Einführungsreferat
[V13:1] Wir haben in dieser Arbeitsgruppe scheinbar über terminologische
Fragen zu sprechen. Wenn es sich jedoch wirklich nur um terminologische
Fragen, d. h. Fragen einer zu definierenden Fachsprache handeln würde, wäre
unsere Aufgabe nicht allzu schwer. Die Schwierigkeit bestünde dann nur
darin, die zweckmäßigsten Ausdrücke zu finden, die nicht nur in ihrer
sprachlichen Form plausibel wären, sondern auch bei der Mehrheit der
Beteiligten eine Aussicht auf ausschließliche Verwendung hätten. So ist es
aber nicht. Die in der Jugendhilfe verwendeten Ausdrücke sind nicht nur
Kunstworte im Zusammenhang einer Fachsprache, sondern auch geschichtliche
Begriffe, in die die Geschichte der Institutionen oder Erziehungsfelder, für
die sie gebraucht wurden, wie die Deutungen und Meinungen derer, die sie
gebrauchten, eingegangen sind. An einem Wort wie Jugendfürsorge hängt in
gewisser Weise die Geschichte des Fürsorgewesens in Deutschland, an einem
Wort wie Jugendarbeit hängt das Selbstverständnis der Jugendverbände und
anderer freier Träger, an einem Wort wie Jugendpflege hängt die Funktion und
die Rolle, die das Jugendamt im Laufe seiner Geschichte gespielt hat.
[V13:2] Diese Schwierigkeit – so meine ich – muß uns veranlassen, nicht in
technischen Problemen des Sprachgebrauchs steckenzubleiben, sondern die
Sache selbst, das Problem zu erörtern, das hinter solchen Unterscheidungen
steht, nach dem Sinn solcher Unterscheidungen zu fragen und danach, ob nicht
der geschichtliche Prozeß, der Fortschritt dessen, was wir Jugendhilfe
nennen, uns zu einer Revision der Unterscheidungen und der gebrauchten
Ausdrücke veranlassen sollte. Dazu möchte ich Ihnen nun einige Überlegungen
vortragen.
Das Jugendhilfe-Problem in unserer Gesellschaft
[V13:3] Die Einführung der Jugendwohlfahrt oder Jugendhilfe in unser
Erziehungssystem bedeutet einen höchst bemerkenswerten Einschnitt in der
|a 138|Erziehungsgeschichte, vielleicht den wichtigsten nach der Einführung der Schule. Was damit im 19. und dann vor allem mit dem Jugendwohlfahrtsgesetz in unserem Jahrhundert geschehen ist, ist
schwerlich zu überschätzen. In der Jugendhilfe nämlich hat sich das
kritische pädagogische Bewußtsein unserer Gesellschaft dokumentiert.
Seit in der Aufklärung der Begriff des mündigen, emanzipierten,
gleichberechtigten Bürgers hervorgebracht wurde, seitdem dadurch dem
Begriff der Menschenwürde ein gesellschaftlich präzisierbarer Inhalt
gegeben wurde, seitdem wir also imstande sind, uns dem
gesellschaftlichen Status quo gegenüber kritisch zu verhalten, ist unser
pädagogisches Bewußtein mißtrauisch geworden im Hinblick auf die Frage,
ob denn die gesellschaftlichen Verhältnisse, so wie sie sind, ein
menschenwürdiges Heranwachsen der jungen Generation schon von sich aus
gewährleisten, ob denn das Recht des Kindes schon nur durch das
Vorhandensein einer sich demokratisierenden Gesellschaft gesichert sei.
Seitdem haben wir einen besseren Begriff vom gesunden Aufwachsen unserer
Kinder als den, den die wirklichen Verhältnisse uns anbieten.
[V13:4] Aus diesem Bewußtsein entstand das, was man zunächst
Jugendwohlfahrt nannte und was wir heute, etwas glücklicher gewählt,
Jugendhilfe nennen. Alle Maßnahmen der Jugendhilfe haben infolgedessen
dieses gemeinsam: Sie bewahren die Heranwachsenden oder geben ihnen die
Sicherheit des sozialen Verhaltens, sie fördern ihre soziale
Beweglichkeit, damit ihre Selbständigkeit und Kritikfähigkeit, sie
ermöglichen ihre gesellschaftliche Mündigkeit. Richtiger allerdings wäre
es, wenn wir sagten, die Jugendhilfe beabsichtige, dieses zu erreichen, da ja bekanntermaßen über
ihren Erfolg und die Frage der eingesetzten Mittel und Methoden viel
Streit möglich ist.
[V13:5] Da nun Familie und Schule nicht – und schon gar nicht die
Arbeitsstelle – in der Lage sind, diese in unserer Gesellschaft erhöhte
Form von Soziabilität in der Heranwachsenden-Generation hervorzubringen
oder doch auf sie hin zu wirken, ist die Jugendhilfe die dritte große
Säule in unserem Erziehungssystem. Ihr wesentliches Thema ist der
soziale Konflikt in allen seinen Varianten, sofern er im Leben der
jungen Generation auftaucht und damit die Diskrepanz zwischen der
Wirklichkeit der Gesellschaft und ihrer besseren Möglichkeit zum
Vorschein kommen läßt. Diese Merkmale sind nichts der Jugendhilfe
äußerlich Anhaftendes, sondern sie konstituieren sie. Konstitutiv ist
für die Jugendhilfe deshalb auch immer – soweit ich sehe, ist das stets
in allen ihren Formen der Fall gewesen – ein sozialkritisches
Moment.
|a 139|
Der Sinn der Unterscheidungen
[V13:6] Indessen droht diese gemeinsame Basis verlorenzugehen oder gar
nicht erst gewonnen zu werden vor den überlieferten Differenzierungen
der sozialpädagogischen Arbeit. Es wäre einfach, wenn man, ohne auf
energischen Widerstand zu stoßen, sagen könnte, die verschiedenen
Bereiche der Jugendhilfe unterscheiden sich etwa wie sich die verschiedenen Schulgattungen voneinander
unterscheiden. Die Unterschiede in der Jugendhilfe scheinen jedoch
einschneidender zu sein.
[V13:7] Das drückt sich zunächst in einem unterschiedlichen
Selbstverständnis der verschiedenen Sektoren der Arbeit aus. Die Jugendarbeit – hier vor allem die
Jugendverbandsarbeit – hat sich formiert als ein verbindliches
pädagogisches Angebot engagierter Gruppen der Gesellschaft. Die Jugendpflege, jedenfalls dort, wo sie von
Jugendarbeit unterschieden wird, versteht sich als ein freies Angebot
von Bildungsmöglichkeiten durch die kommunalen Behörden, bei dem
wahrscheinlich der Schutzgedanke keine unwesentliche Rolle spielt. Die
Jugendsozialarbeit wiederum ist als eine
pädagogische Notstandsmaßnahme konzipiert und will eine Erziehungshilfe
in Situationen sein, in denen die Jugendlichen durch Arbeit und Beruf
gefährdet sind. Die Jugendfürsorge schließlich
versteht sich als ein Komplex pädagogischer Maßnahmen, der sich auf
akute Erziehungsmängel bezieht, ein Komplex zudem, der durch die wenig
treffende Bezeichnung
»Fürsorge«
an den Rand der
Erziehungstätigkeit gerückt wird und dadurch in die Nachbarschaft von
Einrichtungen gerät, die nur schwerlich noch als Erziehungseinrichtungen
zu bezeichnen sind; von Jugendfürsorge zu sprechen halte ich ohnehin
eher für irreführend als für klärend.
[V13:8] Die Charakterisierungen nun sind ebensowohl richtig wie falsch.
Ich würde von keiner behaupten, daß sie allgemein zutreffend wäre. Aber
sie scheinen doch einen Trend in den Konzeptionen anzudeuten.
[V13:9] Diese Unterscheidungen nun werden scheinbar zu Unterschieden in
der pädagogischen Struktur, wenn man bedenkt, daß es sich ja auch je um
präzis abgrenzbare Institutionen handelt, und daß ferner auch methodisch
scheinbar gravierende Verschiedenartigkeiten bestehen. So arbeitet die
Jugendarbeit – in den Verbänden – mit einer besonders strengen Form von
Gruppenpädagogik, die Jugendpflege mit freien Gesellungsformen und
ad-hoc-Veranstaltungen, die Jugendsozialarbeit mit Heimen, die
Jugendfürsorge mit einem differenzierten Heim- und
Einzelfallhilfesystem.
|a 140|
[V13:10] Die differenzierenden Grenzen zwischen den so konstatierbaren
Bereichen der Jugendhilfe drohen zu isolierenden Grenzen zu werden, wenn
man als unterscheidendes Merkmal noch die verschiedenen Publikumsgruppen
hinzunimmt. Die heranwachsende Generation wird dann aufgeteilt und einer
je spezifischen Jugendhilfe-Einrichtung zugewiesen: Man spricht dann
davon, daß die Jugendarbeit und Jugendpflege es mit der Gruppe der
sogenannten normalen Jugendlichen, die Jugendsozialarbeit es mit der
Gruppe der wegen gesellschaftlicher Notstände besonders Hilfsbedürftigen
und die Jugendfürsorge es mit den akut Gefährdeten, Schwererziehbaren
und Verwahrlosten zu tun habe.
[V13:11] Spätestens an dieser Stelle zeigt sich, daß unsere Begriffe
nicht nur bisweilen unzweckmäßig sind, sondern unter Umständen eine
entschiedene Gefahr für die Fruchtbarkeit der Erziehungsarbeit sein
können.
[V13:12] Dies gilt um so mehr, als ich vermute, daß es noch eine objektive gesellschaftliche Bedingung gibt, die
die innere Einheit der Jugendhilfe erschwert: die Tatsache, daß die
verschiedenen Institutionen der Jugendhilfe schichtenspezifisch sind.
Neben dem Problem der sozialen Schichtung ist es aber auch die
verschiedene geschichtliche Herkunft der Institutionen, die
Verschiedenheit des berufsbezogenen Ethos, die Überfremdung der
Jugendhilfe dadurch, daß in ihr die Verwaltung eine viel größere Rolle
spielt als etwa in der Schule, was hier zu nennen wäre – Probleme, die
nicht durch Diskussion allein, wahrscheinlich nicht einmal vornehmlich
durch sie, zu lösen sind.
Der Unsinn der Unterscheidungen
[V13:13] Mir scheint, daß die Entwicklung der Jugendhilfe und ihrer
Theorie, der Sozialpädagogik, an einem Punkt angelangt ist, an dem es
nicht mehr sinnvoll ist, an den genannten Unterscheidungen festzuhalten,
vielmehr der sozialpädagogische Fortschritt durch sie aufgehalten
wird.
[V13:14] Es zeigt sich nämlich, daß sowohl in den Methoden wie auch in
der Erziehungsabsicht und der pädagogischen Haltung der beteiligten
Erzieher eine Übereinstimmung entsteht, die es nicht mehr rechtfertigt,
irgendeines der Jugendhilfegebiete als das gleichsam eigentlich
sozialpädagogische zu bezeichnen. Ich kann mir keine Maßnahme der
sogenannten Jugendfürsorge denken, die nicht ebenso pädagogisch – und
eben nicht fürsorgerisch – zu nennen wäre, wie etwa die Leitung einer
Jugendgruppe.
|a 141|
[V13:15] Und wenn die pädagogische Eigenart der Jugendhilfe durchgehend
darin besteht, 1. Planung und Einrichtung erziehender Institutionen zu
sein, 2. Erziehungshilfe für den einzelnen und 3. Gruppenpädagogik zu
sein, dann kann ich mir ebenfalls keine Maßnahme der Jugendhilfe denken,
die dieses nicht enthielte. Über die ideologisch sehr verdächtige
Einteilung der jungen Generation in bestimmte Grade von Erziehbarkeit
und ihre Aufteilung auf die Einrichtungen der Jugendhilfe wissen Sie
sicherlich mehr zu sagen als ich. Jugendhilfe geschieht überall, ob im
Heim, im Haus der Jugend, in der Jugendgruppe, in der
Erziehungsbeistandschaft nach den gleichen Prinzipien. Was sich von
Einrichtung zu Einrichtung verändert, ist der jeweils besondere Einsatz
der zweckmäßigsten Methoden, so wie auch der Lehrer bei der Behandlung
eines Gedichtes oder der Prozentrechnung in der Grundschule oder der
Oberschule nach den je besonderen Bedingungen der Situation
verfährt.
Der neue Erziehungsbegriff
[V13:16] Was indessen immer wieder besondere Schwierigkeiten bereitet,
ist die Tatsache, daß sich einerseits am Rande der traditionellen
Erziehungstätigkeit immer neue Maßnahmen und Verhaltensweisen ansiedeln,
so daß scheinbar das, was wir im engeren Sinne des Wortes Erziehung
nennen, nach den Rändern der Jugendhilfe hin – wenn ich so sagen darf –
sich verflüchtigt und daß andererseits das, was in einem bestimmten Sinne
Sozialarbeit heißt, auch in der Jugendhilfe einen Ort hat. Zum letzteren
möchte ich sagen, daß Sozialarbeit ein Begriff ist, der nicht von der
Art der Tätigkeit, der Sache her gesehen Zusammengehöriges zusammenfaßt,
sondern in dem das Selbstverständnis eines Berufes formuliert ist.
Sachlich gesehen umfaßt der Begriff durchaus Verschiedenartiges, wie
Erziehung, wie Fürsorge im institutionellen Sinne des Wortes, wie
Sozialpolitik usw. Er ist gleichsam die säkularisierte Form der alten
caritativen Hilfeleistung. Ihn auf die Jugendhilfe anzuwenden, erscheint
mir unzweckmäßig, da Jugendhilfe ausschließlich Erziehung ist bzw. unter
erzieherischem Aspekt geschieht, wohingegen die Einrichtung eines
Altersheimes möglicherweise etwas entscheidend anderes ist. Es erschiene
mir deshalb sinnvoller, ihn für die nichtpädagogische soziale Hilfe zu
reservieren oder – auch das wäre mir recht – ihn gleichsam als den
Oberbegriff zu verwenden. Keinesfalls aber kann er identisch sein mit
Jugendhilfe oder Sozialpädagogik, |a 142|da diese
beiden Begriffe sich ausschließlich auf erzieherische Sachverhalte
beziehen.
[V13:17] Nun ist aber im Hinblick auf das, was noch Erziehung zu nennen
ist, ein Streit denkbar. Mir scheint – und das ist ein wesentlicher
Beitrag der Jugendhilfe bzw. der Sozialpädagogik zum Fortschritt unseres
Erziehungssystems –, daß in den sozialpädagogischen Erziehungsfeldern
eine wesentliche Veränderung des Begriffs Erziehung stattgefunden hat,
die eigentlich nur noch formuliert zu werden braucht. Erziehung ist
längst nicht mehr nur die unmittelbare persönlich lenkende Einwirkung
eines Erwachsenen auf einen jungen Menschen. In der Jugendhilfe sind
Verfahren entstanden, die diesen Begriff von Erziehung erweitern und
damit eine Position erreichen, die viel genauer den pädagogischen
Erfordernissen unserer gesellschaftlichen Realität entspricht. Das zeigt
sich beispielsweise in der Einrichtung von Kinderspielplätzen – die ja
doch wohl zur Pädagogik gehören –, in der Praxis von Heimen der offenen
Tür, in den Beratungseinrichtungen verschiedener Art, nicht zuletzt aber
im Jugendamt selbst als einer Stätte der Erziehungsplanung. Die von mir
genannten Ränder der Jugendhilfe bedeuten also nicht, daß der
erzieherische Gehalt in ihnen sich verdünnt und zunehmend verflüchtigt,
sondern daß der Begriff von Erziehung sich verändert hat und wir
anachronistisch verfahren würden, wenn wir sie aus dem Bereich der
Erziehungsphänomene ausschließen oder auch nur sie als nicht mehr
eigentlich erzieherisch ansehen würden. Jugendhilfe – und über sie
hinaus noch einiges, das gesetzlich nicht festgelegt und vielleicht auch
gar nicht festlegbar ist – ist Sozialpädagogik in dem Sinne, in dem
überhaupt irgend etwas den Namen Pädagogik verdient.
Diskussion
[V13:18] Die Diskussion zeigte in den verschiedenen Erwartungshaltungen der
Teilnehmer, vor allem aber in dem sehr unterschiedlichen Sprachgebrauch, daß
eine Klärung der hier anstehenden Probleme außerordentlich nützlich ist.
Dabei wurden vor allen Dingen die folgenden Fragen hervorgehoben:
[V13:19] 1. Ist Sozialpädagogik dasselbe wie gesellschaftliche Erziehung?
Die Erörterungen ergaben, daß es wenig zweckmäßig ist, diese beiden Begriffe
gleichlautend zu verwenden, da kein erzieherischer Bereich |a 143|denkbar ist, in dem nicht von gesellschaftlicher Erziehung
gesprochen werden könnte. Sozialpädagogik würde, wenn wir sie als
gesellschaftliche Erziehung verstünden, nicht mehr das bedeuten, was wir mit
diesem Worte meinen: einen bestimmten Bereich pädagogischer Aufgaben, der
besondere Methoden und Einrichtungen erforderlich macht.
[V13:20] 2. Ist Sozialpädagogik so zu verstehen, daß in ihr auch die Hilfe
für Erwachsene mit eingeschlossen ist? Hier besteht die Schwierigkeit, einen
Erziehungsbegriff verwenden zu müssen, der auch auf Erwachsene sinnvoll
angewandt werden kann. Mindestens aber kann man sagen, daß alle Maßnahmen,
die zwar direkt sich auf Erwachsene (z. B. Familie) richten, indirekt aber
die Förderung der jungen Generation zum Zwecke haben, zur Sozialpädagogik zu
zählen sind.
[V13:21] 3. Ist Sozialpädagogik
»Notstandspädagogik«
? Es
scheint gefährlich zu sein, den Begriff der Notstandspädagogik als
charakteristisch für das Feld der Jugendhilfe beizubehalten. Jugendhilfe
entstand geschichtlich zwar angesichts konkreter sozialer Notstände. Es wäre
aber wenig sinnvoll und würde der Jugendhilfe einen falschen Sinn
unterstellen, wenn man sie insgesamt als etwas bezeichnen würde, was nur für
einen Teil ihrer Maßnahmen charakteristisch ist.
[V13:22] 4. Sind die Unterschiede der verschiedenen Bereiche der
Jugendhilfe wirklich so geringfügig, daß man sie vernachlässigen kann? Es
scheint außer Zweifel zu sein, daß die verschiedenen Institutionen der
Jugendhilfe jeweils spezifische Kenntnisse und besondere Maßnahmen
erfordern. Es wäre deshalb falsch, die Konturen der einzelnen Bereiche der
Jugendhilfe völlig zu verwischen. Indessen besteht auch die Gefahr einer
Aufsplitterung in viele separate Theorien, in denen vergessen wird, daß
allen Jugendhilfemaßnahmen ein gemeinsamer positiver Auftrag zugrunde liegt.
Eine alle Maßnahmen verbindende sozialpädagogische Theorie schließt aber
keineswegs aus, daß auch sie von einem bestimmten Punkt an differenziert
wird und sich dann jeweils den besonderen Erfordernissen der einzelnen
Bereiche der Jugendhilfe zuwendet.
[V13:23] Im weiteren Verlauf der Diskussion, besonders nach der Aufteilung in kleinere Gruppen, machte sich
bemerkbar, daß unter den verschiedenen Teilnehmergruppen je annähernd
einhellige Positionen vertreten wurden. So waren deutlich drei
Meinungsgruppen zu konstatieren: 1. die Lehrkräfte von Ausbildungsstätten,
2. diejenigen, die aus stark spezialisierten Einrichtungen kommen, und 3.
diejenigen, die aus wenig spezialisierten Einrichtungen kommen. Im Hinblick
auf das im Vor|a 144|dergrund stehende Problem – die
Unterscheidung von Jugendpflege und Jugendfürsorge – machte sich diese
Gruppierung besonders bemerkbar. Die der dritten Gruppe zugehörenden
Teilnehmer waren in der Regel geneigt, die innere Einheit der Jugendhilfe
stärker hervorzuheben und die Differenzen der verschiedenen Bereiche gering
einzuschätzen. Die der zweiten Gruppe zugehörenden Teilnehmer dagegen waren
eher geneigt, an deutlichen Unterscheidungen festzuhalten und den Sinn einer
gemeinsamen Theorie in Frage zu stellen. Selbst wenn man sich im Hinblick
auf das sogenannte Fernziel – die Soziabilität des mündigen Bürgers –
einigte, blieb doch zu bedenken, ob die Unterschiede in den sogenannten
Nahzielen, die Differenzierung der Aufgaben im Hinblick auf die einzelnen
Fälle der Praxis, die Situationsbedingtheit der Maßnahmen nicht doch von
schwerwiegender Bedeutung sind.
[V13:24] Um die Frage der Einheitlichkeit und der erforderlichen
Differenzierungen zu klären, schien es nützlich, eine Skala aufzustellen, auf der sich sämtliche
Maßnahmen und Einrichtungen der Jugendhilfe eintragen lassen. An
dem einen Ende der Skala würden diejenigen Erziehungsfelder, Situationen
oder Maßnahmen stehen, in denen die Gesellschaft von ihrem Interesse an
integrierten Bürgern den geringsten oder keinen Gebrauch macht: etwa die
freien Gesellungsformen, ohne institutionelle Bindungen; erzieherische
Absicht spielt hier keine Rolle. Am anderen Ende der Skala wären diejenigen
Einrichtungen einzutragen, in denen die Gesellschaft ihr Interesse an der
Soziabilität am nachdrücklichsten durchsetzt: im Jugendstrafvollzug.
Zugleich würde die erzieherische Intensität vom einen zum anderen Ende der
Skala zu- bzw. abnehmen; ebenso der Grad an Freiwilligkeit.
[V13:25] Auf dieser Skala würden die Einrichtungen der Jugendhilfe im
engeren, d. h. gesetzlichen Sinne des Wortes nur einen Ausschnitt
darstellen, weshalb es sinnvoll ist, für die gesamte Skala eine andere
Bezeichnung, eben
»Sozialpädagogik«
zu verwenden. Aus der
Skala ginge ferner hervor, daß alle auf ihr eingetragenen Einrichtungen
ihren Ausgangspunkt bei den Problemen des sozialen Lernens nehmen. Aus ihr
ginge schließlich hervor, daß die Unterschiede der verschiedenen Maßnahmen
und Institutionen nur gradueller, nicht aber prinzipieller Natur sind.
[V13:26] Eine sehr entscheidende Schwierigkeit ergibt sich offensichtlich
aus der Konkurrenz der beiden Begriffe Sozialpädagogik
und soziale Arbeit. Es läßt sich einwenden, daß die Tätigkeit der
höheren Fachschulen für Sozialarbeit mit dem Begriff Sozialpädagogik nicht
zureichend bezeich|a 145|net werden kann, infolgedessen der
Begriff soziale Arbeit hier besser am Platze wäre. Es ist jedoch zu fragen,
ob diejenigen Berufe, zu denen in diesen Schulen ausgebildet wird,
tatsächlich anders als erzieherische Berufe denkbar sind. Indessen ist
jedoch anzumerken, daß – führten wir endgültig den Begriff Sozialpädagogik
in diesem allgemeinen Sinne ein – keine volle Übereinstimmung bestünde mit
dem internationalen Sprachgebrauch, obschon nicht zu übersehen ist, daß
gerade der internationale Gebrauch des Wortes
»sozial work«
seinen Sinn nicht vom Erziehungsauftrag her empfängt,
sondern von der sozialen Hilfe gerade in ihren nichtpädagogischen
Formen.
[V13:27] Aus den Erörterungen ergab sich, daß doch eine Annäherung an eine
allen Jugendhilfemaßnahmen gemeinsame und grundlegende
Theorie, die als sozialpädagogische Theorie zu bezeichnen wäre,
möglich ist. Das zeigte besonders der Hinweis, daß der Partner der
Jugendhilfemaßnahmen, der heranwachsende Mensch, an jeder Stelle der
genannten Skala auftauchen und auftreten, daß ein und derselbe heute auf dem
einen und morgen auf dem anderen Abschnitt jener Skala in das Blickfeld der
Jugendhilfe treten kann. Besonderen Nachdruck erfährt dieser Optimismus im
Hinblick auf eine gemeinsame Theorie durch die Erfahrung, daß die Methoden
beliebig in allen Bereichen der Jugendpflege angewandt werden können, daß es
keinen Bereich gibt, der eine der Methoden ausschließlich verwendet, und daß
schließlich auch in der Fürsorgeerziehung und im Jugendstrafvollzug mit den
Mitteln der Jugendpflege gearbeitet wird.
[V13:28] Als gemeinsame Aufgabe aller Einrichtungen der Jugendhilfe kann
deshalb die besondere Form von Soziabilität gelten, die heute durch die
traditionellen Erziehungseinrichtungen Familie, Beruf und Schule nicht mehr
gleichsam von selbst entsteht, sondern zu ihrer Verwirklichung besonderer
Erziehungshilfe bedarf. Es gibt keine Jugendhilfeeinrichtung, die nicht
vornehmlich dieses Ziel intendiert. Jede leistet darin einen speziellen
Beitrag, in je besonderer institutioneller Form, in je besonderer
Kombination der möglichen Methoden, mit je spezifischen Teilzielen. Dabei
ist nicht zu übersehen, daß das Feld der Jugendhilfe im Grunde ein Feld
voller Übergänge ist, daß sich zwar einzelne Aufgaben – insbesondere die
gesetzlich vorgeschriebenen – deutlich voneinander scheiden lassen, daß aber
das wirkliche Erziehungsgeschehen der Praxis – im Umgang mit den
Heranwachsenden, in Gruppen, Heimen, Beratungssituation – immer analoge
Formen aufweist, ein im Grunde als Ganzes zu betrachendes Geschehen ist.
|a 146|
[V13:29] Zu fragen ist allerdings, ob eine in dieser Richtung zu
konzipierende Theorie der Sozialpädagogik als Theorie der Jugendhilfe die
entscheidende Bedeutung, die das
»Menschenbild«
in der
Erziehung spielt, nicht leichtfertig vernachlässigt, ob sie selbst sich
nicht auf diese Weise an die Stelle eines solchen
»Menschenbildes«
setzt bzw. es unkontrolliert in ihren Sätzen
voraussetzt. Diesem Einwand kann nur begegnet werden, wenn die
sozialpädagogische Theorie einen Konsensus aller an der Jugendhilfe
Beteiligten annehmen kann oder herzustellen in der Lage ist. Sie bliebe dann
in dem Sinne vorläufig, in dem sie einräumen müßte, daß die Weltanschauungen
und Konfessionen sie im Sinne des je besonderen Engagements modifizieren und
ihrer eigenen Praxis zur Verfügung stellen.
[V13:30] Die
»Einheit der Jugendhilfe«
kann also keine
Einheit der Weltanschauungen und Konfessionen sein. Auch die Jugendhilfe
bleibt so pluralistisch, wie es die Gesellschaft im ganzen ist. Die Einheit
ist vielmehr die eines Praxiszusammenhanges, in dem es allgemeine Probleme,
allgemeine Methoden und eine allgemeine Aufgabe gibt: nämlich der jungen
Generation soziales Lernen zu ermöglichen, nicht als eine unter anderen (wie
in der Schule), sondern als die für die Jugendhilfe konstituierende
Funktion. Daraus ergibt sich nicht nur eine Kritik an der zweifelhaften
ministeriellen Praxis, das Feld der Jugendhilfe in heterogene Ressorts
aufzuteilen, sondern auch die Frage, ob auf längere Sicht eine gemeinsame
sozialpädagogische Ausbildung aller in der Jugendhilfe Tätigen nicht dieser
Praxis am angemessensten ist.