[V32:1] Die vorliegende Arbeit von Gerda Kasakos betrifft ein
fundamentales Problem der Erziehungstheorie. Mit dem Begriff der
„Antizipation“
oder
„Vorwegnahme“
faßt
sie einen Sachverhalt zusammen, der schon in den klassischen spekulativen
pädagogischen Systemen der Neuzeit immer wieder thematisiert und mit dem die
Einsicht postuliert wurde, daß alles Erziehungsgesehen als notwendig konstitutive Bedingung die Darbietung von
„Kultur“
enthält: moralische Standards, kulturelle Inhalte,
instrumentelle Techniken, Problemlösungsstrategien für kommunikatives Handeln,
Muster des kulturell entwickelten Verhaltens überhaupt usw. Solche
Präsentationen sind in einem doppelten Sinne für das Kind
„vorwegnehmend“
: sie greifen über den je erreichten Entwicklungsstand des
Kindes, seine aktuellen Kompetenzen hinaus und sie führen die kulturell
etablierten Lernziele als konkrete Momente in das pädagogische Feld ein. Damit
werden zwei Funktionen erfüllt; zum einen werden auf diese Weise historisch
relevante Lernprozesse überhaupt erst ermöglicht, zum anderen werden die
Lernprozesse im Sinne der institutionalisierten kulturellen Normen kanalisiert
bzw. diszipliniert. Beides geschieht nach Maßgabe gesellschaftlich eingespielter
Relevanzkriterien, nach denen Bedeutsames von nicht oder weniger Bedeutsamen
geschieden wird.
[V32:2] In diesem Zusammenhang nun spielt die
„Zeitperspektive“
eine entscheidende Rolle. Sie ist eine
strukturbestimmende Dimension sowohl der je aktuellen pädagogischen Darbietung
wie auch der vom Kind erworbenen Orientierungen, seiner Relevanzkriterien. Die
Zeitperspektive verknüpft sich mithin mit der objektiven wie auch mit der
subjektiven Komponente des Erziehungsgeschehens: sie determiniert (objektiv)
durch die pädagogische Darbietung von formalen wie inhaltlichen Aspekten
vorweggenommener Lebenswirklichkeit die
„opportunity structure“
von Individuen und sozialen Gruppen, Schichten,
Klassen – sie determiniert ferner (subjektiv) die Verhaltensorientierungen und
Deutungsmuster des Individuums, seine
„Definition von
Situationen“
. Da die Zeitperspektive nicht nur ein konstitutives Moment
der objektiven gesellschaftlichen Bedingungen (realen Zukunftschancen sozialer
Gruppen) und der subjektiven Definitionen von Situationen und Lebensperspektiven
durch den Heranwachsenden, sondern auch der Vermittler in diesem Vorgang, der
Erwachsenen, ist, definiert die Zeitperspektive einen Aspekt der doppel|a 8|ten spezifischen Abhängigkeit des Kindes im pädagogischen
Feld: der Abhängigkeit von der objektiv und materiell gegebenen
„opportunity structure“
seiner sozialen Lage und von den
Situationsdefinitionen, die ihm von den erziehenden Erwachsenen dargeboten
werden. Das Problem der Zeitperspektive vermag daher die eigentümlich
pädagogische Paradoxie zu thematisieren: wie Selbständigkeit gebildet werden
kann unter der Bedingung von Abhängigkeit – jedenfalls dann, wenn unterstellt
werden darf, daß
„Selbständigkeit“
und
„differenzierte Zeitperspektive“
miteinander verbundene Phänomene
meinen.
[V32:3] Hier macht sich nun ein Defizit der Forschungslage bemerkbar, das in
der vorliegenden Arbeit dokumentiert wird. Vermutlich durch ihre vorwiegend
psychologische Orientierung verursacht, liegt der Schwerpunkt der referierten
Untersuchungen auf dem subjektiven Faktor: auf der Zeitperspektive als Dimension
faktischen individuellen Verhaltens der Erzogenen, faktischer individueller
Deutungsmuster. Der objektive Kontext, die
„opportunity structure“
, die realen Lebenschancen und die durch die
soziale Lage vorgegebenen Perspektiven, die
„Lebenswelten“
der Gruppen und Klassen, ihre je besonderen Inhalte und Relevanzkriterien
bleiben demgegenüber – wie der Bericht von Gerda Kasakos herausarbeitet – kaum oder gar nicht
thematisiert. Der Bericht ist deshalb, besonders in seinen kritischen Teilen,
als die Vorbereitung einer Grundlage für die erziehungswissenschaftliche
Erforschung dieses Fundamentalproblems zu verstehen.
[V32:4] Trotz der Konkretisierungen an Beispielen schulischer Bildungsprobleme
macht die Arbeit deutlich, daß es sich um Vorgänge handelt, die in den Bereich
einer allgemeinen Bildungs- oder Erziehungstheorie gehören. Das tritt
insbesondere dann hervor, wenn man sich – über die hier vorgelegten
Darstellungen hinaus – klar macht, daß die Strukturierung der zeitlichen
Dimension im Vorstellungs-, Orientierungs- und Verhaltensrepertoire des
Heranwachsenden nur auf dem Wege konkreter Interaktionen möglich ist.
„Zeitperspektive“
müßte also nicht nur als Dimension der
objektiven Lage und der subjektiven Situationsdefinitionen, sondern auch als
Dimension des pädagogischen Interaktionsgeschehens selbst bestimmt werden. In
einem anderen theoretischen Zusammenhang hat der symbolische Interaktionismus
und haben die Ansätze zu einer Theorie kommunikativen Handelns mindestens
Vorarbeiten dazu erbracht. So sind die Begriffe
„taking the role of the other“
,
„Metakom|a 9|munikation“
,
„reflexive Kommunikation“
und
ähnliche Begriffe derart, daß sie ohne Berücksichtigung der Dimension zeitlicher
Perspektiven nicht hinreichend bestimmt werden können.
„Taking the role of the other“
beispielsweise, also das
Antizipieren-Können von Verhaltensreaktionen des Kommunikationspartners, ist
eine Kompetenz, die notwendig eine zeitlich-perspektivische Orientierung
enthält. Hier scheint mir ein Schwerpunkt weiterer erziehungswissenschaftlicher
Forschung liegen zu müssen, die sich sowohl mit den Merkmalen einer
differenzierten Zeitstruktur pädagogischer Kommunikationen wie auch mit ihren
objektiven Möglichkeitsbedingungen und ihren gesellschaftlichen Folgen zu
befassen hätte. Die Ausarbeitung des Konzeptes
„Zeitperspektive“
könnte sich dann in der Tat als Schlüsselproblem einer
emanzipatorischen Erziehungstheorie erweisen.