Zur Geschichte und Problematik des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik [Textfassung a]
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Zur Geschichte und Problematik des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik

– Disposition des Verfassers –

[V16:1] A) Warum wird ein
Gespräch
zwischen Theologen und Pädagogen verlangt?
  1. 1.
    [V16:2]
    Das scheinbar beiden gemeinsame Interesse an der Bestimmung des Menschen
    Wodurch läßt sich der Mensch bestimmen, beschreiben, feststellen? – empirische Frage.
    Wozu ist er bestimmt, was ist seine Bestimmung, sein Auftrag etc.? – spekulative Frage.
    Diese beiden Fragen auseinandergefallen:
    1. a)
      positive Wissenschaften
    2. b)
      Metaphysik, Theologie.
  2. 2.
    [V16:3]
    Delekat:
    Verschiedene Art zu denken
    Statt dessen: Denken über verschiedene Objekte:
    1. a)
      das empirische Objekt Mensch
    2. b)
      das transzendentale Objekt
  3. 3.
    [V16:4] Die Scheidung ist neuzeitlich: Säkularisierung. Entwicklung der Wissenschaft / Entwicklung des Erziehungssystems / Entwicklung der pädagogischen Reflexion.
  4. 4.
    [V16:5]
    Die vor-neuzeitliche Konvergenz beider Probleme (empirisch – spekulativ) wird wieder belebt an einem Punkt der erziehungstheoretischen Reflexion: Anthropologie.
    Wenn auch keine Konvergenz der Aussage-Inhalte, so doch Konvergenz der Frage-Richtung.
    (Dazu am Schluß)
    Für uns aber wichtig: der praktische Vorgang der Differenzierung des Erziehungssystems
    Erziehende Mächte
    .
  5. 5.
    [V16:6] Im folgenden geschichtliche Exposition des Problems.
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[V16:7] B) Stationen der Geschichte des Verhältnisses von Theologie und Pädagogik
  1. 1.
    [V16:8]
    Der Humanismus (Rabelais, Erasmus, Montaigne) Entstehung einer säkularen Erziehungslehre; neutral gegen theologische Prämissen.
    Studium der Antike. Körperpflege. Weltmännische Tugenden. Bewußte Anknüpfung an antike Tradition: Antike Literatur als Instrument pädagogischer Autonomie.
    Auch später:
      Montaigne (Plutarch)
      Rousseau (röm. Staat, Sparta, Plutarch)
      Humboldt
      Gymnasium (Altphilologie)
  2. 2.
    [V16:9]
    Dies aber war noch eingebettet in ein theologisches Gesamtverständnis des Menschen. Zeigt sich bei Comenius.
    Die theologische und pädagogische Frage werden wieder zusammengebracht.
    Die pädagogische Theorie geht aus von einer theologischen Theorie des Lebenslaufes: 7 Schulen des Menschen, in pansophischem System. Erziehung ist ein Werk des Glaubens, Instrument der Verkündigung, und zwar ungeteilt.
  3. 3.
    [V16:10]
    Daraus folgt: Entstehung der Schule als Instrument religiöser Zurüstung. Glaube und Tugend.
    Fächerkanon der Schule.
    Die Lehrer: Geistliche (Küster, Pfarrer, Kandidaten)
  4. 4.
    [V16:11]
    Daneben aber neue Entwicklung: Die Erfahrungswissenschaft (Ansätze bei Comenius).
    Locke.
    Rein säkulare Erziehungslehre. Das Problem der Bestimmung des Menschen ist suspendiert. Theologische Elemente fast völlig verschwunden. Religion nur noch in der Form der Tugendlehre.
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    Diese Gestalt von Pädagogik vor allem im Bereich der weltmännischen Bildung. Auch hier Vorläufer im Humanismus:
    Castiglione, Montaigne, Gentleman-Erziehung. In dieser Situation entstehen zwei disparate Formen des pädagogischen Denkens, die für unsere gegenwärtige Lage folgenreich geworden sind:
  5. 5.
    [V16:12] Der Pietismus Franckes: Theologie und absolutistischer Merkantilismus, pessimistische Anthropologie. Bete und arbeite. Verbindung von Verkündigung, religiöser Zucht, Erwerbsfleiß.
  6. 6.
    [V16:13]
    Rousseau. Das in der humanistischen und der erfahrungswissenschaftlichen Erziehungslehre Auseinandergetretene (Bestimmung des Menschen ⟶ säkulare Erziehungspraktiken) wird von Rousseau wieder zusammengedacht ⟶ Natur des Menschen.
    Dies der eigentliche
    Sündenfall
    der Pädagogik ⟶ Autonomie ⟶ Erziehungswissenschaft.
    Hier – bei Rousseau – eigenständiges Philosophieren in pädagogischer Absicht über die Bestimmung des Menschen.
    Effekt: Befreiung von Theologie und Kirche. Das Problem der Verkündigung wird endgültig aus der pädagogischen Reflexion entlassen. Es gibt nur noch Nachläufer.
  7. 7.
    [V16:14]
    Dieser Ansatz weitergeführt in
    Deutscher Bildungstheorie (Humboldt).
    Begriff der Menschheit.
    Mit dem theologischen Moment wird zugleich das soziale entlassen: konsequent, denn im sozialen Verkehr stellt sich das christliche nach wie vor dar.
    Verkündigung wird zum Schulfach, zur Tugendlehre für den Schwachen.
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  9. 8.
    [V16:15]
    Dies systematischer bei Schleiermacher. Pädagogik ein vollständig emanzipiertes und säkularisiertes System. Rest bleibt nur in Ethik, aber historisch interpretiert. Auch Verkündigung taucht in der pädagogischen Reflexion als historisches Phänomen auf: Kirche als
    Lebensgemeinschaft
    neben bürgerlicher Gesellschaft, geselligem Verkehr und Wissenschaft. Damit sind die Bedingungen dessen aufgezeichnet, was sich heute als
    Gespräch
    zwischen Theologie und Pädagogik darstellt:
    1. a)
      das spekulative Problem der Bestimmung des Menschen oder die Frage nach der Möglichkeit einer innerpädagogischen Begründung dessen, was Erziehung sein soll.
    2. b)
      Das Problem des Erziehungsauftrages der Kirche in unserer Welt und der pädagogisch sachgerechten Realisierung dieses Auftrages.
  10. 9.
    [V16:16]
    Es bleibt noch Einiges zu sagen über die
    Nachhut
    im 19. Jh.
    1. a)
      Religion als Herrschaftsinstrument (Strobl)
    2. b)
      Innere Mission als Rottung der Verwahrlosten (Württemb. Pietismus, Wichern).
    In beiden Fällen: Christliches Leben als moralisches Reservoir. Man kann sagen: Die frommen Wünsche Wicherns haben sich ebenso wenig erfüllt wie die unfrommen Absichten Strobls.
    Aber hier: Einsatz der Sozialpädagogik;
    Wichern: Repräsentant einer besseren Gesellschaft, Moral etc. Faktisch: eine erzieherische Körperschaft; ideologisch: erzieherischer Gesamtauftrag. Evangelischer Auftrag verbunden mit romantischer Sozialtheorie: Geburt der Sozialpädagogik aus dem Geiste der Restauration.
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[V16:17] C) Die Endlage
[V16:18] Die entstandene Feindschaft zwischen Theologie und Pädagogik, gemildert dadurch, daß Pädagogik zur Einzelwissenschaft wurde (eben Erziehungswissenschaft). Rein beschreibend-analytisch, nicht mehr normativ.
  1. 1.
    [V16:19]
    So konnte das Gespräch erst entstehen an einem anderen Punkt: der Kritik am Positivismus. – Hier kam existenzphilosophisches Spekulieren in der Pädagogik der Theologie entgegen: Gespräch über die anthropologischen Voraussetzungen der Erziehung (nicht der Theorie).
    Schwierigkeit: wer sich in dieses Gespräch einläßt, setzt sich dem Vorwurf aus, die Wissenschaft zu verlassen.
  2. 2.
    [V16:20] Die anthropologischen Voraussetzungen in der pädagogischen Reflexion, d.h. der Theorie: keine schlüssige Theorie des Menschseins. Gegenseitige Kritik.
  3. 3.
    [V16:21] Die pragmatische Frage wurde indessen auf den Religionsunterricht abgedrängt.
  4. 4.
    [V16:22] Das Problem Schleiermachers, wie Kirche als Ganzes sich pädagogisch zureichend darstellen kann, ist wissenschaftlich zu bearbeiten, ohne sich dem spekulativen Verdacht auszusetzen. Hier aber sind die Probleme noch offen.