Zur Geschichte und Problematik des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik [Textfassung a]
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Geschichte und Problematik der Beziehungen zwischen Theologie und Pädagogik

– Versuch einer Rekonstruktion des Referates –

Vorbemerkungen:

[V17:1] Ich werde Sie über einige Stationen in der Geschichte der Beziehungen zwischen Theologie und Pädagogik führen. Eine Einschränkung auf die Beziehungen zwischen Theologie und Sozialpädagogik ist darum untunlich, weil es keine isolierte Geschichte der Sozialpädagogik gibt. – Es versteht sich, daß insbesondere die kirchengeschichtlichen Aspekte nur in Verkürzung erscheinen können.

I.
Sinn und Erfordernis des Gesprächs zwischen Theologie und Pädagogik

[V17:2] Warum fragen wir nach dem Verhältnis von Theologie und Sozialpädagogik, warum fragen Wissenschaftler beider Disziplinen je nach dem Verhältnis ihrer Fachrichtung zu der anderen? Eine vorläufige Antwort kann die Feststellung geben, daß beiden das Interesse an der Bestimmung des Menschen gemeinsam ist, und zwar in einer doppelten Richtung. Beide fragen einmal: Wodurch läßt sich der Mensch bestimmen = beschreiben? Daraus folgt Empirie, positive Wissenschaft. Die andere Frage lautet: Wozu ist der Mensch bestimmt? Dieser spekulativen Frage nehmen sich Metaphysik und Theologie an. Gleichwohl wäre die Diskussion zwischen beiden Fachrichtungen schon zu Ende, wenn der Einwand von Delekat zuträfe, daß Theologie und Pädagogik verschiedene Denkweisen hätten. Delekat ist jedoch entgegenzuhalten:
  1. 1.
    [V17:3] Es mag sein, daß das Denken der Theologie sich auf ein anderes Objekt richtet als das Denken der Pädagogik. Daraus folgt jedoch nicht, daß auch |a 15|die Denkweise verschieden ist. Wäre sie es, so wäre eine Verständigung zwischen beiden unmöglich.
  2. 2.
    [V17:4] Auch die Verschiedenheit der Objekte theologischen und pädagogischen Denkens, nämlich der Mensch als spekulatives und als empirisches Objekt, bestand nicht immer. Sie dürfte ein Produkt des Säkularisierungsprozesses sein. In der Folge der Säkularisierung emanzipierte sich die pädagogische Reflexion aus den theologischen Lehrgebäuden. Eine weitere Folge der Säkularisierung war das Heraustreten der Erziehung aus der organisatorischen und inhaltlichen Beherrschung durch die Kirche. Das Erziehungssystem entwickelte sich zunehmend in verschiedenen Bereichen und Trägerschaften.
  3. 3.
    [V17:5] Diese Emanzipation der Pädagogik von der Theologie wurde vorangetrieben durch die Entwicklung der positiven Wissenschaften.
  4. 4.
    [V17:6] Vor-neuzeitlich haben wir also eine Konvergenz von theologischer und pädagogischer Problematik festzustellen.
  5. 5.
    [V17:7] Eine Wiederherstellung dieser Konvergenz in der Gegenwart ist nicht möglich, schon die moderne Differenzierung des Erziehungssystems verhindert sie, jedoch öffnet sich als neues Feld für Versuche einer Gesamtbetrachtung und einer Überwindung des Auseinandertretens von Empirie und Spekulation die Anthropologie, an der beide Disziplinen gleichermaßen interessiert sind.

II.
Stationen der Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik

  1. 1.
    [V17:8] Im Zeitalter des Humanismus
    entwickelte sich eine säkulare Erziehungslehre (Erasmus u.a.). Bei der Ausbildung dieser Lehre |a 16|knüpfte man an vor-theologische Erziehungsvorstellungen der Antike an. Konzentrationspunkt eines autonomen pädagogischen Denkens war die Altphilologie (F. A. Wolf), die zuerst die Freiheit der Kritik großzog. Jedoch wurde zu dieser Zeit die Loslösung von der Theologie noch nicht vollzogen.
  2. 2.
    [V17:9] Comenius
    Soweit bereits vor Comenius Tendenzen zur Emanzipation der Pädagogik von der Theologie aufgetreten waren, wirkte ihnen das theologisch-pädagogische System des Comenius bewußt entgegen (so will es jedenfalls das neuere Comeniusverständnis). Ausgangspunkt des Comenius war eine theologisch-pädagogische Theorie des Lebenslaufs. Comenius deutete das Leben als einen Ablauf von sieben Schulen. Gott ist der Erzieher. Soweit Menschen und Institutionen erzieherisch tätig sind, sollen sie dem Erziehungswerk Gottes Raum schaffen. Das ist ihre untergeordnete Funktion. Diese Denkweise hatte auch Auswirkungen auf das Verständnis der Reformatoren vom Unterricht. Statt der bis dahin beherrschenden Gelehrtenschule schufen Luther und Melanchthon eine Volksschule, jedoch nicht mit der Begründung, allgemeines Wissen zu verbreiten, sondern weil sie jedermann das Bibellesen ermöglichen wollten. Dementsprechend sah der Stoffplan solcher Volksschulen aus: er beschränkte sich im wesentlichen auf Lesen, Katechismus und Gesang. Diese Auffassung vom Unterricht herrschte noch bis gegen Ende des achtzehnten Jahrhunderts vor; symptomatisch dafür ist z.B., daß auch der Hauslehrer der adeligen Familien regelmäßig Theologe war.
  3. 3.
    [V17:10]
    Locke, Francke, Rousseau
    Schon zur Zeit des Comenius, besonders aber bei Locke, begann mit der Durchsetzung des erfahrungswissenschaftlichen Denkens die Emanzipation der |a 17|Pädagogik. Das Problem der Bestimmung des Menschen wurde aus der
    empirischen
    Erziehungslehre entlassen. Sie entwickelte Theorien des vorbildlichen gesellschaftlichen Betragens (z.B. Gentleman-Erziehung). Der Religionsunterricht übernahm die Funktion einer Morallehre.
    Dieser Emanzipationstendenz, also dem Auseinandertreten von Empirie und Spekulation (zur Wesensbestimmung), versuchten zwei Gegenbewegungen entgegenzuwirken.
    1. a)
      Der Pietismus, insbesondere August Hermann Francke, unternahm den Versuch, die Systeme der Pädagogik und der Theologie zur Deckung zu bringen. Alle Erziehungsleistungen wurden unter dem Begriff der Pädagogik zusammengefaßt. Auf der anderen Seite forderte der absolutistische Merkantilismus jener Zeit religiöse Zucht und Erwerbsfleiß (ora et labora)! Fleiß wurde als religiös begründete Tugend verstanden. Aufgabe des Bürgers war es, ein
      nützliches Glied der menschlichen Gesellschaft
      zu sein.
    2. b)
      Auch Rousseau unternahm den Versuch, die aufgetretenen Tendenzen der Trennung von Pädagogik und Theologie zu überwinden, und zwar durch seinen Begriff von der Natur des Menschen. Die Natur des Menschen verstand Rousseau nicht biologisch, sondern in umfassendem Sinne; darüber darf auch seine äußerlich biologische Argumentationsweise nicht hinwegtäuschen. Das Erziehungsdenken des neunzehnten Jahrhunderts geht auf Rousseau zurück. Im Gegensatz zum Pietismus versuchte Rousseau jedoch nicht, die Pädagogik wieder der Philosophie unterzuordnen, vielmehr versetzte ihn sein autonomes Philosophieren über die Natur des Menschen in die Lage, Theologie und Pädagogik gleichgeordnet seinem philosophischen System einzuverleiben. Damit war die Befreiung des |a 18|pädagogischen vom theologischen Denken gewonnen. Die Beschäftigung mit der Verkündigung konnte er endgültig aus der pädagogischen Reflexion entlassen.
  4. 4.
    [V17:11] Humboldt
    Die Gedanken Rousseaus nahm Humboldt auf. Er entließ nach der theologischen auch die soziale Komponente aus der Bildungstheorie. Die kirchliche Lehre wird zum Schulfach domestiziert und in den Fächerkanon eingegliedert. Das Schulfach
    Religion
    hat nicht die Aufgabe der Verkündigung, sondern die einer Tugendlehre für die sozial Schwachen, die sich nicht selber zu Autonomie und Mündigkeit aufschwingen können.
  5. 5.
    [V17:12]
    Schleiermacher
    Historisch gesehen entwickelte Schleiermacher die erste systematische pädagogische Theorie in wissenschaftlicher Absicht. Kennzeichen seines Systems ist die vollständige Emanzipation der Pädagogik und eine säkulare Denkweise. Berührungspunkte zwischen Theologie und Pädagogik ergaben sich bei ihm allenfalls in der Ethik. Jede Ethik ist für ihn ein historisches Phänomen. Auch Verkündigung und kirchliche Lehre sind ein solches historisches Phänomen, da sie zum Formenbestand der Kirche als einer Lebensgemeinschaft gehören. In der gegenwärtigen Gesellschaft gestaltet sich nach Schleiermacher die Erziehungswirklichkeit, indem die Erziehungsträger, als da sind Kirche, Staat, geselliger Verkehr, Wissenschaft, einander ergänzen. Die Ethik ist völlig individualistisch konzipiert, d.h. sie erhebt keinen Anspruch auf Anerkennung durch einen Dritten. Darum sind auch aus ihr keine systematischen Folgerungen für die Pädagogik zu gewinnen.
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    Schon bei Schleiermacher treten zwei Gesichtspunkte auf, die uns heute noch beschäftigen: Einmal die Frage nach der Bestimmung des Menschen, die rein innerpädagogisch begründet werden muß. Zum anderen die Frage nach dem Erziehungsauftrag der Kirche in dieser Welt und ihrer gesellschaftlichen Verfassung und nach der pädagogisch sachgerechten Realisierung dieses Auftrags.
  6. 6.
    [V17:13]
    Pädagogik und Kirche im 19. Jahrhundert
    Im neunzehnten Jahrhundert dient die Religion dem Fürsten als Mittel zur Machtentfaltung im Zeichen der Restaurationspolitik und der sozialen Reaktion. Die Religion ist als Herrschaftsinstrument brauchbar, darum gibt es die
    geistliche Schulaufsicht
    ; und Religionsunterricht gilt als Mittel im Klassenkampf.
    Von einem ganz anderen Ansatz her faßte Wichern den Verkündigungsbegriff ins Auge. Seine Verkündigung diente der Rettung der Verwahrlosten.
    Trotz dieses gegensätzlichen Ansatzes ähneln sich die Denksysteme der Restauration und Wicherns in einem wesentlichen Punkt. Für beide ist das christliche (Familien-) Leben ein moralisches Reservoir gegen säkulare = industriegesellschaftliche Auflösungserscheinungen, die von beiden Seiten beobachtet werden. Die Vertreter der Kirche und der Inneren Mission nahmen beide für sich in Anspruch, eine bessere Gesellschaft darzustellen. Hier wirkt eine romantische Gesellschaftsanschauung nach, und man kann nur bedauern, daß Wichern in seiner Theologie nicht das Wesentliche von Schleiermacher aufgenommen hat. Zur Charakterisierung der pädagogischen Situation im neunzehnten Jahrhundert kann man pointiert formulieren: Es handelt sich um die Geburt der |a 20|Sozialpädagogik aus dem Geist der Restauration die sich für progressive evangelische Verkündigung hielt. Ideologisch verhärtet zeigt sich dieses kirchliche Denken über Pädagogik in dem Satz: Nur die Kirche kann richtig erziehen. Wenn wir zur Kenntnis nehmen, daß auf diesem Boden die ersten Ansätze für Sozialpädagogik erwuchsen, so verstehen wir, daß die Sozialpädagogik auch heute noch mit restaurativen Vorstellungen zu kämpfen hat.

III.
Neubeginn des Gesprächs zwischen Theologie und Pädagogik im 20. Jahrhundert

[V17:14] Wenn man die Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik bis zum Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts verfolgt hat, leuchtet einem ein, daß die beiden Disziplinen einander am Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts zunächst nichts zu sagen hatten. Die Pädagogik wenigstens will
Erziehungswissenschaft
werden, rein deskriptiv-analytisch verfahren, nicht normativ sein oder für Normen in Anspruch genommen werden. Erste Ansätze für ein neues gemeinsames Gespräch ergaben sich in den zwanziger Jahren, als die Kritik am reinen Positivismus einsetzte. Hinzu kommt, daß beide Fachgebiete versuchten, Anregungen aus der Existenzphilosophie aufzunehmen und zu verarbeiten. So ergab sich von neuem als gemeinsames Problem die Frage nach der Bestimmung des Menschen, aus der Sicht der Pädagogik die Frage nach den anthropologischen Voraussetzungen des praktischen Erziehungsgeschäfts.
[V17:15] Ausführlich behandelt wurde das Verhältnis zwischen Theologie und Pädagogik in der Diskussion über das Wesen des Religionsunterrichts. Das Gespräch zwischen Theologie und Sozialpädagogik beginnt erst neuerdings. Allen Disziplinen, |a 21|für die die Anthropologie irgendeine Bedeutung hat, ist es aufgegeben, im gemeinsamen Gespräch gemeinsame Sachfragen zu klären.
[V17:16] Es gibt keine schlüssige und allgültige anthropologische Theorie, aber gerade die Aspektgebundenheit zwingt im Dienst der Erkenntnis der Sache zum Gespräch über die (gemeinsamen oder gegenteiligen) Voraussetzungen.
[V17:17] Die pragmatische Frage wird sein: Wie soll sich die Kirche in der gegenwärtigen Gesellschaft pädagogisch darstellen? Die Diskussion hierüber ist noch nicht eröffnet. Erste Ansätze finden sich im neueren Schrifttum zur Jugendarbeit. Der Bereich der Jugendarbeit ist dafür (vielleicht das fortschrittlicheste) Erfahrungsfeld.