Zur Einführung [in Parmentier, Frühe Bildungsprozesse] [Textfassung a]
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Zur Einführung

[V53:1] In seiner
Vorbemerkung
zu dieser Arbeit schreibt Michael Parmentier, er wolle
ein Modell zur Analyse der kindlichen Interaktionsstruktur
entwerfen und
deren Bedeutung für den Bildungsprozeß des einzelnen
reflektieren. Mir scheint, daß er damit sein Unternehmen vergleichsweise bescheiden charakterisiert hat. Das Angebot an interaktionsanalytischen Modellen ist reichhaltig, auch unter Gesichtspunkten pädagogischen Interesses; und man mag fragen, ob eine Vermehrung dieses Angebotes auch eine Bereicherung ist. Indessen spricht Parmentier nicht zufällig oder beiläufig auch von
Bildungsprozeß
. Eher mit diesem Begriff nämlich als mit dem Ausdruck
Interaktion
ist angedeutet, worum es geht: um eine Studie zu der Frage, auf welche Weise, mit welchen Strategien und welchen Strukturelementen sich der Vorgang der Bildung entfaltet. Der Ausdruck
Bildung
wird dabei nicht in der eingeschränkten Bedeutung nur auf die Schule bezogener Vorgänge oder Resultate verwendet; auch nicht in dem normativen Sinn, nach dem etwa der eine
Bildung
, der andere nur
Halbbildung
, ein dritter gar keine Bildung hat.
Bildungsprozesse
: das sind jene Vorgänge im Leben des Menschen, in denen er sich die vorgefundene Welt aneignet, sich mit ihr auseinandersetzt und so eine inhaltlich bestimmte Form seines Vorstellungs- und Handlungsrepertoires gewinnt.
[V53:2] Eine solche Thematik schließt an die Bildungstheorie der deutschen Klassik, insbesondere an die Fragestellungen Wilhelm von Humboldts an – allerdings mit der historischen Brechung der Sichtweise, die wohl heute unerläßlich ist: Die Bildung des Menschen ist eine Bildung zur individuellen Gestalt, aber nur als immer auch gesellschaftliche Formierung, vor allem im Medium von Interaktionen und deren kontingenten Bedingungen. Daß Michael Parmentier genau dieses im Sinn hat, zeigt sich am deutlichsten in der – für mich faszinierenden – Analyse der Ausstattung von Vorschuleinrichtungen des 19. Jahrhunderts (S. 92 ff.).
[V53:3] In diesen und den anderen Analysen des Buches wird aber auch deutlich, in welchem aktuellen Diskussionszusammenhang sich der Autor orientiert. Aus den Arbeiten des symbolischen Interaktionismus gewinnt er den Blick für die Mikrostrukturen personaler Beziehungen, den Situationsbegriff und das Verständnis für die Regelhaftigkeit des Handelns zwischen Personen. Der Ethnomethodologie entnimmt er die distanzierte Perspektive, die Einklammerung des eigenen normativen Engagements, besonders aber das |a 8|Interesse an den Regeln der Konstruktion sozialer (semantischer) Wirklichkeit. Dem Strukturalismus schließlich verdankt er den systematischen Aufbau der Argumentation, das intensive Recherchieren nach den semantischen und syntaktischen Grundoperationen, die die Basis jedes Bildungsprozesses sind: das Definieren von Situationen, die Konstruktion von Intersubjektivität, das Etablieren von Regeln des Wissens und Handelns, die Tradition und ihre verändernde Aneignung.
[V53:4] Mir scheint indessen, daß Michael Parmentier im Hinblick auf die Methodik seiner Analysen am meisten Claude Lévi-Strauss verdankt. Dieser scheinbar so ganz und gar unpädagogische Denker gewinnt im vorliegenden Buch überraschend pädagogisches Leben, auch wenn Parmentier nur gelegentlich auf ihn verweist. Es gelingt ihm zu zeigen, daß eine durch Lévi-Strauss geschulte Sichtweise, auf pädagogische Sachverhalte angewandt, durch nichts als genaue Interpretation (freilich: was ist das?) Erkenntnisse ermöglicht, die – wie mir scheint – für das Erziehungshandeln des einzelnen
praktischer
sind als solche Untersuchungen, die sich strikt der herrschenden sozialwissenschaftlichen Empirie verschreiben. Das ist nun allerdings auch nicht gänzlich überraschend: Die Aufnahme interaktionistischer und ethno-methodologischer Gesichtspunkte hat in der Pädagogik bereits eine Tradition; neuerdings kommt die
Alltagstheorie
dazu; sie alle aber erscheinen mir als Varianten nur eines Paradigmas, das bisher bei Anselm Strauss, Irving Goffman und Claude Lévi-Strauss seinen überzeugendsten Ausdruck gefunden hat: eine Methode des Verstehens sozialer Texte und Kontexte zu entwickeln, die intersubjektive Gültigkeit beanspruchen kann. Autoren wie die genannten tun das seit längerem, aber auch Bourdieu, Barthes, Foucault, Sperber, Ariès, Elias. Es wird Zeit, daß wir auf solche Arbeiten nicht nur verweisen, sondern sie in der pädagogischen Forschung produktiv assimilieren (ein neues Stichwort: Piaget). Michael Parmentier hat das mit Erfolg versucht.
[V53:5] Was nun auch immer gegen solchen
Strukturalismus
eingewandt werden mag: Das Kind, das in eine Kultur eintritt und in der Auseinandersetzung mit dieser seine erste Gestalt gewinnt, ist zu allererst den Bedeutungsstrukturen des Interaktionsfeldes konfrontiert, in dem es lebt; diese sind die Basis seines Bildungsprozesses. Die
materialistische
Rede von Überbau und Basis im Sinne kognitiver Strukturen einerseits und deren materiellem Substrat andererseits ist jedenalls – das zeigt der Argumentationsgang Parmentiers – für |a 9|eine Theorie der Bildungsprozesse des Kindes nicht so umstandslos sinnvoll. Materielle Bedingungen
bedingen
eben nur, aber begründen keine Bildungsprozesse. Was als theoretisches Konstrukt für eine Theorie der Gesellschaft oder der Institutionen/Organisationen des Erziehungs- und Bildungswesens nützlich sein mag, muß sich nicht auch für eine Theorie der Bildung empfehlen.
[V53:6] Wie dem auch sei: Der Übergang zwischen Bildungs- und Gesellschaftstheorie ist die eine, der zwischen Bildungs- und Lerntheorie die andere Seite der Sache. Es könnte sein, daß Michael Parmentier mit seiner Studie sich zwischen die Stühle gesetzt hat: Soziologen und Materialisten werden ihm Kognitivismus, wenn nicht Schlimmeres, jedenfalls aber das Fehlen der sozialgeschichtlichen Dimension vorwerfen; auf empirische Sicherung erpichte pädagogische Psychologen oder Lehr-Lern-Forscher werden ihm ankreiden, daß er allenfalls eine – an Piaget orientierte – Vorstellung von Entwicklung hat, daß er die für den Bildungsprozeß relevanten Lernprobleme aber im Dunklen läßt. Aber eben dies ist – wenn ich ihn recht verstanden habe – der springende Punkt: Die vorliegende Studie gibt zu bedenken, ob nicht eine empirische Theorie der Bildung und des
Lernens
möglich wäre, die sich nicht auf den psychologischen Wissenstypus zu gründen versucht. Was heißt das?
[V53:7] Die analytischen Wege, die Parmentier geht, sind auf eigentümliche Weise pädagogisch und praktisch – wenngleich manch Praktiker der Erziehung gelegentlich über die
Abstraktheit
der Argumentation klagen mag. Pädagogisch: Der Bildungsvorgang wird als das beschrieben, was auch
Erziehung
in ihren wesentlichen Teilen ist, nämlich als Rekonstruktion der gesellschaftlich-kulturellen Welt, der Wirklichkeit von Lebensformen im Wissens- und Handlungsbestand des Kindes. Praktisch: Er wird so beschrieben, daß dabei sowohl das Handeln des Kindes in seinen Strukturelementen, als auch das Handeln des erziehenden Erwachsenen zum Vorscheint kommt und einer handlungsbegründenden Argumentation zugänglich gemacht wird. Interessant ist, daß der Erwachsene als unmittelbar pädagogisch handelnde Person kaum auftaucht, aber dennoch gleichsam immer anwesend ist durch die Situationen, Bedeutungen, Strukturen, die ja – in ihren kulturell allgemeinen Teilen auch die seinen sind. (Eben dies macht ja auch wohl die wahrhaft erstaunliche Wirkung aus, die von den pädagogischen Sitten und Institutionen in jeder Kultur ausgeht.) Erziehungsfelder lesen sich in dieser Sichtweise wie Land|a 10|karten, in denen das Netzwerk der für den Bildungsvorgang relevanten Bedeutungen eingetragen ist. Aber nicht nur wird in der Bildungstheorie diese
Landkarte
rekonstruiert, auch das Kind
liest
sie, sofern es die Handlungen und Situationen, an denen es teilnimmt und die es beobachtet,
versteht
. Was es verstanden hat und was in die Struktur seines eigenen Wissens- und Handlungsrepertoires Eingang findet, hat es
gelernt
.
[V53:8] Betrachtet man Bildung und Lernen auf diese Weise, dann entsteht ein eigentümlicher und für die Theorie pädagogischer Praxis wesentlicher Effekt: Der Leser, der Erwachsene, der Erzieher wird zum Nachdenken über seine eigenen Intentionen, seine eigene Praxis und die in ihr vollzogenen Konstruktionen der Wirklichkeit angeregt, ja genötigt. Die Kinder erscheinen weniger als mögliche Objekte erziehungstechnologischer Verfügung; sie treten vielmehr als mögliche Ko-Subjekte in einem – zunächst allerdings vorwiegend vom Erzieher zu verantwortenden – gemeinsamen und gemeinsam zu gestaltenden Handlungskontext auf. Was Karl-Otto Apel kürzlich schrieb –
[V53:9]
Das Interesse an einer solchen Erkenntnis besteht nur angesichts solcher Erkenntnis-
Objekte
, die man nicht nur von außen beobachten und eventuell durch Handlungen manipulieren kann, sondern mit denen als virtuellen Ko-Subjekten der Erkenntnis und des Handelns man sich über gute und schlechte Gründe des Handelns verständigen kann, ja verständigen muß
(in: Neue Beiträge zur Erklären-Verstehen-Kontroverse, Frankfurt 1979, S. 170 f.)
[V53:10] das wird in der Erziehungswissenschaft nun allerdings nicht etwa dadurch eingelöst, daß die Praxis nur noch paraphrasiert wird, daß nur noch Diskurse über praktische Handlungsgründe geführt werden, Bildungstheorie sich in der Explikation von Prinzipien und Kriterien erschöpft. Das Kind in der Theorie zum virtuellen Ko-Subjekt meines Handelns zu machen, das erfordert den Durchgang durch die Tiefenstruktur des kindlichen wie meines Handelns, durch das, was deren Gemeinsames ist, und damit eben auch durch die von guten oder schlechten Absichten relativ unabhängigen
Strukturen
einer Lebensform. Das wiederum macht eine distanzierte Position auch den eigenen Kontexten gegenüber erforderlich, benötigt den ,
ethno-methodologischen Blick
, der Parmentiers Analysen so erscheinen läßt, als hätte er sich dabei eines Mikroskops bedient.
[V53:11] Wenn nun aber Bildung und Lernen als Aneignung von und Umgehen mit Bedeutungen begriffen werden soll, dann muß |a 11|ihnen auf den Grund gegangen werden. Darin steckt das Programm einer pädagogisch-strukturalen Bildungs- und Lerntheorie, deren vorläufige Maximen so angedeutet werden könnten:
  • [V53:12] Der Vorgang der Bildung des einzelnen, einschließlich des darin enthaltenen Lernens, soll begriffen werden als die Aneignung bedeutungsvoller Strukturen des Wissens und Handelns.
  • [V53:13] Solche Strukturen sollen in ihren elementaren Mustern beschrieben werden, und zwar so, daß die kulturspezifisch fundamentalen semantischen Konventionen zur Sprache kommen (vgl. das erste Kapitel
    Lernen als Situationsdefinition
    ).
  • [V53:14] Diese semantischen Konventionen sollen ermittelt werden einerseits als die bildungsrelevanten Elementaria, die die jeweils individuelle Bildungsgestalt zu beschreiben erlauben; andererseits aber auch als Elementaria der Sozietät, innerhalb derer das Individuum seine Bildung erlangt (Parmentier ermittelt zunächst vorwiegend das Identische in den vielen bildungsrelevanten Situationen, besonders in den Kapiteln 3 und 5).
  • [V53:15] Bildungstheorie wäre damit immer auch Reflexion auf das, was das jeweils Wesentliche unserer Lebensform ausmacht und auf deren innere Differenzierung; eine solche Sichtweise könnte eine Kontinuität des praktischen Interesses entdecken bei sonst so verschiedenartigen Arbeiten wie denen von W. Flitner zur Rekonstruktion
    abendländlicher Gesittung
    , von N. Elias zum
    Prozeß der Zivilisation
    , von Ph. Ariès zur
    Kindheit
    als sozialer Erfindung und von M . Foucault zur
    Archäologie
    unseres Wissens oder auch bei den Versuchen Adornos, in den kunstvollsten ästhetischen Produktionen noch die semantischen Grundstrukturen einer Lebensform und deren Umgestaltung in der Aneignung aufzudecken.
[V53:16] Der alte, auch für die Pädagogik wichtig gewordene Streit, ob das
Erklären
oder das
Verstehen
vordringliche Aufgabe der wissenschaftlichen Tätigkeit sei, könnte damit gegenstandslos werden: Genese und Gestalt einer individuellen Bildung gilt dann als
erklärt
, wenn in der einzelnen und in der gemeinschaftlichen semantischen Struktur hinreichend Identisches ermittelt werden kann. Als
verstanden
gilt diese Struktur dann, wenn die nach ihrer Maßgabe Handelnden als meine virtuellen Ko-Subjekte akzeptiert werden können, und das heißt praktisch: daß nicht nur die Ursachen meines (pädagogischen) Handelns und des Bildungs|a 12|prozesses des Kindes Gegenstand der Erforschung und Reflexion, sondern auch deren Gründe Gegenstand der auf Handlungsentscheidungen bezogenen Argumentation sind.