Aussprache
zum Referat von Herrn
Die Essenz des Referates für die Sozialpädagogik könnte man in die Formel zusammenfassen, daß die Sozialpädagogik keine Bildungsinhalte, sondern konkrete Haltungen zu vermitteln hat. Das mag ein wichtiger Gesichtspunkt sein, aber ist diese Definition nicht schon ein Stück Vergangenheit? Meine Erfahrungen in der Berufsschule lassen mich fragen, nicht nur wie weit eine Industriearbeiterin normalerweise bildungsfähig ist, sondern auch, wie weit sie die Fähigkeit besitzt, sich mündige Haltungen anzueignen, also sich aktiv zu Situationen zu verhalten. Hört es nicht bei einem gewissen Maß Anpassungsfähigkeit auf?
Wir müssen die Sozialpädagogik von der Schulpädagogik klar unterscheiden. In der Schule geht es um Bildungsinhalte, um Stoffvermittlung. Die Sozialpädagogik zielt auf social learning. Ich sehe nicht, daß die Berufsschule gesellschaftliches Verhalten einübt.
Ich fürchte, wir sind mit dieser Unterscheidung nicht auf der richtigen Fährte. Schon die Sonderproblematik der Berufsschule verhindert eine so einfache Abgrenzung. Man denke an die Sonderklassen für Ungelernte, die mehr auf Verhaltenseinübung als auf Stoffvermittlung aus sind. Grundsätzlich muß man sagen: Überall, wo erzogen wird, dreht es sich um Inhalte. In der Schulpädagogik erscheinen diese Inhalte als kanonisierte Stoffe, als festgelegte Lehrpläne. Die Sozialpädagogik arbeitet ohne Kanonisierung von Inhalten. So gesehen gibt es eine Nähe der Berufsschule zur Sozialpädagogik.
Wenn Mündigkeit als Ziel gesetzt wird, ihre Entfaltung aber von Ort zu Ort verschieden ist, nur in der Auseinandersetzung mit der jeweiligen Praxis geschieht, müssen wir fragen, in welchen Begriffen zur näheren Bestimmung von Mündigkeit für die gegenwärtige Situation ein Konsens besteht.
Eine rein formale Übereinstimmung ist gegeben: Heute ist niemand mehr gegen Mündigkeit. Mündigkeit wird formal sogar als immer schon Erreichtes ausgegeben. Erst bei der inhaltlichen Bestimmung gehen dann die Meinungen auseinander.
Die reale Interpretation des Begriffs Mündigkeit ist gegenwärtig verschlungener als sie erscheint. Der Begriff läßt sich heute nicht unmittelbar definieren. Warum? Das Problem hat einen Hintergrund: Als die Möglichkeit der Emanzipation erfaßt und
Darin liegt allenfalls ein Prozeß zur Mündigkeit hin, nicht aber ein normativer Konsensus. Solange das Anstreben der Mündigkeit nicht bewußt veran|a 71|staltet und als solche bewußte Veranstaltung begriffen wird, steht ein normativer Konsens aus.
Aber wieso denn? Das ist doch nur der Unterschied zwischen dem reflektierten und dem unreflektierten Erzieher.
Der normative Konsens ist zunächst negativ. Man ist sich darüber einig, daß Unmündigkeit zu verwerfen ist. Daraus folgt die Aufgabe, die verdeckten Formen von Unmündigkeit kritisch zu erkennen und Positionen in Bezug auf die Gesellschaft zu erkunden und zu erproben.
Nein. Jede positive Bestimmung der Mündigkeit verhindert Mündigkeit. Sie kann nur negativ bestimmt werden.
Diese negative Beschränkung hat etwas Gefährliches. Man ist beständig praktischen Problemen ausgesetzt und muß tun, was praktisch notwendig ist, und das eben ist positiv. Der Begriff Mündigkeit zwingt zur historischen Analyse, was Mündigkeit verhindert. Aber ebenso erfordert die Analyse die Antwort, was Mündigkeit herbeiführen kann. Der Praktiker gibt positive Antworten, aber nicht als letztgültige – das allerdings würde Mündigkeit wieder verhindern. Erforderlich ist die Einsicht, daß der heute erarbeitete positive Inhalt morgen schon wieder überholt sein kann.
Die Begriffsfassung Mündigkeit ist gefährlich, weil sie auf einen erreichten Endzustand hindeutet. Konsequent müßte von Mündigwerden geredet werden.
Es ist zu unterscheiden, ob ich Mündigkeit als etwas Herstellbares erstrebe oder ob ich behaupte, es sei schon da. Worauf es ankommt, ist die Sensibilität für die Lage dieser Welt. Aus ihr heraus wird denkbar und wünschbar, den Zustand zu verändern. Ich muß sensibel dafür werden, daß es in der Welt Leiden gibt, und zu der Konsequenz kommen, daß dieses Leiden, weil unvernünftig, abgeschafft wird.
Aber ich kann das Leiden nur für diesen Augenblick beseitigen und vielleicht konkrete Ursachen eindämmen. Die Annahme, daß sich die Tatsache des Leidens in dieser Welt beseitigen läßt, ist nicht rational.
Darum brauchen wir den weiteren Begriff von ratio, wie ihn anbietet. Das Gefühl allein, daß Leiden nicht sein soll, tut’s nicht. Es muß rationalisiert werden. Bloß nicht nach unserem gewöhnlichen Begriff von Vernunft, der eingeschrumpft ist auf die Technik der gesellschaftlichen Möglichkeiten. Der Begriff von umfaßt die Entscheidung gegen den Dogmatismus wie die Entscheidung für, in Richtung auf eine Welt ohne Leid.
Ich stimme mit der Einschränkung zu, daß es sich hierbei um eine formale Utopie handelt, über die keine inhaltlichen Aussagen möglich sind. Die Entschiedenheit der Vernunft für eine Welt ohne Leid entläßt uns nicht aus der Forderung, praktische Maßnahmen zu ergreifen. Ich muß überlegen, was in der gegenwärtigen Situation der notwendige nächste Schritt ist. Ich muß also einer als defizient erkannten Situation eine positive Praxis entgegensetzen. Am Prozeß der geschichtlichen Veränderung |a 73|kann ich nur konkret mitwirken. Wir sollten besser nicht am dunklen Rätsel des Leidens weiterdenken, sondern uns an ein bescheideneres Beispiel halten. In der Kritik autoritärer Strukturen, Vorurteile usw. gerate ich auf ihren Zusammenhang mit der Familienstruktur. Die Entdeckung mag mich als Analytiker beglücken. Als Praktiker muß ich das Bessere in realisierbaren Empfehlungen aussprechen. Also: Wie soll Familienpolitik aussehen? Dieser Schritt muß konkret geschehen; es ist sinnlos, ihn als morgen schon überholt zu antizipieren und zu unterlassen. Ich bin der Geschichte nicht voraus, aber was ich soll und vielleicht kann, ist, etwas Zukunft realiter in sie hineinzuholen. Wohl mache ich einen Vorbehalt gegen mein eigenes Modell. Aber ohne es konkret in die Situation hineinzugeben, könnte man nicht handeln noch sagen, ob man nicht doch sachgerecht und gut, d. h. zum Besseren damit fährt.
Die Notwendigkeit eines Schrittes, die Vernünftigkeit eines Modells erweist sich aber nicht an ihrer Durchführbarkeit, sondern daran, ob sie zur Mündigkeit führen.
Diese Gesellschaftstheorie ist dauernd in Gefahr, in Geschichtsmetaphysik umzuschlagen. Wie alle Geschichtswissenschaft arbeitet sie mit Zielvorstellungen und hat es darum schwer, sich als Wissenschaft zu sichern. Hier hat die Theologie die Aufgabe der Kritik, zu erkennen, wo die Theorie die Grenzen ihrer ratio überschreitet. Denn es dürfen nicht durch dezidierte (= praktische) Vernunft wieder Irrationalismen einkehren.
Sehen wir uns die Art der Zielvorstellung bei an. Nirgends werden materiale Aussagen über die klassenlose Gesellschaft gemacht. Es bleibt bei formalen Bestimmungen, besonders deutlich in |a 74|den Jugendschriften: die Verdinglichung findet nicht mehr statt, Entfremdung wird aufgehoben. Erst durch die negative Formalbestimmung
Utopien sind für die Veränderung der Verhältnisse nötig. Aber haben sie nicht leicht den Gedanken zur Folge oder zur Voraussetzung, daß diese Verhältnisse auf ein – wie auch geartetes – Paradies zusteuern? Ist das nicht Vermessenheit? Steht uns das zu?
Wie verhalten wir uns faktisch zum Leid? Helfe ich aus Solidarität oder um der Erreichung eines Zukunftszustandes willen? Gewiß, man nimmt Leid, Armut, Mangel nicht wahr, ohne das Bessere zu kennen. Aber hilft man darum im Blick auf ein Fernziel oder hilft man, um zu helfen?
Wenn Leid da ist, will ich helfen, daß das Leid aufhört. Aber ich kann nur helfen, wenn ich eine Vorstellung davon habe, was Leid nicht ist, eine Vorstellung auch davon, was wirklich Leid aufhebt. – Hier werden Utopie und Geschichtsmetaphysik in der Tat zur Frage an die Theologie.
Die Vorstellung eines utopischen Zustandes ist so lange gefährlich, als man nicht bereit ist, auch diese Vorstellung zu korrigieren.
Wir Theologen haben inzwischen gelernt, daß uns die Utopie versagt ist, die uns entlastet. Statt|a 75|dessen sind wir wohl in der Gefahr, das Leid, den Mangel theologisch zu verklären. Aber wenn ich sage: Ich glaube an die Auferstehung der Toten, so hat das für mich praktische Konsequenzen. Mein persönlicher Einsatz, meine Mitwirkung sind gefordert, daß das Leid gemindert wird. Denn Auferstehung heißt, daß das Ende des Leides angefangen hat.
Herr sagt: Das Leid ist unvernünftig. Soll das heißen: Leid überhaupt ist unvernünftig? Oder: Unvernünftig sind die Verhältnisse, die es bewirken?
Herr übersieht, daß Leid, Glück usf. keine ungeschichtlichen Begriffe sind. Sie sind geschichtlich. Es handelt sich immer um die Realität des Leides in einer bestimmten Gesellschaft. Zum Beispiel wird seit der Aufklärung Leid an den zukommenden Gütern orientiert. So wird auch die Utopie abhängig von den geschichtlich jeweils vorhandenen Einsichten darüber, was Leid ist. Wenn die Begriffe historisch sind, kann die Gesamttheorie auch utopisch kein absolutes Ziel setzen oder suggerieren.
Dies Mißverständnis wollte ich auch vermieden wissen, indem ich mich für den Gang der geschichtlichen Entwicklung an anschloß. Folgende Punkte sind festzuhalten:
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a)[V19:28] Vernünftig ist nur das, was sich empirisch nachweisen läßt. (So folgerte aus der Natur und den Gesetzen Anweisungen zum Handeln.)
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b)[V19:29] Die Anwendung dieser Maxime des vernünftigen Denkens auf die Gesellschaft führt zu einer emanzipatorischen Bewegung (z. B. das Losstreben der Bauern von der Herrschaft der Großgrundbesitzer). Sie besagt, daß man seine eigenen |a 76|Verhältnisse kennenlernen, durchschauen und bewältigen kann. Unvernünftig wäre die Verhinderung dieses Prozesses. D. h. es ist vernünftig den Menschen emanzipiert zu denken.
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c)[V19:30] Daraus erwächst das Interesse an den Hindernissen der Emanzipation – mit dem entschiedenen Interesse, Emanzipation zu bewirken.
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d)[V19:31] Danach stellt sich das Problem: Wie kann der faktische emanzipatorische Prozeß mit dem Gedanken des emanzipierten Menschen so vermittelt werden, daß dieser Prozeß weitergeht. Antwort: Nicht nur durch Analyse, sondern durch Beseitigung der hemmenden Faktoren.
Nun, das ist eine begrüßenswerte Korrektur. Die weltgeschichtliche Perspektive hat sich gesundgeschrumpft. Zu leisten ist eine kulturimmanente Selbstauslegung der Kultur, in der wir uns nun einmal befinden. Gerade durch den ganz bestimmten kulturellen Horizont bekommen die Begriffe Konkretion. Vernünftigkeit, Leidbeseitigung – das will eine Präzisierung des Prozesses sein, in dem wir stehen, den wir uns in Entschiedenheit für unseren Kulturtyp bewußt machen, aus dem wir aber nicht einen gleichgerichteten, linearen Entwicklungssinn konstruieren. Kurzum: die Vernunft ist kulturspezifisch. Und insofern waren die Aufklärer im Recht, eine – formal – vernünftige Welt zu wollen.
Linear ist die technische Rationalität. Gefährlich für Konzeption? Die technische Rationalität in ihrer linearen Entwicklung schafft die Basis für die Überlebenschancen, schafft aber zugleich Hindernisse für die Mündigkeit.
Was verhindert Mündigkeit? Nicht die technische Rationalität. Vielmehr der falsche Schluß, daß es um Überleben geht – gegenüber totaler Selbstgefährdung. Aber dieser Schluß wäre unvernünftig. (Mollenhauer: Oder unsympathisch?) Die Positivisten sind daran nicht interessiert.
Uns steht noch der weitere Schritt bevor: Was verhindert Mündigkeit heute? Wir können ein verändertes Bild von Mündigkeit konstatieren. Aber ich bezweifle, ob der gesellschaftliche Konsensus über Mündigkeit wirklich besteht. Gibt es eine Grundrichtung der Erziehungswirklichkeit? Hat sie nicht teil an der ideologischen Differenzierung der Gegenwart?