Es handelt sich um ein Erziehungsverhalten … [Textfassung a]
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[V28:1] Es handelt sich um ein Erziehungsverhalten, das in einer kurzschlüssigen Weise mit der Möglichkeit des Strafens umgeht. Kinder werden für Regelverletzungen unmittelbarer und viel häufiger körperlich bestraft. Sie werden bestraft nicht für böse Absichten, nicht für die Gesinnung, die sie vielleicht haben mögen, sondern sie werden für tatsächlich praktiziertes Verhalten bestraft. Das hat bestimmte Folgen. Solche Kinder können nämlich nicht ein flexibles, vorauswarnendes Gewissen ausbilden, weil sie gelernt haben, nur auf unmittelbar erfolgende Reaktionen von Erwachsenen ihr Verhalten zu ändern. Sie haben also nicht das, was uns allen selbstverständlich ist, jedenfalls soweit wir in halbwegs bürgerlichen Elternhäusern groß geworden sind, daß wir bestimmte Situationen vorwegnehmen können und uns vorstellen können, wie dort richtiges und falsches Verhalten gegeneinander abgewogen werden.
[V28:2] Damit hängt ein zweites Merkmal zusammen ... das sich in der Dimension dessen bewegt, was man Zeitperspektive oder Planungsverhalten nennen kann. Wenn ein solches vorausplanendes Gewissen nicht existiert, hat das wahrscheinlich auch etwas zu tun mit der Art und Weise, mit der innerhalb einer Familie oder innerhalb einer sozialen Gruppe sprachlich kommuniziert wird. Sprachkommunikation aber ist überall dort erforderlich, wo zukünftige Ereignisse des Lebens in die mögliche Planung des einzelnen hineingenommen werden sollen, d. h., jemand, der für sich selber differenzierte Zukunftspläne ausarbeitet, der sich nicht nur an der Gegenwart orientiert, sondern sich in langfristigen Perspektiven zu orientieren versucht, kann das eigentlich nur, wenn er auf der Basis differenzierter, verbaler Kommunikation innerhalb der Familie so etwas gelernt hat. Es scheint, daß diese Orientierung den Kindern aus den unteren sozialen Schichten, in denen das nicht sehr stark ausgeprägt ist, weitgehend abgeht und daß vielmehr das, was wir Augenblicksorientierung nennen würden, vorherrscht.
[V28:3] Damit hängt ein drittes Merkmal zusammen, das man auf die Alternative kollektivistische versus individualistische Orientierung bringen kann. Die Kinder dieser sozialen Gruppe lernen in der Regel nicht das, was wir vielleicht in der traditionellen überlieferten Pädagogik Individualität nennen. ... Es ist ein mehr kollektivistisch an Gruppen und am sozialen Status orientiertes Verhalten und nicht so sehr ein an Kategorien der Individualität orientiertes Verhalten. ...
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[V28:4] Ein weiteres Merkmal ist, daß das Erziehungsverhalten in diesen sozialen Schichten außerordentlich inkonsistent ist, und zwar in zweierlei Hinsicht: Einmal zeigen die beiden dominanten Erziehungspersonen, Vater und Mutter, in ihrem eigenen Verhalten Inkonsistenz derart, daß sie spontan eigentlich auf eigene Impulse reagieren und nicht im Sinne von pädagogischen Maximen oder von Prinzipien die augenblickliche Situation überschreiten. Strafhandlungen z. B. sind in sehr starkem Maße Impulshandlungen. Dadurch kommt eine Inkonsistenz herein in das Erziehungsverhalten des Vaters und auch der Mutter. Zum anderen gibt es eine Inkonsistenz des Erziehungsverhaltens zwischen den beiden Ehepartnern. Es ist so, daß in diesen sozialen Gruppen innerhalb der Familie wenig über Erziehungsprobleme diskutiert wird. Es entsteht auf diese Weise innerhalb der Ehestruktur zwischen den Ehepartnern keine langfristige pädagogische Strategie, keine gemeinsame Vorstellung, die beständig ein Element der familiären Erziehungssituation ist. Die Folge davon ist, daß jede Erziehungsperson eigentlich einen eigenen Erziehungsverhaltensstil praktiziert, wobei noch das Charakteristische dabei ist, daß das Verhältnis von Mutter und Kind außerordentlich eng ist. Viele sprechen hier von einer Mutter-Kind-Symbiose. Auf der anderen Seite ist das Verhältnis vom Vater zum Kind sehr stark gestört. In einer solchen Situation ist es kaum möglich, daß es zu dem kommt, was uns so wichtig scheint: nämlich zu einer deutlichen Identifikation mit dem Vater der Familie. Diese Identifikation mit dem Vater ist dann nicht möglich, oder zumindest außerordentlich erschwert, wenn in der Familie solche Inkonsistenzen herrschen. Also finden wir eine geschwächte Identifikationsbereitschaft bei diesen Kindern. Sie suchen sich ihre Identifikationsobjekte nicht mehr so stark innerhalb der Familie, sondern außerhalb der Familie. ... Diese Muster nun wiederum enthalten Wertorientierungen, die in vielen Merkmalen möglicherweise dem moralischen Kodex der dominanten Kultur, d. h. der Mittelschichtkultur, widersprechen.
[V28:5] ... Was mir nun außerordentlich wichtig zu sein scheint angesichts dieser Probleme, ist, daß wir uns überlegen müssen, wie eigentlich eine pädagogische Strategie aussehen muß, die an diese Gruppe, mit solchen Erziehungserfahrungen, anknüpft. Was mir sicher zu sein scheint, ist, daß ein pädagogischer Weg ausgeschlossen werden muß, der so von einem Umdrehen des ganzen Verhältnisses ausgeht und meint, daß im Falle eines konstatierten abweichenden Verhaltens nun ein solches Kind einfach in ein völlig anderes Erziehungsmilieu versetzt werden muß, um alles das zu lernen, was es offenbar in der sozialen |a 103|Herkunftsgruppe nicht gelernt hat. Darin steckt ein Problem, das man vielleicht positiv so formulieren kann: Wir müssen uns überlegen, welchen positiven Anknüpfungspunkt es für unsere Erziehungspraxis gibt, wenn wir die Erziehungserfahrung dieser Kinder und Jugendlichen in ihrer sozialen Herkunft ernst nehmen. Und damit korrespondiert eine zweite Frage, nämlich die, welche Merkmale in der Erziehungserfahrung so sind, daß sie unbedingt der Korrektur bedürfen. Diese beiden Fragen müssen wir unbedingt stellen, wenn wir an dieser Stelle weiterkommen wollen, und ich glaube, daß davon die weitere Strategie der Heimerziehung absolut abhängen wird.