Soziale Konflikte und ihre Bedeutung für die Jugendkriminalität –
Erziehungswissenschaftliche Bemerkungen
Zusammenfassende Thesen
[032:1] 1. In zunehmendem Maße zeigt sich, daß
„Konflikt“
zu
den wichtigsten Begriffen gehört, mit denen die Erziehungsprobleme der
gegenwärtigen Gesellschaft beschrieben werden müssen. Das ist nicht
selbstverständlich, sondern bedingt durch den gesellschaftlich-kulturellen
Zusammenhang, in dem Erziehung geschieht. Der Konfliktbegriff wird nur in dem
Maße pädagogisch relevant, in dem er dem sozialen System zugehört, für das und
in dem erzogen werden soll.
[032:2] 2. Die Rolle, die dem Konflikt im pädagogischen Zusammenhang
zugesprochen wird, ist deshalb abhängig von dem Gesellschaftsbild, das der
Erziehungspraxis und der Erziehungstheorie immanent ist. Den Epochen vor Rousseau war der Begriff und der mit ihm gemeinten Realität weitgehend fremd. Es herrschte eine Auffassung von Erziehung,
die die pädagogische Aufgabe lediglich in der Einordnung der heranwachsenden
Generation in einem normativ vorgegebenen Zusammenhang sah. Dieser normative
Zusammenhang wurde nicht in Zweifel gezogen. Tauchten im Erziehungsprozeß
Schwierigkeiten, d. h. Konflikte auf, so wurden sie eindeutig dem
heranwachsenden Subjekt zugerechnet. Sie wurden als störende Elemente
betrachtet, die zum Verschwinden gebracht werden mußten.
[032:3] 3. In der Erziehungstheorie Rousseaus und Schleiermachers taucht eine Wendung des pädagogischen Denkens auf: Konflikte mit dem vorgegebenen Normensystem erscheinen in dieser Theorie nicht mehr als beklagenswerte Abweichungen von Individuen, sondern als strukturelle Merkmale des Erziehungsprozesses. Die Erziehungstheorie bekommt damit einen gesellschaftskritischen Akzent; sie stellt die Humanität des gegebenen sozialen Systems in Frage und optiert für das Glück und das Recht des Individuums gegen ein gesellschaftliches System, das dieses Glück und dieses Recht nur unvollkommen zu realisieren vermag. Die Aufgabe der Erziehung ist es nun nicht mehr nur, die junge Generation dem Bestehenden einzugliedern, sondern zugleich sie instand zu setzen, das Bestehende zu verändern.
[032:4] 4. Damit wird die Erziehungswirklichkeit als etwas wahrgenommen, das
einem fundamentalen Konflikt unterliegt: der Diskrepanz zwischen dem, was das
bestehende soziale System von seinem Nachwuchs verlangt und dem, was dieser Nachwuchs selbst als seine Vorstellungen von einem
menschenwürdigen System produziert. Obwohl indessen dieser Konflikt unmittelbar
dem Demokratisierungsprozeß zugehört, ist er doch im Raum der Pädagogik mit
gesellschaftlichen Konsequenzen nicht theoretisch aufgearbeitet worden:
„Konflikt“
ist bis heute in der akademischen pädagogischen
Theorie kein zentraler Begriff.
[032:5] 5. Parallel zur Entstehung des neuen erziehungstheoretischen
Gesichtspunktes bei Rousseau und
Schleiermacher zeigten sich
auch in der Praxis der jungen Generation Erscheinungen, die dieser Theorie
entsprechen. Wie der Soziologe Eisenstadt hat nachweisen können, geht mit allen Entwicklungen zur
modernen Industriegesellschaft eine Umstrukturierung jugendlicher
Gesellungsformen einher: War vordem die altersheterogene soziale Gruppe der
ausschließliche Ort von Erziehung und Bildung, so entstehen mit zunehmender
Differenzierung der Gesellschaft altershomogene Gruppen, in denen die junge
Generation dasjenige lernt, was sie in den altersheterogenen Gruppen nicht mehr
lernen kann. In dem Maße nämlich, in dem die Familie ihr Rollensystem nicht mehr
auf alle in der Erwachsenengesellschaft relevanten Positionen vorbereiten kann,
bedürfen die Heranwachsenden eines zusätzlichen Lernfeldes, in dem sie die
„universalistischen Verhaltensmuster“
, die die moderne
Gesellschaft verlangt, sich aneignen. Damit entsteht zugleich ein soziales Feld,
das der Möglichkeit nach Normen hervorbringen kann, die von denen der
altersheterogenen Gruppen (Familie) abweichen.
[032:6] 6. Es entstehen auf diese Weise
„Subkulturen“
.
Erwachsenenwelt und Welt der Jugendlichen neigen dazu, auseinander zu driften.
Dieser Vorgang wird dadurch verstärkt, daß die Bedürfnisse der jungen Generation
nur teilweise durch das soziale System befriedigt werden können. Besonders das
Bedürfnis, eine soziale Rolle zu spielen, anerkannt zu werden, seine Identität
zu finden, fördert die Tendenz der Ausbildung solcher Subkulturen: Der
Jugendliche sucht sich Bezugsgruppen, die ihm ein naheliegendes und handliches
Orientierungsschema vermitteln. Gangs, Gammler, Provos, Hippies, die
studentische Jugend können als verschiedene Ausprägungen dieses Grundproblems
interpretiert werden.
[032:7] 7. Genauere Untersuchungen jedoch differenzieren das Bild. Hatte man
zunächst gemeint (Eisenstadt, Tenbruck), daß die junge Generation als Ganzes eine Subkultur
bilde, so zeigte sich bei genaueren Untersuchungen, daß hier gravierende
schichtspezifische Unterschiede bestehen. Die altershomogenen Gesellungen der
jungen Generation sind eine ziemlich genaue Reaktion auf die soziale Schicht, in
der sie heranwachsen. Sie opponieren gegen diejenigen Formen, die in ihrer
Schicht am ehesten einen repressiven Charakter angenommen haben: Die bürgerliche
Clique unterläuft das Sexual-Tabu des Bürgertums; der proletarische Gang opponiert gegen das Eigentums-Tabu. Das zeigt, daß
die Konflikte nicht zufällig oder willkürlich sind, sondern daß sie in
Widersprüchen dieser Gesellschaft ihren Grund haben.
[032:8] 8. Es ist deshalb auch nicht zufällig, wenn – trotz der Verschiebungen
der letzten Jahre – Jugendkriminalität immer noch ein schichtspezifisches
Phänomen ist: Die Angehörigen der unteren Sozial-Schichten überwiegen bei
weitem. Das erklärt sich besonders aus einem weiteren Grunde. Die Mittel- und
die Unterschicht haben je eigene Erziehungspraktiken, Sozialisationsmodi
ausgebildet, die in unterschiedlicher Weise die Bewältigung des Lebens durch den
Heranwachsenden ermöglichen. Der niedrige soziale Status z. B. determiniert
durch ökonomische Faktoren, durch die Berufsrolle des Vaters, durch
schichtspezifische Orientierungsschemata eine Erziehungspraxis, die die Chancen
des so Erzogenen mindert: So haben z. B. Kinder der Unterschicht ein niedrigeres
Sprachniveau, geringe Fähigkeit der Zukunftsorientierung, sind eher
passivistisch als aktivistisch eingestellt, wenig leistungsmotiviert, stark
kollektivistisch statt individualistisch orientiert. Es handelt sich dabei um
Verhaltensweisen und Einstellungsschemata, die sowohl in den für Kriminalität
vorhersagefähigen Merkmalstabellen (Glueck) auftauchen als auch die Lebenschancen des einzelnen
in der bürgerlichen Gesellschaft erheblich vermindern.
[032:9] 9. Der Konflikt, der beim Jugendlichen in die Kriminalität führen kann,
darf deshalb unter anderem verstanden werden als ein Konflikt zwischen den durch die sozio-ökonomische Herkunft und ihrer Lebens- und Erziehungspraxis bedingten Verminderung der Lebenschancen
und dem Bedürfnis nach Teilhabe an den faktischen Lebensmöglichkeiten, die die
Gesellschaft prinzipiell für alle bereit zu halten vorgibt.
[032:10] 10. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, daß neben diesen
sozio-ökonomischen Faktoren auch sozio-kulturelle wirksam sind, die nicht
unmittelbar der Schichtzugehörigkeit zuzuschlagen sind: die Sozialstruktur der
Familie, deren Vollständigkeit oder Unvollständigkeit, den schichtunabhängigen Faktoren der familiären Erziehungspraxis, |a 11|den psychologischen Faktoren. Außerdem schlagen sich
solche Bedingungen in unterschiedlichen psychischen Konstellationen nieder, so
daß die Unterscheidung von psychischen und sozialen Konflikten nicht nur
sinnvoll, sondern auch notwendig ist. Festzuhalten bleibt jedoch, daß auch
psychische Konflikte nicht sozial exterritorial entstehen, sondern als
individueller Niederschlag sozialer Konflikte verstanden werden können.
[032:11] 11. Die Aufgabe der Erziehung wäre es demnach, Sozialisationsfelder zu
schaffen, die jene Defizite auszugleichen vermögen, statt in der
Behandlungspraxis (Strafvollzug) gerade diejenigen Faktoren zu reproduzieren
oder gar zu verstärken, die als soziale Bedingungen für die kriminelle
Konfliktlage angenommen werden müssen. Kriminalpädagogik in diesem Sinne wäre zu
bestimmen als
„Lernen in der Situation des Konflikts“
.