Aussprache zum Referat von Professor Mollenhauer [Textfassung a]
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Aussprache
zum Referat von Professor Mollenhauer

[V18:1] Mollenhauer:
Ich könnte mir vorstellen, daß in der Diskussion bezweifelt wird, ob ich die geschichtliche Entwicklung im 19. Jahrhundert zutreffend wiedergegeben habe. Meiner eigenen Erwartung entgegen scheint mir, daß Wichern für unsere Fragestellung wenig Gewinn abwirft; er zeigt nur typische Gefahren. Es würde mich interessieren, ob Kirchengeschichtler, insbesondere Kenner Wicherns, anderer Auffassung sind als ich.
[V18:2] Bäumler:
Eine Verständnisfrage: Was verstehen Sie unter
Entlassung des theologischen Moments aus der pädagogischen Reflexion
? Sehe ich es richtig, wurde bei Humboldt das theologische Moment zugleich mit dem sozialen aus dem pädagogischen Denken entlassen. Hier ist heute der neuralgische Punkt zu sehen. Denn es wächst die Einsicht, daß das theologische Moment mit dem sozialen in Symbiose existiert.
[V18:3] Mollenhauer:
Dies Phänomen ist gesellschaftstheoretisch zu erklären. In grober Skizze läßt sich sagen: Etwa von 1750 – 1820 war das Verhältnis der pädagogischen Theorie zur Theologie marginal. Die Aufklärung, vor allem Rousseau, hielt Distanz. Pestalozzi verhielt sich betont distanziert gegenüber der Kirche. Dahinter steht für die Interpretation das Problem: Wie stellt sich die Entwicklung, die Erziehung des Menschen zu einem selbständigen Wesen dar angesichts einer gesellschaftlichen Verfassung, die solche Selbständigkeit eigentlich noch nicht erlaubt? Die Denker der pädagogischen Praxis mußten auf die soziale Realität Rücksicht nehmen, während die idealistische Theorie schon weitergeeilt war. Die Anfänge der Industrialisierung fielen in eine Zeit, in der |a 23|noch patriarchalische Vorstellungen, Bevormundung, Autoritätsdenken im Schwange waren. Pestalozzi wählte den Kompromiß in der Erkenntnis, daß die pädagogische Theorie an die Realität angeschlossen werden muß. Er sah in der Wohnstube eine bewährte Sozialform, die noch entwicklungsfähig sei. Auf dieser Linie kamen Pestalozzi wie Wichern dazu,
die Armen für die Armut zu erziehen
. Jean-Jacques Rousseau wie Humboldt entwarfen stattdessen reine (Humboldt sogar eine monistische) Theorie ohne sozialbedingte Praxis. Die kirchlich-pädagogischen Theorien begründen ihr Interesse an der Erhaltung der traditionellen Sozialordnungen damit, daß nur so Verkündigung (zur Rettung des einzelnen) möglich sei. Hier wären wieder Wichern, der Württembergische Pietismus, Palmer usw. zu nennen. Jedenfalls dachten kirchliche Pädagogen konservativ und begründeten das theologisch.
Entlassung des theologischen Moments
bedeutet praktisch Abkehr von diesem theologisch motivierten Konservatismus und Hinwendung zu einer auf das freie Individuum bezogenen Pädagogik.
[V18:4] Härter:
Dieses Rückfragen nach den Einwirkungen sozialer und wirtschaftlicher Gegebenheiten auf die Theologie ist wichtig und nützlich. Wir werden dadurch kritischer gegenüber möglicher Zeitbedingtheit unserer eigenen Theologie. Vielleicht gewinnen wir so einen Ansatz, um unseren Mitarbeitern Mut zu sozialpädagogischem Handeln zu machen. Es kommt doch darauf an, ihnen zu zeigen, daß sie das mit gutem Gewissen tun können.
[V18:5] Laerum:
Wicherns Arbeit wird heute gern als Vorbild für Sozialpädagogik in der Kirche herangezogen. Dabei hat es aber doch den Anschein, daß auch Wichern deutlich restaurativ ausgerichtet war. Müssen wir nicht hier mit kritischen Fragen einsetzen?
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[V18:6] Mollenhauer:
Wichern ist – von unserem heutigen Standpunkt aus betrachtet – einer der wenigen damaligen Pädagogen aus dem Bereich der Kirche, deren Denken heute noch verwertbar ist. Gänzlich unfruchtbar für uns heute sind – um ein krasses Gegenbeispiel anzuführen – die Jünglingsvereine der damaligen Zeit, die als Bildungsgut nur Bibel und Gesangbuch kannten oder billigten. Wichern versuchte doch wenigstens, die soziale Wirklichkeit in den Blick zu bekommen und von da aus eine pädagogisch-soziale Praxis zu etablieren. [V18:7] Ein für uns heute noch
moderner
Pädagoge unter den Zeitgenossen Wicherns war ein Württembergischer Pietist namens Karl Vötteler. Dessen Arbeiten (er begründete die Rettungshäuser) sind jedoch heute fast vergessen.
[V18:8] Jahn:
Richtig ist, daß Wichern so gut wie gar nicht revolutionär dachte, was die sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse anbelangt. Revolutionär war eher seine Praxis: Daß er überhaupt etwas zur Linderung der Not der sozial Benachteiligten unternahm. Richtig ist, daß er sich im wesentlichen darauf beschränkte, den Armen zum christlichen Leben in der Armut zu verhelfen. Dieser Ansatz wirkt heute noch in der Inneren Mission nach. In einem Punkt könnte ich bei Wichern einen revolutionären Zug aufweisen: In einer Rede aus dem Jahre 1848 forderte er die Assoziierung der Arbeiterschaft in eigenen Verbänden. Jedoch ging er nicht so weit, generell die Assoziierung der Armen zu fordern.
[V18:9] Mollenhauer:
Der Satz, daß die Armen in ihrem Stande bleiben sollen, findet sich in der Festrede Wicherns zur Begründung des Rauhen Hauses 1834. Mit der Rede von 1848 findet er dagegen entschiedenen Widerspruch |a 25|von Seiten der Kirche wegen der darin angesprochenen sozialen Bewegung.
[V18:10] Jahn:
In dem Referat kam die Jugendarbeit im beginnenden 20. Jahrhundert zu kurz. Beachtliche sozialpädagogische Ansätze gab es um diese Zeit etwa im Burckhardthaus in Berlin. Der Inhalt der sozialpädagogischen Bemühung war: Sie sollen Rechte haben, nicht: sie sollen Armut lernen. Nach einiger Zeit gaben dann freilich die Ausbildungsstätten die Devise aus: Verkündigung allein. Im Anfang hieß Sozialpädagogik: Fürsorge in Einheit mit Verkündigung. Man kann schwer sagen, daß die Entzweiung, die etwa im Nebeneinander (und streckenweise Gegeneinander) von Bibelschulen und Fürsorgeschulen zum Ausdruck kam, der gesellschaftlichen Situation und ihrer Forderung gerecht wurde.
[V18:11] Mollenhauer:
Das Bild der Jugendarbeit war überhaupt zwiespältig. Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts gab es kirchliche Aktivität in der Jugendarbeit. Dabei verbanden sich oft kirchliches Verantwortungsbewußtsein mit wilhelminischem Patriotismus, so daß diese Jugendarbeit nicht selten in ein ausgesprochen nationales Fahrwasser geriet, etwa wenn ganze Jugendgruppen ins Gelände zogen, um dort die Schlacht bei Sedan zu rekonstruieren. [V18:12] Andererseits richtete Günter Dehn, der zu den einzelnen gehörte, die analytischen Blick und Phantasie für neue Formen hatten, in Berlin ein Heim der offenen Tür ein, allein um jungen Industriearbeitern in ihren Lebensfragen Rede und Antwort zu stehen. Dafür erntete er allerdings den Vorwurf der Kirche, er erziehe zum Atheismus.
[V18:13] Laerum:
Wenn ich mir die
Pariser Basis
des CVJM ansehe, so finde ich darin keinen Hinweis auf einen sozialpädagogischen Auftrag evangelischer Jugendarbeit |a 26|gegenüber dem jungen Mann. Als Auftrag sieht die Pariser Basis es vielmehr an, das Reich Jesu Christi unter den jungen Männern auszubreiten. Kann man sagen, daß in Programmen von der Art der Pariser Basis sozialpädagogische Elemente in der Regel keine Rolle spielen, daß vielmehr fast immer nur von Verkündigung und Bekehrung die Rede ist?
[V18:14] Jahn:
Etwas anderes weiß ich von der Christlichen Pfadfinderschaft. Sie hat in einem vor ca. drei Jahren gefaßten Beschluß versucht, sozialpädagogische Arbeit theologisch zu motivieren. Allerdings ist die Begründung nicht besonders handfest.
[V18:15] Mollenhauer:
Ich finde es auffallend, daß Vorkämpfer evangelischer sozialpädagogischer Arbeit meist am Rande der Kirche standen. Man denke an Siegmund-Schulze, Karl Mennicke, Dehn. Ihre Abseitsstellung deutet doch darauf hin, daß die neuen Formen der Arbeit in der gesellschaftlich traditionellen Gemeindestruktur nicht zu realisieren sind.
[V18:16] Sudermann:
Wir müssen uns fragen, wie es kam, daß Wicherns gesellschaftskritische Ansätze – im Gegensatz zu seiner gesellschaftsdiakonischen Praxis – versandeten. Ich sehe hierfür im Augenblick zwei Gründe. Der eine ist: Wichern war ein Kind seiner Zeit und kein geborener Revolutionär. Zum anderen hatte er als das Gegenüber kirchlichen Handelns in der Welt nicht die Gesellschaft im Auge, sondern das Individuum. [V18:17] Es könnte sein, daß dieses einseitig individuell orientierte Denken uns heute noch belastet. [V18:18] Ich möchte aber noch eine andere Frage stellen: Kann man überhaupt grundsätzlich sagen, daß solches kirchliche Handeln legitim ist, das auf Änderung gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Verhältnisse hinzielt?
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[V18:19] Jahn:
Die Kirche wendet sich an den Einzelnen. Dieser kann allerdings nicht unabhängig von den sozialen Strukturen gesehen werden, in die er eingeordnet ist. Luther etwa erblickt solche Strukturen in den Ordnungsgefügen Welt, Staat, Familie.
[V18:20] Sudermann:
Dahinter steht Luthers Zweireichelehre. Richtig verstanden ist sie ein gutes Denkmodell. Verbreitet ist aber das Mißverständnis der Zweireichelehre als Zwei-Bereiche-Lehre: Hie Kirche – hie Welt. Dieses Mißverständnis manifestiert sich in der Forderung, daß die Kirche sich um den Bereich der
Welt
nicht zu kümmern habe. Eine praktische Konsequenz dieser Auffassung erlebte ich bei einer Diskussion in einem Leitungsgremium eines evangelischen Jugendverbandes. Ohne Erfolg versuchte ein Mitglied anzuregen, daß die Verbandsangehörigen zur Beteiligung am politischen Leben, z. B. durch Mitgliedschaft in Gewerkschaften und Parteien, ermutigt werden sollten. Nicht zu erschüttern war die Meinung: Wir sind für die Seele verantwortlich, der Rest ist Welt. Die Hartnäckigkeit dieses Bereichsdenkens hängt unmittelbar mit der Angst zusammen, man könne zu weltlich werden.
[V18:21] Barley:
Es hat den Anschein, daß auch das Referat von Professor Mollenhauer von der Trennung der zwei Bereiche ausgeht, indem es streng zwischen Verkündigung und Pädagogik trennt.
[V18:22] Mollenhauer:
Richtig verstanden bedeutet die Zweireichelehre einen Fortschritt. Sie macht es möglich, die ideologische Überfremdung der Theologie zu bekämpfen. Damit ermöglicht sie einen Schritt auf dem Wege zur Emanzipation der übrigen Wissenschaften von der Theologie.
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[V18:23] Sudermann:
Einen Rückschritt bedeutete dann aber die Zementierung der zwei Bereiche im 19. Jahrhundert.
[V18:24] Jahn:
Schon die lutherische Orthodoxie hat die Zweireichelehre verfälscht, indem sie sie verfestigte. So ist es heute notwendig, näher darzutun, was man meint, wenn man von Zweireichelehre spricht.
[V18:25] Laerum:
Wer das Buch von Otto, Scheuerl und Röbbelen
Neue Beiträge zum Thema Erziehung und Verkündigung
liest, gewinnt den Eindruck, daß das Verhältnis zwischen Verkündigung und Erziehung heute durchaus friedlich ist. Trifft das zu? Der praktische Vollzug in dem sich die Verkündigung ja durchaus als Erziehungswirklichkeit herausstellt, scheint nach wie vor für genügend Schwierigkeitsmomente aufzukommen.
[V18:26] Bäumler:
Wenn man es etwas vereinfacht darstellt, so gibt es in der Frage des Verhältnisses der beiden Disziplinen zwei einander entgegengesetzte Positionen. Typische Vertreter der beiden Positionen sind Frör und Otto. Frör begründet und verteidigt einen Erziehungsauftrag der Kirche. Nach Otto hat die Kirche nur einen Verkündigungsauftrag. Erziehung geschieht nach ihm nicht durch die Kirche, sondern allenfalls durch den einzelnen Christen. Die Auffassung Ottos kommt den Ansichten der Pädagogen entgegen.
[V18:27] Mollenhauer:
Scheuerl mit seiner phänomenologischen Einstellung hält die freundliche liberale Mitte. Im übrigen ist die Differenz OttoFrör für den Erziehungswissenschaftler schlicht irrelevant. Ob die Kirche einen Erziehungsauftrag hat, darüber hat der Erziehungswissenschaftler nicht zu befinden. Er kann nur feststellen, wer Erziehungsansprüche stellt, |a 29|und insbesondere wie derjenige, der solche Ansprüche stellt, tatsächlich erzieht. Er muß z. B. kritisch fragen, ob der erzieherische Anspruch einer Gruppe legitim (oder etwa ideologisch) begründet ist. Weiter – und darauf kommt es mir an – hat der Erziehungswissenschaftler die Pflicht zu fragen, ob die Erziehung sachgerecht geschieht, beispielsweise, ob der, der junge Industriearbeiter erziehen will, die soziale Wirklichkeit richtig im Blick hat. Pädagogisch sachgerecht – d. h., ob die Bedingungen der Jugend heute ernsthaft aufgenommen sind. Ihre Realität muß getroffen werden. Der edelste erzieherische Anspruch, der abseits oder unabhängig von der gesellschaftlichen Realität realisiert wird, kann die Gesellschaft gefährden. Die Erziehungswissenschaft nimmt also die Funktion einer gesellschaftsimmanenten Kritik wahr.
[V18:28] Bäumler:
Tatsächlich treffen wir auf einen gesellschaftlich neuralgischen Punkt: Aus der Auffassung Frörs ergibt sich als Konsequenz die Konfessionsschule, während aus Ottos Ansicht die Gemeinschaftsschule mit Religionsunterricht folgt. Eigentlich müßte Frör zu dem Ergebnis kommen, daß die Kirche der einzig legitime Erziehungsträger ist.
[V18:29] Mollenhauer:
Das wäre ein Fall, in dem die Erziehungswissenschaft Einspruch erheben müßte. Die Frage Konfessionsschule ja oder nein ist zunächst eine politische Frage, nicht eine Frage einer pädagogischen Entscheidung. Da sie jedoch faktisch zu pädagogischen Konsequenzen führt, müssen Pädagogen vor dieser Entscheidung gehört werden. Wir müssen heute feststellen, daß das Bildungswesen ganz besonders unter Profillosigkeit leidet. Es werden Kulturtechniken vermittelt, statt eines von der Gesellschaft distanzierten Bewußtseins. Dabei hat Erziehung in einer Demokratie ganz besonders den Schülern geistiges |a 30|Profil zu vermitteln. Empirisch feststellbar ist, daß die Konfessionsschulen dies im allgemeinen nicht leisten. Hier hat die Pädagogik die Sachgemäßheit zu verteidigen: Solange die Konfessionsschule kein hinlängliches geistiges Profil vermittelt, fehlt ihr die gesellschaftliche Legitimation. Denn gutes Funktionieren der demokratischen Gesellschaft bedarf der Profile. Das betrifft auch die Jugendverbandsarbeit.
[V18:30] Gerds:
Ist nicht eine reinliche Trennung der Kompetenzen von Kirche und Erziehung dadurch möglich, daß man begrifflich Klarheit schafft? Die Kirche versteht sich als Institution. Verkündigung kann als verbales Verhalten umschrieben werden. Demgegenüber begreift die Erziehungswissenschaft das Erziehungsgeschäft als Einwirkung eines Individuums auf ein Individuum. Das wird in der Sozialpädagogik besonders deutlich.
[V18:31] Mollenhauer:
Kirche
und
Erziehung
sind kein Gegensatzpaar. Die Pädagogik tritt ja nicht selbst als Erziehungsträger auf. Vielmehr ist das die bürgerliche Gesellschaft, in der die gesellschaftlichen Mächte verfassungsmäßig zusammengeschlossen sind. Daraus ergeben sich pädagogische Konsequenzen. Der Staat ist interessiert, Bürger zu erziehen. Die Kirche ist eine gesellschaftliche Macht, die ihre Interpretation des menschlichen Lebens für lebensnotwendig hält und darum interessiert ist, diese in Erziehung umzusetzen. Staat wie Kirche bedienen sich für ihre Ziele der Erziehungsinstitutionen.
[V18:32] Laerum:
Tatsache ist doch, daß die Kirche sich nicht auf verbale Verkündigung beschränken will und kann. Sie betätigt sich heute auf dem gesamten Feld der Erziehung einschließlich der Sozialpädagogik.
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[V18:33] Stetter:
Hier scheint mir ein konfessioneller Aspekt von Bedeutung zu sein: Die katholische Kirche ist – etwa in den Arbeitervereinen – wesentlich ungehemmter im sozialen Bereich aktiv geworden als die evangelische. Bei den Protestanten wirkt sich die Frage, ob Betätigung im sozialen Bereich nicht am
eigentlichen
Auftrag der Verkündigung vorbeigehe, als Hemmschuh aus.
[V18:34] Härter:
Ich möchte eine andere Erscheinung anführen, die möglicherweise eine Parallele zu dem eben genannten Phänomen darstellt: In der Frage des Religionsunterrichts an staatlichen Schulen gab es zunächst nur den katholischen Anspruch auf kirchlichen Unterricht. Die evangelische Kirche forderte ihrerseits den Religionsunterricht erst als Antwort auf die Ansprüche von katholischer Seite. [V18:35] Ein ganz anderes Problem sind soziale Defizite oder Anfälligkeiten bestimmter Berufszweige, ich denke besonders an die Hausgehilfinnen. Es ist ja bekannt, daß sich aus diesem
Stand
die meisten Prostituierten rekrutieren. Ich meine, wir sollten mehr daran denken, daß das Evangelium nicht nur dazu da ist, gesagt und gehört zu werden. Es ist Träger der Verheißung, daß menschliche Verhältnisse durch es umgestaltet werden. Im Blick auf die Dienstmädchen hieße das zum Beispiel, daß Christen diesen Mädchen helfen müßten, ihre Tätigkeit als einen Beruf und nicht nur als eine Beschäftigung anzusehen und auszuüben.
[V18:36] Sudermann:
Wir müßten einmal die Beweggründe klarstellen, aus denen heraus die Kirche sich sozialpädagogische Aufgaben stellt. Tut sie das um modern zu sein? Will sie ihren Einflußbereich erweitern? Ich meine, die Kirche nimmt damit einen ihr obliegenden Auftrag wahr, denn sie hat das Evangelium nicht nur zu |a 32|sagen und zu hören, sondern darzubringen. Solches Unternehmen kann allerdings nicht ohne Gesellschaftskritik abgehen. Aber die Kirche muß riskieren, das Mißfallen des Staates zu erregen.
[V18:37] Laerum:
Die theologische Motivierung ist wichtig, vielleicht ist sie überhaupt das Kernproblem, das uns gestellt ist. Ich möchte aber auch noch danach fragen, woher eigentlich in der Kirche die Anstöße für sozialpädagogische Aktivität gekommen sind. Nach meiner Beobachtung kamen sie zum geringsten Teil von Universitätstheologen. Wenige kamen aus der
verfaßten Kirche
. Die meisten Impulse gaben, wie mir scheint, einzelne Theologen und Praktiker der Jugendarbeit.
[V18:38] Jahn:
Mir scheint, es lassen sich zwei Gruppen von Motiven für sozialpädagogisches Handeln in der evangelischen Jugendarbeit herausschälen. Für die eine Gruppe ist kennzeichnend, daß man sozialpädagogische Aktivitäten (Prototyp: Tischtennisspiel) als
Angelhaken
versteht, durch den Jugendliche für das
eigentliche
Leben der Gruppe in verbaler Verkündigung und Seelsorge
gefangen
werden sollen. Die andere Motivgruppe ist von der Zeit des Neubeginns evangelischer Jugendarbeit nach 1945 her geprägt. Man will den Jugendlichen dabei helfen, sich in der demokratischen, industriellen, pluralistischen und konsumbezogenen Gesellschaft zurechtzufinden und einen verantwortlichen Lebensstil in Arbeitswelt und Freizeit zu entwickeln. Beim Neubeginn einer Arbeit, solange praktische Probleme vorherrschen, verstehen sich Vertreter beider Motivgruppen zunächst gut. Differenzen entstehen erst, wenn Anhänger der erstgenannten Gruppe die Frage stellen, wann und wie die begonnene Arbeit in die
Verbindlichkeit
und in die Gemeinde hineinführe.
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[V18:39] Mollenhauer:
Nun darf aber nicht übersehen werden, daß sozialpädagogische Aktivität der evangelischen Kirche nicht erst 1945 einsetzte. Lange vorher schon gab es Rettungsanstalten, Strafentlassenenfürsorge, Jünglingsvereine und vieles andere. Gedanklicher Ausgangspunkt dieser älteren kirchlichen Sozialpädagogik war die These, daß die konstatierten gesellschaftlichen Auflösungserscheinungen durch Areligiosität verursacht würden. Dem wollte die Kirche entgegenwirken. Ihr Ziel war die Wiederetablierung einer intakten Gesellschaft. Es ist zu fragen, ob dieser ideologisch-bürgerliche Ansatz heute noch wirksam ist. Ist er verschwunden oder ist er noch zu überwinden?
[V18:40] Jahn:
Für den Bereich der Inneren Mission würde ich das bejahen. Auf neuer Grundlage begannen nach 1945 insbesondere die Akademien und einzelne Zweige der Jugendarbeit besonders die offene Jugendarbeit.