Ästhetische Bildung als Erziehung zur Mündigkeit [Textfassung a]
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Ästhetische Bildung als Erziehung zur Mündigkeit

Podiums- und Plenumsdiskussion*
*Die Diskussion wurde auf Band mitgeschnitten. Sie wird hier in gestraffter, redaktionell überarbeiteter Form abgedruckt.

[V71:1] Auf dem Podium diskutierten:
    [V71:2] Sibylle Knauss, Schriftstellerin
    [V71:3] Prof. Dr. Klaus Mollenhauer, Universität Göttingen
    [V71:4] Reinhard Jennewein, Kultusministerium des Saarlandes
    [V71:5] Dr. Wilhelm Ebert, Bundesvorsitzender des VBE
    [V71:6] Moderation: Stefan Miller, freier Journalist
Hier ist eine schwarz-weiße Fotografie der vier am Podium sitzenden Diskutand*innen Knauss, Mollenhauer, Ebert und Jennewein, sowie mittig platziert des Moderators Miller zu sehen.
[V71:7] Miller:
[V71:8] Lassen Sie uns anknüpfen an das, was heute vormittag schon zur Sprache kam: an ein Konzept von ästhetischer Erziehung, das auf Kant und Schiller zurückgeführt werden kann. Wir sollten dabei nicht unterschlagen, daß einige von den aufklärerischen Ideen dieser Konzeption in der Sackgasse geendet sind. Denn die Kritik der ästhetischen Urteilskraft von Kant hat ja bekanntlich einen von unseren Gründerpädagogen, Johann Gottlieb Fichte, zu einem Denkmodell animiert, das dann bei einem der renommiertesten Pädagogen des 19. Jahrhunderts, nämlich Schreber, sehr fatale |a 39|Konsequenzen gehabt hat. Dieser Schreber hat unter Berufung auf Fichte und in der Berufung auf die Idee von freier Selbstbestimmung und Mündigkeit ein Konzept der Dressur entwickelt. Das drückt sich zum Beispiel in folgenden Formulierungen aus:
Unterdrücke im Kinde alles, halte von ihm fern alles, was es sich nicht aneignen soll, leite es aber beharrlich hin auf alles, was es sich angewöhnen soll. Indem wir das Kind an das Gute und Rechte gewöhnen, bereiten wir es vor, späterhin das Gute und Rechte mit Bewußtsein und aus freiem Willen zu tun. Die Gewohnheit ist nur die notwendige Vorbedingung, um die entsprechende Richtung der Selbstbestimmbarkeit des freien Willens zu ermöglichen und zu erleichtern
. Ich glaube, hier wird ein Problem deutlich, was für ästhetische Bildung allgemein besteht: nämlich die Paradoxie, Selbstbestimmbarkeit zu lehren in Abhängigkeitsverhältnis von Schüler und Lehrer. Darin liegt – so denke ich – eine kommunikative Paradoxie.[V71:9] Wird nicht diese Paradoxie dadurch zementiert, indem man in einer Gesellschaft, in der Leistungsbereitschaft großgeschrieben wird, Notenbewertung für den Kunstunterricht vorsieht?
[V71:10] Jennewein:
[V71:11] Das ist richtig, es ist ein Problem des Kunstunterrichtes. Sie werden sich erinnern, daß etwa ab 1970 die Diskussion des wertzielorientierten Unterrichtes aufgekommen ist. Wertziele mußten operationalisiert sein, Wertziele mußten anschließend aufgrund einer in der Schule vorgesehenen Leistungsmessung erfaßt und kontrolliert werden. Es widerspricht dem gesamten Kunstbegriff, ein Thema zu stellen, das die Kreativität beim Schüler freisetzen soll. Aber aus der Perspektive dieser kognitiven Struktur der Wertzielvorgabe müssen Wertziele formuliert werden, die letztendlich wieder exakt abfragbar zu beurteilen sind. Unser Kunstunterricht in der Schule, er krankt auch an mangelnder Ausstattung. Er leidet vor allem darunter, daß zu einer im Stundenplan festgelegten und vorgesehenen Zeit Kunstunterricht stattzufinden hat, wobei gar nicht auf die Motivationslage eingegangen werden kann. Und ich frage mich, ob dieser Unterricht, wie er traditionell stattgefunden hat und gegenwärtig stattfindet, überhaupt den Begriff Kunstunterricht verdient. Der Begriff ästhetischer Erziehung erleichtert es uns, aus diesem Dilemma herauszukommen.
[V71:12] Ebert:
[V71:13] Ich habe nicht ohne Grund heute vormittag das Problem ästhetischer Erziehung in einen größeren Zusammenhang gestellt. Ich möchte das vertiefen und sehr deutlich sagen: wenn wir einmal von der üblichen bildungspolitischen Diskussion absehen, die sich mit Schulstrukturen, Schülerschwund, Bildungszielen o. ä. beschäftigt, ist die Kernkrankheit unserer Schulpraxis der herrschende Leistungsbegriff und die Form praktizierter Leistungsmessung. Wir haben es zu tun mit einer dominierenden konkurrenzbezogenen Leistungsmessung. Und dies ist nicht nur pädagogisch falsch, die ist vielmehr antipädagogisch. Wir brauchen, um wirklich guten Unterricht machen zu können, eine personenbezogene und eine zielbezogene Leistungsmessung.[V71:14] |a 40|Personenbezogene Leistungsmessung müßte die Motivation bieten, daß der Schüler individuell seinen eigenen Fortschritt immer wieder erlebt und nicht auch dann, wenn er persönlich einen großen Fortschritt macht, gemessen an anderen ein Versager ist. Zielorientierte Leistungsmessung meint, daß die Chance für alle Schüler gegeben ist, das Bildungsziel erreichen zu können. Ästhetische Erziehung gibt uns die Chance, über unser Leistungsverständnis nachzudenken. Sie könnte Ausgangspunkt sein für eine schulische Entwicklung, die wir dringend brauchen mit einem andersartigen Leistungsbegriff und einer andersartigen Leistungsmessung.
[V71:15] Miller:
[V71:16] Ästhetische Erziehung grundlegend genommen als schöpferisches Handeln, macht natürlich wichtig, daß wir uns ein bißchen klarer werden, über unseren Diskussionsgegenstand. Ihr Referat, Herr Mollenhauer, hat dazu einige Anknüpfungspunkte geboten. Darin war aber auch der Satz zu hören:
Die Abwesenheit von Sagbarkeit, das sprachlichst Leerste ist zugleich das ästhetisch Dichteste
. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie, Frau Knauss, als Schriftstellerin möglicherweise Einwände haben.
[V71:17] Knauss:
[V71:18] Ich habe in der Tat den Eindruck, daß die These von Herrn Mollenhauer sich auf bildende Kunst anwenden läßt, aber nicht auf verbale Kunst. Ich möchte jedoch noch einmal auf die Leistungsfrage in der Schule zurückkommen. Ich glaube, daß man diese Frage nicht nur im engen Horizont der Schule behandeln sollte. Wenn man sich fragt, ob ästhetische Bildung möglich ist, dann muß man im Grunde eine gesamtgesellschaftliche Bestandsaufnahme betreiben. Schule als solche unterliegt ja auch einer Leistungsbewertung, denn die gesellschaftliche Wirklichkeit, die da ist, ist ja in einem hohen Maße durch Schule geschaffen worden. Alle, die unsere Gesellschaft gestalten, sind durch die Schule gegangen. Sehen wir unsere Städte an, in denen wir leben, sie sind teilweise unbewohnbar – und zwar ästhetisch unbewohnbar. Wir fangen an festzustellen, daß auf diesem Gebiet ungeheure Sünden begangen worden sind. In dieser Hinsicht stehen wir heute vor einem ästhetischen Trümmerhaufen.
[V71:19] Mollenhauer:
[V71:20] Sie haben recht, daß dies eine, das von mir genannte und Ihnen, Herr Miller, angesprochene, Zitat – das sprachlichst leerste sei zugleich das ästhetisch dichteste – im Hinblick auf die Sprache unsinnig wäre. Aber ich bin kein Literaturästhetiker, begebe mich auf schwieriges Terrain. Ich frage mich jedoch: was ist denn eigentlich das Poetische im Wortkunstwerk? Hat das etwas mit der Metapher zu tun? Sollte dies der Fall sein, dann denke ich, kann man vielleicht für die Metapher etwas ähnliches sagen, wie für das Bild. Denn auch die Metapher verliert ihre ganze Aussage, wenn ich sie in einen diskursiven Satz übertrage. Auch das poetisch Dichte der Metapher ist nicht anders sagbar als durch die Metapher. Insofern, denke ich, ist eine Ähnlichkeit in der Problemstellung. [V71:21] |a 41|So sehr ich Herrn Ebert zustimme im Hinblick auf die Beurteilung des Umgangs mit dem Leistungsproblem und der objektivierten Leistungsmessung in unseren Schulen, so glaube ich doch, daß diese Fragestellung eher von der ästhetischen Erziehung wegführt. [V71:22] Es ist bei der ästhetischen Erziehung anders als in anderen schulischen Fächer. Herr Jennewein hat bereits auf
Kreativität
hingewiesen. [V71:23] Kreativität ist schlechterdings nicht benotbar. Schlechterdings nicht benotbar. Sie ist durchaus benotbar. Es sind Fehlerquoten zu ermitteln. Eine ganz andere Frage ist, ob man benoten soll, und von welchem Alter ab man das tun soll. Aber hier ist ein ganz grundsätzlicher Unterschied. Und deshalb habe ich in meinem Vortrag Wert auf die Unterscheidung zwischen ästhetischer Empfindung auf der einen Seite, verbunden mit Selbstreflektion und der Lesbarkeit von Kunst auf der anderen Seite gelegt. Ich denke , sofern ästhetische Tätigkeiten und ästhetische Objekte lesbar gemacht werden, insofern Lesefähigkeit bei Kindern gebildet werden kann, hat es eine gewisse Ähnlichkeit mit allen anderen Fächern, in denen es um kulturelle Inhalte geht. Und da müßte man überlegen, wie dann eigentlich der Weg zu einer solchen Lesbarkeit vernünftigerweise aussieht. [V71:24] Ich habe den Workshop besucht, der sich mit dem Theaterspiel befaßt hat. Mir wurde deutlich, daß zur Lesbarkeit von Schauspielliteratur vermutlich gehört, selbst einmal gespielt zu haben, weil die besondere Dramatik eines Stückes erst dann zureichend verstanden werden kann – so war jedenfalls die Hypothese der Schauspieler, und die hat mir zunächst einmal eingeleuchtet – wenn ich die besonderen Körperempfindungen, die der Schauspieler beim Spielen des Stückes hat, nachvollziehe. Also Lesbarkeit von Kunst bedeutet nicht nur reine Kopfarbeit, sondern bedeutet auch die Beteiligung des eigenen Leibes an der eigenen ästhetischen Hervorbringung.
[V71:25] Miller:
[V71:26] Aber bleibt nicht die Paradoxie bestehen, wenn Lehrer das als Pflichtkurs in einem üblichen Unterrichtszusammenhang anbieten und eben nicht in einer Schauspielgruppe, die nachmittags zusammenkommt? Ist für Schüler nicht doch dann eine schizophrene Situation gegeben, wenn sie sich wirklich ehrlich auf das einlassen, was sie empfinden? Das Risiko, sich einzulassen, denke ich, ist eine Zumutung in unserer Schulpraxis, wenn man Kunstwerke nicht nur ihrer Aura entkleidet als technisch reproduzierbares Forminventar. [V71:27] Ist es nicht eine Zumutung für einen Schüler zu sagen: so, und jetzt ziehe ich mich mal aus! Ich habe selber Theaterworkshops an Schulen gemacht, und es ist jedes Mal ein eklatanter Unterschied gewesen, ob es eine Pflichtveranstaltung war, wo alle Schüler kommen mußten, oder ob das eine Nachmittagsveranstaltung war. [V71:28] Die Ergebnisse haben sich unterschieden wie schwarz und weiß!
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[V71:29] Jennewein:
[V71:30] Ich wage folgende These: ästhetische Erziehung kann unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen nur begrenzt in der Schule erfolgen. Es gibt ausreichende Untersuchungen über die Zeit, die ein Kind, ein Jugendlicher vor dem Fernsehgerät verbringt. Es gibt ausreichende Untersuchungen, wie stark in den letzten Jahren die Zahl der Stunden, die ein Jugendlicher mit einem Buch verbringt, sich reduziert haben. Es gibt Jugendliche, das wissen Sie als Kolleginnen und Kollegen sehr gut, die kaum ein Buch lesen. Und in dieser gesellschaftlichen Situation hat es das Fach
ästhetische Erziehung
sehr schwer.
Bravo
konkurriert dort mit Goethe und Frau Knauss,
Alf
und
Werner
mit Picasso und Rembrandt und Jennifer Rush und Peter Maffay mit Brahms und Bach. Ich habe den Eindruck, ästhetische Erziehung ist eine Reparaturanstalt, um zu reparieren, was durch gesellschaftliche Entwicklungen in ganz anderen Bereichen kaputtgemacht wird, und wahrscheinlich in Zukunft noch stärker kaputtgemacht wird. Wir werden in absehbarer Zeit hier im Saarland noch mehr Programme im Fernsehen haben als heute. Analog könnten wir fordern: um so erforderlicher ist ästhetische Erziehung. [V71:31] Hier möchte ich anknüpfen an das, was Herr Mollenhauer heute morgen gesagt hat zur Alphabetisierung von Kunst. Ich glaube in der Tat, bevor wir über Kunst im Unterricht reden, müssen wir uns erst einmal ganz konkret einlassen auf den alten Grundsatz: Von der Sache zum Begriff. Die Sache sind die Medien und die Formen von
Kunst
, denen der Schüler tagtäglich ausgesetzt ist und sich mit ihnen auseinandersetzt. Das ist ein erster pragmatischer Ansatz für ästhetische Erziehung; es gilt, zu sensibilisieren in einem Bereich, der in allen Medien sehr wenig sensibel gehandhabt wird. Und zweitens wäre es auf diesem Weg wichtig, die Medien selbst einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterwerfen.
[V71:32] Ebert:
[V71:33] Was Sie gesagt haben, gilt für die Schule schlechthin. Die Situation in allen schulischen Bereichen gegenüber den Medien ist insgesamt so. Deshalb kann die Schule auch nicht so tun als wäre sie isoliert wie zu Zeiten, wo es keine andere Bildung gab als Schule. Nur – diese Zeiten sind endgültig vorbei auf allen Sektoren, und das ist auch gar kein spezifisches Problem ästhetischer Bildung. [V71:34] Die Schule hat eine Doppelaufgabe. Die Gesellschaft bestimmt, wie die Schule aussieht. Aber die Schule bestimmt auch, wie die Gesellschaft der Zukunft aussieht. Das ist der Kern der bildungspolitischen Debatte, mal stärker und mal schwächer. – Wir sind als Lehrer verpflichtet zum Optimismus, nämlich zu glauben, daß wir in der Schule etwas erreichen können. Ich glaube nach wie vor daran, daß das auch möglich ist, weil doch das ganze Mediengeriesel letzten Endes nicht das erbringt, was Schule leistet. Sonst hätte man Schule längst aufgegeben. Die Medienproblematik stellt sich also für die Schule insgesamt und nicht spezifisch nur für das Ästhetische.
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[V71:35] Mollenhauer:
[V71:36] Ich habe einen Vorschlag für die Kultusministerien, insbesondere die Schulträger: bauen Sie vernünftige, freundliche Schularchitektur. Das wäre doch ein sehr wirkungsvoller Beitrag zur ästhetischen Bildung, der vielleicht effektiver ist als irgendeine unterrichtliche Bemühung, weil es die ästhetische Umwelt ist, in die das Kind jeden Tag hineingeht. Denn unsere Schularchitektur ist ja ein Trauerspiel!
[V71:37] Miller:
[V71:38] Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir die Ansprüche permanent höherschrauben. Wir türmen Kritikpunkt auf Kritikpunkt; wir sollten aber auch überlegen, was für konstruktive Ansätze es gibt. [V71:39] Ein Punkt, der mir in der Vergangenheit aufgefallen ist, ist der, daß die Leute, die mit Kunst zu tun haben, sich ständig in der Defensive gegenüber Sachzwängen befinden. Wenn man ernsthaft meint, daß es eine Nuance zwischen Anschauung und Begrifflichkeit gibt, dann ist das doch etwas, was man hinsichtlich ästhetischer Erziehung in andere Fächer als Kunsterziehung übertragen kann. Wäre es nicht möglich, daß sich Kunsterzieher und Geistes- oder Naturwissenschaftler zusammensetzen und ihre Bildungsabsichten zusammenbringen, zumal sich dabei herausstellt, daß scheinbar vollkommen Unterschiedliches – z. B. in Kunsterziehung und Physik – zumindest in der historischen Analyse zurückgeführt werden muß auf bestimmte Entscheidungen. Warum spielte die Zentralperspektive in der Renaissance plötzlich diese Rolle, und warum wird zur gleichen Zeit eine Physik institutionalisiert, wo genauso ein individueller Zugang zur Welt propagiert wird? [V71:40] Wir haben mit Denkmodellen zu tun, die auf historische Entscheidungen zurückzuführen sind, die ihrerseits oft am Ende eines schöpferischen, initiierten Prozesses gestanden haben. Ich denke, das ist etwas, was man sinnlich erfahrbar machen kann, und was zu einem Austausch ästhetischer und kognitiver Elemente in der Schulbildung führen kann.
[V71:41] Ebert:
[V71:42] Hier müssen wir den Begriff der Freiheit einführen, und zwar zuerst einmal der Freiheit des Lehrers. Was Sie ansprechen, bedeutet doch nichts anderes, als daß man diese Freiheit weitergibt an den Schüler. In der Welt unserer Kinder spielt Phantasie eine zentrale Rolle, ganz im Gegensatz zur Welt der Erwachsenen. Wenn sie beispielsweise basteln und bauen, macht es nichts, wenn dieses oder jenes Detail fehlt; auch ein Auto ohne Lenkrad ist dann noch ein Auto. Diese Phantasie, diese Freiheit der Gestaltung, wird sie unseren Kindern ausgetrieben? Die Phantasie schafft unseren Kindern eine eigene Welt, und wir sollten uns hüten, hier etwas zu früh zu zerstören, in der Schule oder anderswo.
[V71:43] Miller:
[V71:44] Wie reagiert die kultus-bürokratische Welt auf solche Forderungen, Herr Jennewein? Sie sollen andere Schulen bauen. Sie sollen mehr Freiräume schaffen, am be|a 44|sten die Zensuren abschaffen. Sie haben selber gegen die inhaltlich vorgegebenen Normen polemisiert. Was tun Sie dagegen im Kultusministerium?
[V71:45] Jennewein:
[V71:46] Schulen sind gebaut; die stehen. Schulträger im Saarland ist nur zu einem geringen Teil das Land selbst, überwiegend sind es die Kommune bzw. die Landkreise. Daß unsere Schulen wenig kinderfreundliche sind, wird – glaube ich – hier ernsthaft von keinem bestritten. Da spielen die Kosten eine Rolle, das brauche ich nicht zu betonen. [V71:47] Skeptisch bin ich, die Freiheit des Lehrers an Schüler weiterzugeben. Schule ist organisiertes Lernen innerhalb einer Gruppe. Ich wäre froh, wenn in diesen Fächern, die sich mit ästhetischer Erziehung befassen, Freiheit in stärkerem Maße den Lehrern gegeben würde. Es ist ein Unterschied zwischen ästhetischer Erziehung und Mathematik, Ästhetische Erziehung vermittelt Einstellungen, Werte, geht stark in einen affektiven Bereich hinein. Und es ist ein Unterschied, wie stark ein Kind vorher sozialisiert wird, das stärker ist im Bereich der ästhetischen Erziehung als im Bereich des Fachs Mathematik oder Physik. [V71:48] Aber auf eines will ich auch hinweisen: auch die Freiheit eines Kultusministers ist begrenzt. Die Diskussion um die Benotung in der Grundschule hat uns gezeigt, daß die Eltern zum Teil auf den Noten beharren, weil sie sich davon eine genauere Bewertung erwarten. Manche Entwicklungen dauern länger und lassen sich nicht mit der Brechstange durchsetzen. Das trifft zwei kritische Punkte: der eine heißt Entrümpelung von Lehrplänen, nicht nur in Fächern wie Kunsterziehung oder Musik, und der zweite ist eine stärkere Dezentralisierung, d. h., mehr Freiheit für den Lehrer bei der Gestaltung seines Unterrichtes.
[V71:49] Knauss:
[V71:50] Hier ist zu sehr von allgemeinen Schulfragen die Rede. Wir sollten wieder auf die Frage ästhetischer Erziehung oder Bildung zurückkommen, und insbesondere auf die angeschnittene Medienproblematik. Ich bin hier als Vertreterin für Literatur, und mir liegt daran, daß gelesen wird. Aber man kann nichts erreichen – weder in der Schule, noch in der sonstigen Bildungspolitik – wenn man Film bzw. visuelle Medien und Buch bzw. Lesen, polarisiert und einander entgegenstellt. Das hat schon deshalb keinen Sinn, weil der Film als Medium ganz entscheidend zur ästhetischen Bildung dieser Generation beiträgt. Er hat schon zu unserer ästhetischen Bildung sehr viel beigetragen, um wieviel mehr zur ästhetischen Bildung derer, die jetzt heranwachsen. Für die Schule kann das nur heißen, daß sie den Film als Medium, als Kunstform endlich auch in die Lehrpläne der Schulen übernimmt, in Fächer, wo er hingehört, nämlich in Deutsch und bildende Kunst. Es gibt ja nicht nur irgendwelche Spielfilmserien, die Kinder nachmittags im Fernsehen sehen, es gibt auch den künstlerischen Trickfilm, es gibt Filme, die berechtigt den Anspruch erheben können, ein künstlerisches Medium zu sein.
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[V71:51] Wilden (aus dem Plenum):
[V71:52] Wenn es stimmt – Untersuchungen in Nordrhein-Westfalen haben bei Schülern von Gymnasien und Hauptschulen in Dortmund einen durchschnittlichen Fernsehkonsum von etwa 3,6 Stunden pro Tag festgestellt – wenn es also stimmt, daß wir die Nachmittags- und Abendgestaltung im Leben der Kinder nicht verändern können, weil wir keinen Einfluß auf diese Zeit haben, dann muß man aber nach den Konsequenzen für die Veränderung des Vormittags fragen. Es besteht keine Möglichkeit, die Gesellschaft zu verändern, aber es gibt die Möglichkeit darüber nachzudenken, wie sich der Unterricht am Vormittag verändern kann. Und dann wäre es vielleicht wichtig, darüber nachzudenken, wie man Kunst, wie man ästhetischen Produktionen begegnen kann – als Individuum, als einzelner Schüler, als einzelne Schülerin. Doch dann stellt sich zunächst gar nicht die Frage nach der Leistungsbewertung durch Noten. Vielmehr sollten wir fragen: wie können wir solche Begegnungen mit Kunst ermöglichen? Ich kann nicht sagen, ob man Literatur durch Lesen erschließt. Vielleicht ist es auch kein Film, sondern ein Bild, von dem ich hoffe, daß die Jugendlichen etwas damit anfangen können. Daß es etwas in ihnen auslöst, etwas, was ich nicht beschreiben kann, was die Kinder auch vielleicht gar nicht zu einer Beschreibung herausfordert, weil sie einfach empfinden. [V71:53] Ich bin mir nicht sicher, Herr Mollenhauer, ob man die Lesbarkeit von Kunst von der ästhetischen Empfindung trennen sollte in der Schule, damit man einen Teil benoten kann und den anderen sozusagen sich selbst überläßt. Zerbricht man da nicht die Einheit?
[V71:54] Mollenhauer:
[V71:55] Ich kann Ihnen eigentlich nur recht geben. Ich habe nicht gemeint, daß man es sozusagen unterrichts-strategisch voneinander trennen sollte, ich habe nur gemeint, das sind die beiden wesentlichen Komponenten. Natürlich denke ich, daß es sich immer um den glücklichen Fall handelt, wenn beide zusammenkommen, denn wenn es zu nichts anderem als nur zur Lesbarkeit führt, dann kommt ja das ästhetische Erlebnis überhaupt nicht zustande.
[V71:56] Ebert:
[V71:57] Ich möchte darauf hinweisen, daß die
Stiftung Lesen
an Programmen arbeitet und auch bereits einige produziert hat, die genau die Problematik zwischen Fernsehprogrammen und dem Lesen in den Schulen aufnehmen. Es geschieht also gar nicht so wenig auf diesem Gebiet; das sei positiv herausgestellt. [V71:58] Ich möchte jedoch nochmals auf zwei andere Dinge zurückkommen. Erstens: zur Werte-Erziehung. Mathematik ist auch Werte-Erziehung und zwar in bedeutender Weise. In der Mathematik geht es um richtige oder falsche Ergebnisse auf der Basis bestimmter Prämissen. Kunst entzieht sich solcher eindeutiger Aussagen. Das gleiche gilt für andere, scheinbar wertfreie Disziplinen. Wir sollten also nicht das eine gegen das andere stellen wollen in Bezug auf Werte-Erziehung. [V71:59] |a 46|Zweitens, zur Benotung: wenn es so ist, daß etwas pädagogisch Richtiges, wie die Einschränkung der Benotungspraxis, auf öffentlichen Widerspruch stößt, dann frage ich mich, wozu wir eine repräsentative Demokratie haben. Denn eigentlich müßten die Politiker auch den Mut haben, etwas Richtiges durchzusetzen. Hier wünsche ich einfach den Politikern generell mehr Mut, und wir werden sie darin unterstützen. Sonst steht die Schule mit ihrem pädagogischen Auftrag völlig isoliert da.
[V71:60] Knauss:
[V71:61] Ästhetische Bildung heute, kann nur darin bestehen, daß man Jugendlichen dazu verhilft, auf mündige Weise umzugehen mit den kulturellen und ästhetischen Einflüssen, denen sie ausgesetzt sind. Es kann also nicht darum gehen, zu sagen, Lesen hat etwas mit ästhetischer Erziehung zu tun, und Videos nicht. Und damit kommen wir auch zur Frage zurück: Wie erziehe ich mündige Menschen? [V71:62] Den Weg über ästhetische Bildung halte ich für wesentlich. Unsere Kinder müssen lernen, wie mündige Menschen umzugehen mit den kulturellen Einflüssen, die vorhanden sind. Wir sollten sie nicht beständig zurechtweisen und fordern: aber eigentlich sollst du Geige spielen und keine Rockmusik hören.
[V71:63] Jennewein:
[V71:64] Was Sie sagen, ist in einigen Lehrplänen in anderen Bundesländern bereits vorhanden. So die Beschäftigung mit dem Medium Film. Das heißt aber, daß es Kategorien gibt, unter denen ich einen Film betrachte, im Bereich der Rezeption und der Reflexion. Und zudem besteht die Möglichkeit, mittels einer Videokamera selbst einen Film zu drehen. [V71:65] Frau Knauss hat zum ersten Mal den Begriff genannt, unter dem diese Diskussion eigentlich läuft: Mündigkeit. Ich sehe dabei unsere Kunsterzieher, unsere Musikerzieher, die einen guten Unterricht machen, und dann kommt die Forderung: das muß zur Mündigkeit erziehen. Damit habe ich Probleme. [V71:66] Ist das in einem Unterricht, der ein oder zwei Stunden pro Woche stattfindet, wirklich machbar? Das bezweifele ich. Ästhetische Erziehung zur Mündigkeit führt zur Mündigkeit wie jedes andere Fach auch. Ich bin skeptisch, wie wir Mündigkeit anders als in anderen Fächern – im politischen Unterricht beispielsweise – erreichen wollen durch Unterricht in den Fächern ästhetischer Erziehung.
[V71:67] Ebert:
[V71:68] Ich bin wirklich völlig anderer Meinung. Ich bin überzeugt, daß ästhetische Erziehung wirklich genausoviel, u. U. mehr leisten kann als irgendeine politische Bildung. Unterschiede liegen in der Sache, aber nicht in Bezug auf das Ziel
Mündigkeit
.
Mündigkeit
wird hier offensichtlich nur politisch verstanden, oder im Hinblick auf Institutionen. Doch das ist viel zu eng. Mündigkeit spielt sehr wohl in der Kunsterziehung bzw. ästhetischer Erziehung eine zentrale Rolle, weil die Freiheit – und darum geht es – diese zentrale Rolle spielt.
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[V71:69] Miller:
[V71:70] Wenn wir von Mündigkeit sprechen, was kann der Kunstunterricht dazu beitragen? Wir haben von der Lesbarkeit gesprochen; in einer chaotisch reizüberfüllten Welt kann er helfen, Lesbarkeit der Welt zu stiften, indem er Codes entschlüsselt. Und er kann zum Beispiel solche Verzerrungen der Welt, wie sie durch die Medien hervorgerufen werden zurückrücken. [V71:71] Das heißt aber auch, es kann sein, daß man die
römischen Elegien
oder auch Teile des
Faust
aus den Lehrplänen drängen muß, obwohl das wahrscheinlich die Bastion ist, die zuletzt fällt. Dies ist die Entscheidung, die jeder von Ihnen treffen muß. Aber andererseits heißt ja ästhetische Erziehung auch, den Schülerinnen und Schülern Selbstbewußtsein zu vermitteln im Umgang mit tradierten Kulturformen und Kulturtechniken, sich also einfach zu trauen, dort Verkrustungen aufzubrechen. Und das ist etwas, worin Sie als Lehrer Vorbilder sind, daß Sie sich ganz souverän trauen, trotz allen Sachzwängen, auf die man sich immer zurückziehen kann. Es kann wichtig sein, einem Goethe Fellinis
Roma
vorzuziehen oder auch
Crocodile Dundee
. Das erfordert Mut, und es erfordert vor allem eine Mündigkeit, die Lehrer erst einmal haben müssen.
[V71:72] Mollenhauer:
[V71:73] Ich stimme der geäußerten Skepsis zu, was die Leistungsfähigkeit der ästhetischen Bildung in Bezug auf Mündigkeit betrifft. Ich denke, man müßte genau bestimmen, welches denn der Beitrag der ästhetischen Bildung überhaupt sein könnte im Hinblick auf da, was wir etwas niveaulos
Mündigkeit
nennen. Natürlich, die Lesbarkeit – wer über das Alphabet nicht verfügt, der kann sich auch nicht politisch beteiligen. Lesbarkeit ist sicher eine wichtige Komponente. Und die andere Komponente würde ich nennen: die Vermittlung einer Selbstsicherheit im Umgang mit meiner sinnlichen Einbildungskraft. Das ist ein möglicher Beitrag für Mündigkeit. Nicht, daß damit der Begriff Mündigkeit eingelöst wäre. Es ist nur ein kleiner Beitrag, und bescheiden würde ich die Ziele formulieren in diesem Zusammenhang.
[V71:74] Knauss:
[V71:75] Ich möchte verdeutlichen, was ich unter einer Mündigkeit verstehe, die durch ästhetische Erziehung in der Schule erreicht werden könnte. Als Beispiel nehme ich den Umgang mit der Werbung. Leute, die Werbung machen, die kennen das ästhetische Alphabet, die wissen, wie Zeichen gesetzt werden, damit eine bestimmte Botschaft ankommt. Es muß also um diese Art des Lesens von ästhetischen Zeichen gehen, die den Schülern vermittelt werden muß. Ich bin da nicht so skeptisch, ich halte uns für fähig, dies zu vermitteln. Ich würde das als einen Schritt auf dem Weg zur Erziehung zur Mündigkeit ansehen im ästhetischen Bereich.
[V71:76] Miller:
[V71:77] Ich glaube, wir können an diesem Punkt schließen. Ich möchte zum Schluß noch einen kleinen Text von Antoine de Saint-Exupery aus
Der kleine Prinz
vorlesen. |a 48|Vielleicht animiert Sie das zu selbstbewußtem Auftreten gegenüber den Sachzwängen und auch gegenüber den Kollegen. Ich glaube nicht, daß der Kunstunterricht es notwendig hat, sich gegenüber der Mathematik durch Noten aufwerten zu lassen. [V71:78]
Die großen Leute haben eine Vorliebe für Zahlen. Wenn er ihnen von einem neuen Freund erzählt, befragen sie euch nie über das Wesentliche, fragen euch nie: Wie ist der Klang seiner Stimme? Welche Spiele liebt er am meisten? Sammelt er Schmetterlinge? Sie fragen euch: Wie alt er ist? Wieviel Brüder hat er? Wieviel wiegt er? Wieviel verdient sein Vater? Dann erst glauben sie ihn zu kennen. Wir freilich, die wir wissen, wie das Leben eigentlich ist, wir machen uns nur lustig über die albernen Zahlen.