[V82:1] Was sich ungefähr zwischen 1500 und 1000 vor Christi Geburt im östlichen Mittelmeerraum abgespielt
hat, gehört vermutlich zu den dramatischen kulturhistorischen Ereignissen
unserer jüngeren Gattungsgeschichte: der Übergang von den verschiedenen
Bilderschriften zum (lautsprachlichen) Alphabet. Seit wir dieses haben, muten
wir unseren Kindern zu, innerhalb weniger Lebensjahre ein entwicklungslogisches
Programm zu absolvieren, das zwar den Kindern nicht mehr das
«Erfinden»
des Alphabets abverlangt, aber sie vor die Aufgabe stellt,
eine Brücke zwischen Bild, Wort und Schrift zu finden. In der griechischen
Antike findet sich ein sowohl phylo- wie ontogenetisch interessanter
etymologischer Hinweis:
«Graphein»
bedeutet Zeichnen, aber
auch Schreiben. In unserer Kultur müssen, alle Kinder diese Ambivalenz
überwinden oder
«aufheben»
.
[V82:2] Wie schaffen sie das? Amelie Sjölin führt es uns vor, und zwar als einen sich
über einige Lebensjahre erstreckenden Prozess, den sie dadurch charakterisiert
sieht, dass in ihm jene Ambivalenz zwischen Ikonischem und Alphabetischem in
einem labilen Gleichgewicht gehalten wird.
«Das Bild zeigt, was der Text verschweigt; das Wort
spricht aus, was im Bild nicht ... zum Vorschein kommt»
(S. 161)
. Das wird nicht spekulativ oder als prätentiöses Referat von Theorien
oder modischen Meinungen vorgetragen, sondern als empirische Argumentation. Im
Mittelpunkt der |a 8|Untersuchung stehen drei verschiedene
Materialsorten:
«Namensbilder»
, in denen die Kinder die
Buchstaben ihres Vornamens mit ikonischen Komponenten anreichern konnten (S. 68
ff.); erste Text-Versuche (S. 108
ff.), in denen, trotz relativ gelungener
Alphabetisierung, frühere Spuren der grafischen Kindertätigkeit noch deutlich
erkennbar sind; schließlich solche Produkte, die sich an die zeitgenössische
Medienkultur anschließen (S. 143 ff.). In 16
Abbildungen und 18 Farbtafeln werden die Schreibprodukte dokumentiert, so dass
auch der Leser imstande ist, die Interpretationen mit den Quellen zu
vergleichen. Es gelingt der Verfasserin, für jeden einzelnen Fall und unter den
drei Blickwinkeln eine besondere Komponente ästhetischer Erfahrung
herauszuarbeiten. Wie durch ein gut platziertes Fenster wird dem Leser ein Blick
ermöglicht auf die Auseinandersetzung des Kindes mit der Konfrontation zweier
strukturell verschiedener Symbolsysteme, dem ikonischen und dem alphabetischen,
ein Blick auf die
«Spur einer symbolischen Transformation»
(S. 68)
.
[V82:3] Die Platzierung des
«Fensters»
wird sorgfältig
vorbereitet und im Verlauf immer wieder kommentiert, freilich in einer
Auswahl von Studien und theoretischen Argumentationen aus dem
äußerst breiten Feld dessen, was hier relevant sein könnte: philosophische
Erörterungen zum Symbolbegriff (z. B. Langer, Goodman),
paläanthropologische Hypothesen (Leroi-Gorhan), Bezugnahme auf entwicklungslogische Befunde (z. B.
Piaget, Gibson, Richter), schrifttheoretische Untersuchungen (z. B.
Coulmas, Illich, Lapacherie, Sting). Diese theoretischen Klärungen geben Schritt für Schritt
Einblick in den Weg, auf dem die Verfasserin sich eine konturierte Perspektive
auf ihren Gegenstand erarbeitet. Gelegentlich gerät das vielleicht
umständlicher, als es für den eigenen Untersuchungszweck erforderlich gewesen
wäre. Methodisch plädiert die Verfasserin für ein fallbezogenes
«Interpretieren»
(S.
28) und nimmt dafür vor allem Schleiermachers
Theorie der Hermeneutik (S. 29 ff.) und die Bildhermeneutik G. Boehms(S. 33
ff.) in Anspruch. Das ist eine im Hinblick auf die
Durchführung der Untersuchung überzeugende Wahl. Weniger überzeugend ist
indessen der grundsätzliche Verzicht (wenn der Rezensent recht verstanden hat)
auf
«grammatische»
oder
«komparative»
wie
es bei Schleiermacher heisst und
im kunsthistorischen Werk Boehms
vorgeführt wird) Interpretation. Es wäre lehrreich gewesen, hätte die
Verfasserin auch der Möglichkeiten eines, wenn auch nur auf bescheidene
Fallzahlen begrenzten, Vergleichs mit solchen
«Fällen»
bedient, die in die Einzelanalysen keinen Eingang fanden. Man wüsste dann
genauer, ob es sich nur um herausragende individuelle Produkte handelt (im
vorliegenden Text ca. 10 Kinder) oder ob diese tatsächlich ein
«allgemeines»
Problem dokumentieren. Das
«Divinatorische»
, d. h. das
«Erraten»
des
Individuellen, ist ja auch bei Schleiermacher nur die eine (und zwar die schwierigere)
Komponente der Interpretation.
[V82:4] Derartige Vorbehalte – wie übrigens auch die Tatsache, dass der
eingangs erwähnte kulturhistorisch schwierige Übergang vom Bild zur Schrift,
inzwischen relativ gut erforscht, nur angedeutet, nicht aber referiert wird –
gehören indessen eher in den Bereich akademischer Nörgelei und berühren das
Erkenntnisinteresse der Verfasserin nur am Rande. Ohne Zweifel hat sie den Blick
geöffnet oder erschlossen auf eine der vielen Grundfragen ästhetischer Bildung,
deren Ende nicht abzusehen ist. Die individualisierende Fall-Interpretation hat
ein Hypothesen-Panorama präsentiert, das vielleicht fruchtbarer werden könnte –
für das Problem der ästhetischen Symbolisierungen von Kindern – als die lange
Reihe von traditionellen Deutungen kindlicher Malerei. Dabei war der Verfasserin
der Bezug auf die Kunst offenbar wichtig – vor allem auf die Bilder Klees und Twomblys. Sowenig ein direkter Vergleich – jeder
Verständige wird das sofort konzedieren – sinnvoll ist, so unabweislich scheint
der Verfasserin (und dem Rezensenten), dass derartige Produkte moderner Malerei
(und Poesie, z. B. Mallarmé,
S. 69
ff.) auf Probleme aufmerksam machen, die der
pädagogisch-didaktischen Literatur gelegentlich entgehen. Wir werden, durch
diese Kunst der Moderne, gemahnt an
«das Archaische, das ihnen (den
«Schrift»
-Bildern)
anhaftet»
, welches
«wirkt wie eine vage Erinnerung»
(S. 76)
. So gerät Vergangenes mit Gegenwärtigem in eine Kontinuität, freilich
metamorphotisch oder transformativ (je nach Sprachgebrauch).
«Ästhetische Erfahrung ... ist etwas
Außerordentliches»
(S. 88)
. So ist es! A. Sjölin
bringt uns auf diese Spur, und zwar angesichts einer Produktsorte, bei der manch
einer das nicht vermutet hätte.
[V82:5] Amelie Sjölin: Schrift als Geste. Wort und
Bild in Kinderarbeiten. Neuried 1996. DM 68.-