiert den Gebrauch dieser Taktiken als Regelverletzung, als Verletzung der Anstandsformen von Unterricht und versucht im Anschluß an den Unterricht ein Gespräch mit den Schülern zu führen. Dann wird er vielleicht ein wenig mehr Informationen über die Bedeutung der von diesen Schülern verwendeten Taktiken erhalten. Der Lehrer kann dann in zukünftigen Situationen aufgrund der Beobachtung bestimmter interpersonaler Taktiken von Schülern seinen Unterricht korrigieren. Wenn er einen bestimmten Konflikt z. B. als Regelverletzung definiert, so kann er diesen Konflikt in den Unterricht mit einbeziehen.
[V39:5] Stickelmann: Wichtig ist es, neben der offiziellen Ebene die Kategorie Metakommunikation einzuführen: Unterrichtskonturen aufzulösen über die Problematisierung der Situation der Schüler. Ein Problem taucht dabei auf, Unterricht ist im Bewußtsein der Schüler auf eine bestimmte Art und Weise strukturiert.
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[V39:6] Die Frage ist, ob den Schülern die Mittel zur Verfügung stehen, um über den Unterricht reflexiv zu diskutieren.
[V39:7] Mollenhauer: Ich hätte zwei Gründe, mich für die interpersonalen Taktiken der Schüler zu interessieren. Der eine ist dabei etwas leichter zugänglich als der andere. Ein Motiv liegt darin, daß ich interpersonale Taktiken verstehen kann als Versuch, eine Situation in dem von mir gewünschten Sinne zu strukturieren. Diese Fragestellung ist, wenn ich das recht sehe, besonders dort geeignet, wo in einer Situation nur so wenige Personen miteinander interagieren, daß alles, was diese Personen tun, als eine Interaktion im Hinblick auf die anderen interpretiert werden kann. Also wenn wir jetzt hier etwas tun, was auch immer jemand tut, wir können mit sehr großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß er das immer in bezug auf die Gesamtsituation tut. Je größer die Gruppe ist, umso größer wird die Wahrscheinlichkeit daß das Verhalten eines Einzelnen wirklich von der Gruppe eigentlich absieht und ein abschirmendes Verhalten ist, wenn der in der Nase bohrt, oder wenn der anfängt Bonbons auszupacken, dann ist das keine interpersonelle Taktik, dann beschäftigt er sich mit sich selber, dann ist das eine intrapersonelle Taktik. Das würde in eine andere Kategorie fallen. Nun leuchtet mir ein, daß diese Art Fragestellung in einer so großen Gruppe wie der Schulklasse auf Schwierigkeiten stößt, weil man dann nämlich bei jeder einzelnen Verhaltensäußerung entscheiden muß, ist das ein interpersonelles Ereignis oder ist das ein intrapersonelles Ereignis. Dieser Gesichtspunkt kann eigentlich nur auf den Lehrer angewendet werden, und diejenigen, die offen miteinander interagieren. Man kann fragen, welche Taktiken wendet der Lehrer an, um seine Intentionen durchzusetzen. Das ist der eine Aspekt, warum mich das interessiert. Der andere Aspekt betrifft mehr das einzelne Individuum insofern, als ich natürlich die interpersonelle Taktik als Symptom nehmen kann für bestimmte Zustände, in denen das Individuum sich befindet. Oder, ich glaube|a 74| bei Goffman ist es im
Stigma
so beschrieben, daß interpersonelle Taktiken verstanden werden als Versuch des Individuums, seine Identität zu wahren in solchen Situationen, in denen sich das Individuum in irgendeiner Form von Konflikt fühlt.
[V39:8] Ich kenne keine Theorie interpersoneller Taktiken die es erlauben würde, bestimmte Taktiken zurückzuführen auf bestimmte psychische Zustände. Wenn ich diese Theorie hätte, dann könnte ich sagen, immer wenn die interpersonale Taktik verwendet wird, liegt die Wahrscheinlichkeit vor, daß das und das Problem bei dem Einzelnen liegen muß. Das kann man im Rahmen einer solchen Untersuchung nicht auch noch leisten, weil das sozusagen eine Grundlagenuntersuchung wäre, also muß man versuchen die Fragestellung so zu bestimmen, daß diese Frage unentschieden bleiben darf.
[V39:9] Schulte: Die Erklärung einer bestimmten interpersonalen Taktik eines Schülers ist zurückzuführen auf die Gesamtsituation, in der sich der Schüler befindet, z. B. die Situation, in der er mit einem bestimmten Lehrer, bestimmten Schüler oder bestimmten Inhalten konfrontiert wird. Man könnte sich vorstellen, daß der gleiche Schüler seine interpersonalen Taktiken in anderen Situationen anders deutet.
[V39:10] Stickelmann: Wenn in einer Klasse bestimmte Phänomene gehäuft auftreten, so kann das ein Indikator dafür sein, daß eben Schüler die Situation nicht beeinflussen können z. B. in der Situation des selbstorgansierten Unterrichts befinden sie sich in einer paradoxen Situation, wo einerseits ein Anspruch gestellt wird, sie andererseits die Situation nicht so beeinflussen können, wie es dieser Anspruch vorsieht, daß die Schüler dann ausweichen auf bestimmte Taktiken, um ihre Identität zu bewahren. Die Schüler weichen dann aus auf solche Taktiken, die es ihnen ermöglichen, eine Sicherheit gegenüber den Klassenkameraden zu bewahren. Diese Situation müßte man hinterfragen. Man müßte also fragen, warum sind die Schüler nicht in der Lage am Unterricht gemäß|a 75| dem Anspruch von Selbstorganisation teilzunehmen?
[V39:11] Mollenhauer: Das wäre eine Hypothese. Sie würden sagen, je stärker die Ausprägungsgrade in der Dimension Problematisierung unter der Dimension Komplementarität sind, umso häufiger tauchen interpersonale Taktiken einer bestimmten Klasse auf. Aber das zeigt noch auf ein anderes Problem. Sie können offenbar Hypothesen über interpersonelle Taktiken und andere Bestandteile des Kommunikationsprozesses nur bilden, wenn sie eine Art Klassifikation von Taktiken haben. Also wenn man als Taktiken, wenn man alles gleichgewichtig aneinanderaddiert, was überhaupt an individuellen Verhaltensweisen möglich ist, hat man eine so unübersehbare Fülle von Beobachtungsdaten, daß man gar keine Hypothese formulieren kann. Es sei denn, man macht wirklich eine quantifizierende Untersuchung, die ganz ins Detail geht, und läßt hinterher durch den Computer eine Faktorenanalyse ausrechnen z. B. und man bildet dann danach die Hypothese. Aber das würde voraussetzen, daß man über ein reichhaltiges Material verfügt, das man auch quantifizieren kann nach Auftauchen bestimmter Taktiken.
[V39:12] Heinze: Wenn man die Explikation von Sinndeutungen der Schüler verstehen will, dann stellt sich das Problem, daß Schüler zumeist auf die Erwartungen der sie Interviewenden eingehen. Daß sie zumeist ihr Urteil, ihre Sinndeutung, die sie einer bestimmten eigenen Handlung zugrunde legen, abhängig machen von der Wertschätzung, die sie gegenüber dem Forscher hegen.
[V39:13] Zinnecker: Mir fällt in diesem Zusammenhang folgender Vergleich ein: und zwar der mit der Literatur, mit der klassischen im 19. Jahrhundert. Wenn ich jetzt vergleiche wie Goffman vorgeht und wie die Literaten vorgegangen sind, wenn sie solche spezifischen Situationen beschreiben wollten, dann sehe ich da gewisse Parallelitäten. Und zwar die Vorgehensweise ist doch etwa die,|a 76| daß man das, was sich verkürzt in einer Geste, die irgendeine interpersonelle Bedeutung hat, niederschlägt, ganz verkürzt und sehr flüchtig, auch optisch unbewußt, daß man das expliziert. Balzac z. B. beschreibt die besondere Geste, deren sich ein bestimmter Typ bedient, wenn er in einen Spielsaal hineinkommt. Dies beschreibt er über mehrere Seiten solange, bis er die besondere Geste und damit auch die Situationsdefinition, die mit dieser Geste expliziert werden soll, erfaßt hat. Das ist eine sehr langwierige Explikation, eine mit zahlreichen Analogien angehäufte Betrachtungsweise. Ähnlich geht doch auch Goffman vor. Mir stellt sich die Frage, ob es möglich ist, eine ziemlich interpretative Explikation von verkürzten Daten vorzunehmen. Das Problem ist folgendes: welche Bedeutung kann man einer etwas voreiligen Quantifizierung von Erscheinungen beimessen? Wird dadurch nicht eine Reduzierung vorgenommen? Man muß ja bei einer solchen Vorgehensweise Daten reduzieren, um dem Prinzip statistischer Verarbeitung Rechnung tragen zu können. Dabei taucht das Problem auf, daß man, um zu Kategorien zu kommen, alles verkürzen muß. Den Kategorien sieht man zumeist die Reichhaltigkeit der Phänomene nicht mehr an.
[V39:14] Mollenhauer: Wenn jemand in einem Gespräch mit Freunden oder Kollegen oder in einer Gruppe über das redet, was ihm wichtig ist, dann bringt er bestimmte Inhalte zur Sprache. Diesen Inhalten gegenüber ist es albern zu fragen, ob er die nun wirklich meint oder nicht meint. Das ist Spiegelfechterei. Er meint wirklich, was er sagt. Wenn der sich über seine Freundin unterhält, dann hat er offensichtlich Interesse an diesem Thema. Hier ist etwas anderes. Denn jemand kann durchaus mit einer interpersonellen Taktik etwas meinen, was von dem sozialen Kontext gar nicht aufgenommen wird, nicht als das, als was es gemeint ist. Das heißt, es wird vermut|a 77|lich anders gedeutet und hat deshalb für ihn selbst eine andere Funktion, es ist sozusagen ein doppeltes Phänomen. Jemand z. B. neigt dazu, bei Meinungsverschiedenheiten eher seine körperliche Stärke ins Spiel zu bringen und er sitzt unglücklicherweise mit Leuten zusammen, die das nicht mögen, sozusagen das auf andere Weise gelernt haben, der kriegt auf diese Weise immer Streit mit anderen. Und wenn der sagt, ich will gar keinen Streit, ich finde das gräßlich, daß die anderen immer mit mir streiten wollen, dann hat das für ihn eben faktisch eine andere Bedeutung als die, die er auf Befragen seinem eigenen Verhalten zusprechen würde. Diese Doppelbödigkeit ist prinzipiell in jeder interpersonellen Taktik enthalten; das setzt dem Weg über das Bewußtsein des Betroffenen besondere Schwierigkeiten entgegen.
[V39:15] Heinze: Es gibt allerdings auch universelle Taktiken (aktive Formen von Ritualisierung) z. B. Augenbrauenbewegen oder mit dem Finger klopfen des Lehrers etc., die von einer bestimmten Klassengruppe in gleicher Weise dekodiert werden.
[V39:16] Mollenhauer: Ich nehme an, daß ein großer Teil gerade derjenigen Taktiken, die sich nicht dem institutionalisierten Unterrichtsritual fügen, von solcher nichtuniversellen Art sind.
[V39:17] Schulte bezieht sich auf den Beitrag von Zinnecker: Ich glaube, daß man das nicht so ohne weiteres vergleichen kann, zum einen, weil literarische Produkte den Zusammenhang von gewissen Gesten und Handlungssträngen konstruieren und nicht aus der Beobachtung gewonnen wurden, sondern nachträglich von dem Autor in irgendeiner Weise zusammengebracht werden. Uns geht es doch um etwas anderes. Nämlich um die Feststellung tatsächlicher und nicht um konstruierte Zusammenhänge. Zum anderen: ich meine nicht, daß man durch eine Kategorialisierung nur die Wirklichkeit reduziert, sondern daß|a 78| man sagen kann: umgekehrt trägt eine solche Kategorialisierung auch dazu bei, die Wirklichkeit komplexer zu sehen als vorher.
[V39:18] Zinnecker: Vielleicht kann ich noch einmal kurz erläutern, wie ich zu diesem Vergleich kam. Auffällig an der literarischen Beschreibung ist die Eindeutigkeit der Beschreibung. Die Sinndeutung wird eindeutig gemacht. Im Gegensatz zu dem, was im Alltag passiert, wenn man Gestik, Mimik etc. beobachtet, das ist immer zweideutig. Wenn man die Leute danach fragt, können sie immer leugnen. Selbst wenn bestimmte Leute in ihrer Gestik etwas Bestimmtes ausdrücken, so können sie nachher immer sagen, so meine ich das doch gar nicht. Es stellen sich für mich zwei Fragen, inwieweit trägt diese Trivialliteratur in der Gegenwart z. B., die ja noch eindeutiger ist (man könnte zu dieser literarischen Vermittlung auch noch Medien hinzuziehen), zu einer Universalität dieser Gestik bei? Die Universalität solcher Gestiken wird mittels Medien und Literatur transponiert über einen engen Bereich, z. B. eine soziale Gruppe wie die Familie. In kleinen Gruppen sind bestimmte Gestiken universal. Sie werden in ähnlichen Situationen, in ähnlichen psychischen Zuständen gebraucht. In jeder Gesellschaft finden spezifische Interpretationen, von Gestiken etc. statt. Jede Gestik, jede averbale Kommunikation ist ein Bereich, der interpretiert wird. Die averbale Kommunikation hat einen spezifischen Charakter von Sprache, die kulturell in einer gewissen Weise standardisiert ist und kulturell übermittelt wird. Was unterscheidet diese Uneindeutigkeit dieser Gestik von der Eindeutigkeit der anderen? In welchen psychischen oder sozialen Bereichen kann dann diese Art von Gestik bzw. Sprache eingesetzt werden, wo man aus bestimmten Gründen, z. B. Angst, nicht mehr verbalisiert aber trotzdem nicht verzichtet zu kommunizieren? Man könnte doch zu einem Schema kommen, bei dem Sprache und Verbali|a 79|sierungsfähigkeit von Unterrichtsprozessen zusammenhängen.
[V39:19] Mollenhauer: Eine Annahme ist sicher sinnvoll, daß eine interpersonale Taktik, die überhaupt keinen adäquaten Kommunikationskontext findet, das heißt also nicht mindestens einen Partner findet mit geteilter Bedeutung, daß die sich nicht halten wird, die wird verkümmern. Daraus kann man nicht folgern daß in einer Gruppe von der Größe einer Schulklasse auch diese Eindeutigkeit existiert. Da wären durchaus verschiedene Subsysteme von Zeichen denkbar mit jeweils anderer Bedeutung, da könnte es Cliquen geben, die sich auf eine Weise verständigen, die ausdrücklich die anderen ausschließen soll, oder daß die Klasse insgesamt ein Verständigungssystem entwickelt, das ausdrücklich den Lehrer unbeteiligt lassen soll. Der versteht dann nicht, wovon die Rede ist und empfindet es nur als Störung, was in Wirklichkeit nur eine Kommunikation ist. Der Lehrer weiß nicht, was dort kommuniziert wird.
[V39:20] Zinnecker: Das würde doch dann eine Art von Sondersprache sein. Wie kommen wir jetzt dazu, daß wir sagen, daß eine bestimmte Art von Gestik oder Mimik eine bestimmte Bedeutung hat? Das müßte jetzt zunächst geklärt werden.
[V39:21] Mollenhauer: Ich fürchte, daß diese Fragestellung für ihre Untersuchungszwecke auf einer zu allgemeinen Ebene liegt. Das zielt auf eine allgemeine Theorie sprachlicher und nichtsprachlicher Kommunikationscodes. Es gibt wenig Ansätze, auf die man sich berufen könnte. Deshalb neige ich dazu, die Fragestellung einzuschränken nur auf solche Taktiken, die sich ausdrücklich auf andere Kommunikationspartner beziehen und von denen angenommen werden kann, daß mit dieser Taktik eine bestimmte Form von Reaktion eines anderen hervorgerufen werden soll. Rein expressive Gesten würde ich nicht berücksichtigen.
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[V39:22] Schulte: Ich gehe davon aus, daß inter- oder intrapersonale Taktiken, wenn sie sich häufen, ein Zeichen dafür sein können, daß die Schüler eine zu geringe Chance haben, die Situation Unterricht zu beeinflussen. Zum einen die besondere Häufung und zum anderen die besondere Art von Taktiken, die während bestimmter Unterrichtsphasen benutzt werden, könnten ein Indikator dafür sein, inwieweit die Schüler am Unterricht desinteressiert sind.
[V39:23] Mollenhauer: Das bestärkt mich eigentlich darin, den Begriff interpersonale Taktiken enger zu definieren als sie es zu beabsichtigen scheinen, dann lieber statt dessen eine andre Beobachtungskategorie noch einzuführen, zum Beispiel egozentrische Aktivitäten. Sie bekommen auf diese Weise eine solche Fülle heterogener Beobachtungen in eine Klasse hinein, daß die Differenzierung nach Ausprägungsgraden auf einer Skala eine positivistische Spielerei wird. Man versucht zu qualifizieren, was in sich eine sehr diffuse Menge von Beobachtungsdaten ist. Ich würde die Gesamtmasse möglicher Beobachtungen, die unter den Begriff interpersonelle Taktiken des Schülers fallen, die würde ich aufsplitten, weil das in sich zu vielfältig ist. Den Objektbereich interpersoneller Taktiken würde ich in sich untergliedern. Ich würde sagen: interpersonelle Taktiken der Schüler definiere ich als solche Tätigkeiten oder solche Interaktionen, die ausdrücklich auf andere Gruppenmitglieder gerichtet sind und deren Reaktionen zu beeinflussen trachten. Eine Skala hat nur dann Sinn, wenn sie eindeutig in einer Dimension ist. Eindeutige Skalen sind solche, wo man wirklich stark oder schwach sagen kann, also eine nach Stärkegraden ausgeprägte Skala. Was sie konzipiert haben, sind Klassen von Ereignissen: also eine Klasse von zum Beispiel Universaltaktiken, daneben gibt es eine Klasse von Ereignissen, die man als nichtuniversale bezeichnen könnte. Dann gibt es eine andere Unterscheidung, auf Gruppen bezogene Taktiken und nicht auf Gruppen bezogene Taktiken. Das sind bereits |a 81| vier Klassen von Ereignissen, und innerhalb jeder dieser Klassen können wir Ausprägungsgrade unterscheiden oder Häufigkeiten, die man innerhalb eines Unterrichtsverlaufs feststellen kann. Man kann festhalten, wie häufig sind in einer Unterrichtseinheit universale Akte und wie häufig sind die nicht universalen Akte, wie häufig sind die gruppenspezifischen und die egozentrischen Taktiken. Dann erhält man vielleicht ein Profil, ein Häufigkeitsprofil. Damit hätte man diese Unterrichtssequenz charakterisiert Dann ist die Häufigkeitsauszählung in diesem Fall identisch mit dem Ausprägungsgrad. In anderen Fäll, kann man das Rating-Verfahren anwenden. In manchen Fällen ist ein Häufigkeitsverfahren sinnvoller als ein Rating-Verfahren, dies besonders bei den interpersonellen Taktiken, wenn es z. B. verschiedene Klassen von Ereignissen gibt, die unter diesen Begriff insgesamt fallen. Da wir von interpersonalen Taktiken sehr wenig wissen, ist es sinnvoll, eine formale Unterscheidung vorzunehmen. Einmal ist es sinnvoll anzunehmen, daß es Taktiken gibt, die universal sind, das heißt, die für alle Gruppenmitglieder die gleiche Bedeutung haben. Wenn jeman diese Taktik verwendet, kann er sicher sein, daß der andere so und nicht anders darauf reagiert.
[V39:24] Zinnecker: Universal hatte ich eigentlich verstanden als einen Kommunikationszug, der sich an alle wendet, also prinzipiell für alle offen ist.
[V39:25] Mollenhauer: Das Sich-an-alle-wenden kann man ja auch als Intention bezeichnen, als solche Akte, die sich direkt der Intention nach an alle Gruppenmitglieder wenden, und ich könnte als nicht universal solche Akte bezeichnen, die sich der Intention nach nur an z. B. 30 % wenden. Die anderen Schüler verstehen das auch, aber an sie ist das gerade nicht gewendet. Oder ich definiere das anders: ich nenne universal solche Akte, die alle verstehen, und ich nenne nicht universal solche Akte, von denen objektiv gesagt werden kann, daß nicht alle sie verstehen. Diese|a 82| zweite Klasse, also diese nichtuniversalen Akte, darf ich nicht als Intention verstehen, denn der Lehrer kann durchaus die Absicht haben, für alle zu reden, redet aber durch die Verwendung bestimmter Taktiken im Grunde genommen für fünf. Die anderen verstehen eben seine Taktiken nicht. Oder die anderen interpretieren sie anders als sie eigentlich interpretiert werden sollen. In diesem Falle muß man sich entscheiden, welchen Begriff von Universalität man nehmen will. Das wäre also die eine Unterscheidung: universal, nicht-universal.
[V39:26] Die zweite Unterscheidung wäre: egozentrische und gruppenspezifische Taktiken. Das heißt: man hätte erstens die universalen Taktiken, als zweite Klasse die nicht-universalen Taktiken. Unter den universalen Taktiken gibt es solche, die mit Bezug auf die Gesamtgruppe verwendet werden und solche, die nur mit Bezug auf eine Teilgruppe verwendet werden. Unter den nicht-universalen Taktiken hat man vielleicht auch solche, die mit Bezug auf die Gesamtgruppe verwendet werden und solche, die nur mit Bezug auf eine Teilgruppe verwendet werden. Dann hätte man weiterhin solche Taktiken, die überhaupt nicht mit Bezug auf andere Personen verwendet werden. Dies sind eigentlich keine interpersonellen Taktiken.
[V39:27] Zinnecker: Die sind insofern interpersonell, als sie in der Gesamtgestik, mit der sie ausgeführt werden, dem anderen mitteilen, ich will im Moment nicht gestört werden. Wenn man dem Axiom folgt, man kann nicht nicht kommunizieren, sind solche Taktiken ebenfalls interpersonale Taktiken.
[V39:28] Mollenhauer: Man muß also beobachten, inwieweit ein Schüler mit seiner Taktik versucht, den anderen zu involvieren.
[V39:29] Heinze: Die Taktik des Selbstengagements kann z. B. eine reine Abschirmung sein, oder es kann eine Taktik sein, die die Aufmerksamkeit des anderen auf denjenigen lenken soll, der sich dieser Taktik des Selbst|a 83|engagements bedient.
[V39:30] Mollenhauer: Das kann man durch Beobachtung nur dann ermitteln, wenn der Testfall eintritt, wenn also z. B. jemand leise eine Melodie vor sich hinsummt, ein wenig provokativ, aber niemand nimmt davon Notiz, es klingelt, und er hat dann mit seiner Taktik keinen Erfolg gehabt. Dann kann man nicht sagen, ob er damit die Aufmerksamkeit auf sich richten wollte, oder ob er nur aus Langeweile gebrummt hat. Den theoretischen Stellenwert der einzelnen Taktiken kann man im nachhinein bestimmen. Mit einer differenzierten Klassifikation von verschiedenen Taktiken kann man eine einfache Auszählung während des Unterrichts machen. Gesetzt den Fall, die Vermutung stimmt, daß interpersonelle Taktiken sozusagen unter der Oberfläche des offiziell geführten Unterrichts verwendet werden, dann gibt es zwei Ebenen, die institutionalisierten Taktiken und die nicht institutionalisierten Taktiken, und es besteht ein systematischer Zusammenhang zwischen beiden, dann kann nur unter diesem Gesichtspunkt das Ganze ausgewertet werden. Bei einer bestimmten Art von Unterricht müßten bestimmte Taktiken steigen in der Häufigkeit. Das wird man wahrscheinlich regelmäßig feststellen können. Interessant wäre, ob die Art dieser Taktiken vielleicht mit irgendwelchen Unterrichtsmerkmalen variiert, vielleicht auch themenspezifisch variiert, weil ja der Sinn dieser Beobachtung unter anderem sein soll, die Art der Ablenkung vom Unterricht zu ermitteln in Abhängigkeit von dem, was im Unterricht geschieht. Andererseits kann man z. B. das Anwachsen nicht universaler Taktiken in bestimmten Situationen feststellen. Es könnte sein, daß das in der qualitativen Interpretation einzelner Unterrichtsprotokolle durchgeführt werden kann. Wie stark variieren die Sprachformen der Schüler, die sie untereinander verwenden in einem stark ritualisierten Unterricht und einem weniger stark|a 84| ritualisierten Unterricht? Wo zeigt sich der Anstieg des Problematisierungsniveaus, eben auch in der sprachlichen Form, die verwendet wird? Man wird prüfen müssen, welche Kategorien mehr auf sprachliche Formen und welche Kategorien mehr auf nicht-sprachliche Kommunikation zu beziehen sind. Sinnvoll ist es, daß man das offizielle Unterrichtsgeschehen, also wie Schüler Inhalte und Anweisungen verarbeiten, beschreibt und festhält. Die öffentliche Sprache und die Sondersprache der Schüler lassen sich über Tonband festhalten.