Vorwort [zu Wilkiewicz, Das Diskursmodell von Jürgen Habermas] [Textfassung a]

Vorwort

[V59:1] Bald zwanzig Jahre sind vergangen, seit die Frankfurter
Kritische Theorie
von Pädagogen überhaupt zur Kenntnis genommen wurde. Ungefähr zehn Jahre sind vergangen, seit die Veröffentlichungen von Jürgen Habermas eine nun schon größere Zahl von Erziehungswissenschaftlern dazu anregten, nicht nur in gelegentlichen Bezugnahmen, sondern in systematischem erziehungstheoretischen Interesse
Frankfurter
Theoreme aufzugreifen und im Hinblick auf den Erziehungs- und Bildungsprozeß, wie auch auf die Grundannahmen der Erziehungswissenschaft, zu durchdenken. Die Auslegung des
Diskurs
-Begriffs durch Habermas spielte dabei einige Jahre lang die wichtigste Rolle. Diese für das Selbstverständnis der deutschen Erziehungswissenschaft außerordentlich wichtige Phase wird in der hier von L. A. Wilkiewicz vorgelegten Untersuchung zuverlässig dokumentiert. Mehr noch: es wird – wenngleich die diskutierten pädagogischen Autoren sich nur selten ausdrücklich aufeinander beziehen – so etwas wie ein impliziter Diskurs der Erziehungswissenschaft jener Jahre zum Vorschein gebracht. Heute allerdings scheint es mir, als hätten wir in jener Diskussion einiges vergessen: ein eigentümlicher Rationalismus überwog und ließ unbeachtet, was an
innerer Natur
im Bildungsprozeß des Kindes und damit im Erziehungsverhältnis enthalten ist, ließ für die weitere Erziehungsgeschichte die Möglichkeit einer kontinuierlichen Entwicklung zum Besseren vermuten, sah eine verantwortbare Erziehung vornehmlich durch restringierende Sozialverhältnisse, weniger aber durch die radikale Selbstzerstörung unserer Lebensformen bedroht. Das ergänzt jene Diskussionen durch neue Einsichten, rückt sie zurecht, macht sie aber nicht falsch. Gerade deshalb ist dieses Buch heute ein studierenswertes Stück Wissenschaftsgeschichte der Pädagogik, das zu lesen heute vielleicht gewinnbringender sein kann als 1976; als noch der
Diskurs
in aller Munde war, und das sich in dieser historischen Distanz in seiner argumentativen Qualität bewährt.
[V59:2] Göttingen, Juni 1982