„Unterdrücke im Kinde Alles,
halte von ihm fern Alles, was es sich nicht aneignen soll;
leite es aber beharrlich hin auf Alles, was es sich
angewöhnen soll.Indem wir das Kind an das Gute und
Rechte gewöhnen, bereiten wir es vor, späterhin das Gute und
Rechte mit Bewusstsein und aus freiem Willen zu thun. (...) Die
Gewohnheit ist nur die nothwendige Vorbedingung, um die
entsprechende Richtung der Selbstbestimmbarkeit des freien
Willens (...) zu ermöglichen und zu erleichtern“
Schreber, 1858, S.
60
[Lisa-Katharina Heyhusen]
Editorische Anmerkung
Das Original-Zitat stammt aus
Boehm,
1978, S.
463
und lautet:
„Es ist die Abwesenheit von Sagbarkeit, die an
die unauslotbare Fülle der Erscheinung nicht heranreicht, in ihr
gebrochen wird und als das sprachlich
‚Leerste‘
das bildlich
‚Dichteste‘
exponiert“
. [Lisa-Katharina Heyhusen]
Editorische Anmerkung
Goethe,
2020 [Lisa-Katharina Heyhusen]
Editorische Anmerkung
Goethe,
1808 [Lisa-Katharina Heyhusen]
Editorische Anmerkung
Saint-Exupery, 1950
[Lisa-Katharina Heyhusen]
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[V71:8] Lassen Sie uns anknüpfen an das, was heute vormittag
schon zur Sprache kam: an ein Konzept von ästhetischer Erziehung, das auf
Kant und
Schiller
zurückgeführt werden kann. Wir sollten dabei nicht unterschlagen, daß einige
von den aufklärerischen Ideen dieser Konzeption in der Sackgasse geendet
sind. Denn die Kritik der ästhetischen Urteilskraft von Kant hat ja bekanntlich einen von unseren
Gründerpädagogen, Johann
Gottlieb Fichte, zu einem Denkmodell animiert, das dann bei einem
der renommiertesten Pädagogen des 19. Jahrhunderts, nämlich Schreber, sehr fatale |a 39|Konsequenzen gehabt hat. Dieser Schreber hat unter Berufung auf
Fichte und in der
Berufung auf die Idee von freier Selbstbestimmung und Mündigkeit ein Konzept
der Dressur entwickelt. Das drückt sich zum Beispiel in folgenden
Formulierungen aus:
„Unterdrücke im Kinde alles, halte von ihm fern
alles, was es sich nicht aneignen soll, leite es aber beharrlich hin
auf alles, was es sich angewöhnen soll. Indem wir das Kind an das
Gute und Rechte gewöhnen, bereiten wir es vor, späterhin das Gute
und Rechte mit Bewußtsein und aus freiem Willen zu tun. Die
Gewohnheit ist nur die notwendige Vorbedingung, um die entsprechende
Richtung der Selbstbestimmbarkeit des freien Willens zu ermöglichen
und zu erleichtern“
. Ich glaube, hier wird ein Problem deutlich, was für
ästhetische Bildung allgemein besteht: nämlich die Paradoxie,
Selbstbestimmbarkeit zu lehren in Abhängigkeitsverhältnis von Schüler und Lehrer. Darin liegt – so
denke ich – eine kommunikative Paradoxie.[V71:9] Wird nicht diese Paradoxie dadurch zementiert, indem
man in einer Gesellschaft, in der Leistungsbereitschaft großgeschrieben
wird, Notenbewertung für den Kunstunterricht vorsieht?
[V71:10] Jennewein:
[V71:11] Das ist richtig, es ist ein Problem des
Kunstunterrichtes. Sie werden sich erinnern, daß etwa ab 1970 die Diskussion
des wertzielorientierten Unterrichtes aufgekommen ist. Wertziele mußten
operationalisiert sein, Wertziele mußten anschließend aufgrund einer in der
Schule vorgesehenen Leistungsmessung erfaßt und kontrolliert werden. Es
widerspricht dem gesamten Kunstbegriff, ein Thema zu stellen, das die
Kreativität beim Schüler freisetzen soll. Aber aus der Perspektive dieser
kognitiven Struktur der Wertzielvorgabe müssen Wertziele formuliert werden,
die letztendlich wieder exakt abfragbar zu beurteilen sind. Unser
Kunstunterricht in der Schule, er krankt auch an mangelnder Ausstattung. Er
leidet vor allem darunter, daß zu einer im Stundenplan festgelegten und
vorgesehenen Zeit Kunstunterricht stattzufinden hat, wobei gar nicht auf die
Motivationslage eingegangen werden kann. Und ich frage mich, ob dieser
Unterricht, wie er traditionell stattgefunden hat und gegenwärtig
stattfindet, überhaupt den Begriff Kunstunterricht verdient. Der Begriff
ästhetischer Erziehung erleichtert es uns, aus diesem Dilemma
herauszukommen.
[V71:12] Ebert:
[V71:13] Ich habe nicht ohne Grund heute vormittag das Problem
ästhetischer Erziehung in einen größeren Zusammenhang gestellt. Ich möchte
das vertiefen und sehr deutlich sagen: wenn wir einmal von der üblichen
bildungspolitischen Diskussion absehen, die sich mit Schulstrukturen,
Schülerschwund, Bildungszielen o. ä. beschäftigt, ist die Kernkrankheit
unserer Schulpraxis der herrschende Leistungsbegriff und die Form
praktizierter Leistungsmessung. Wir haben es zu tun mit einer dominierenden
konkurrenzbezogenen Leistungsmessung. Und dies ist nicht nur pädagogisch
falsch, die ist vielmehr antipädagogisch. Wir brauchen, um wirklich guten
Unterricht machen zu können, eine personenbezogene und eine zielbezogene
Leistungsmessung.[V71:14] |a 40|Personenbezogene Leistungsmessung müßte die
Motivation bieten, daß der Schüler individuell seinen eigenen Fortschritt
immer wieder erlebt und nicht auch dann, wenn er persönlich einen großen
Fortschritt macht, gemessen an anderen ein Versager ist. Zielorientierte
Leistungsmessung meint, daß die Chance für alle Schüler gegeben ist, das
Bildungsziel erreichen zu können. Ästhetische Erziehung gibt uns die Chance,
über unser Leistungsverständnis nachzudenken. Sie könnte Ausgangspunkt sein
für eine schulische Entwicklung, die wir dringend brauchen mit einem
andersartigen Leistungsbegriff und einer andersartigen
Leistungsmessung.
[V71:15] Miller:
[V71:16] Ästhetische Erziehung grundlegend genommen als
schöpferisches Handeln, macht natürlich wichtig, daß wir uns ein bißchen
klarer werden, über unseren Diskussionsgegenstand. Ihr Referat, Herr Mollenhauer, hat dazu einige Anknüpfungspunkte
geboten. Darin war aber auch der Satz zu hören:
„Die Abwesenheit von Sagbarkeit, das sprachlichst
Leerste ist zugleich das ästhetisch Dichteste“
. Ich könnte mir vorstellen, daß Sie, Frau Knauss, als Schriftstellerin
möglicherweise Einwände haben.
[V71:17] Knauss:
[V71:18] Ich habe in der Tat den Eindruck, daß die These von
Herrn Mollenhauer sich auf bildende Kunst
anwenden läßt, aber nicht auf verbale Kunst. Ich möchte jedoch noch einmal
auf die Leistungsfrage in der Schule zurückkommen. Ich glaube, daß man diese
Frage nicht nur im engen Horizont der Schule behandeln sollte. Wenn man sich
fragt, ob ästhetische Bildung möglich ist, dann muß man im Grunde eine
gesamtgesellschaftliche Bestandsaufnahme betreiben. Schule als solche
unterliegt ja auch einer Leistungsbewertung, denn die gesellschaftliche
Wirklichkeit, die da ist, ist ja in einem hohen Maße durch Schule geschaffen
worden. Alle, die unsere Gesellschaft gestalten, sind durch die Schule
gegangen. Sehen wir unsere Städte an, in denen wir leben, sie sind teilweise
unbewohnbar – und zwar ästhetisch unbewohnbar. Wir fangen an festzustellen,
daß auf diesem Gebiet ungeheure Sünden begangen worden sind. In dieser
Hinsicht stehen wir heute vor einem ästhetischen Trümmerhaufen.
[V71:19] Mollenhauer:
[V71:20] Sie haben recht, daß dies eine, das von mir genannte
und Ihnen, Herr Miller,
angesprochene, Zitat – das sprachlichst leerste sei zugleich das ästhetisch
dichteste – im Hinblick auf die Sprache unsinnig wäre. Aber ich bin kein
Literaturästhetiker, begebe mich auf schwieriges Terrain. Ich frage mich
jedoch: was ist denn eigentlich das Poetische im Wortkunstwerk? Hat das
etwas mit der Metapher zu tun? Sollte dies der Fall sein, dann denke ich,
kann man vielleicht für die Metapher etwas ähnliches sagen, wie für das
Bild. Denn auch die Metapher verliert ihre ganze Aussage, wenn ich sie in
einen diskursiven Satz übertrage. Auch das poetisch Dichte der Metapher ist
nicht anders sagbar als durch die Metapher. Insofern, denke ich, ist eine
Ähnlichkeit in der Problemstellung. [V71:21] |a 41|So sehr ich Herrn Ebert zustimme im Hinblick auf die
Beurteilung des Umgangs mit dem Leistungsproblem und der objektivierten
Leistungsmessung in unseren Schulen, so glaube ich doch, daß diese
Fragestellung eher von der ästhetischen Erziehung wegführt. [V71:22] Es ist bei der ästhetischen Erziehung
anders als in anderen schulischen Fächer. Herr Jennewein hat bereits auf
„Kreativität“
hingewiesen. [V71:23] Kreativität ist
schlechterdings nicht benotbar. Schlechterdings nicht benotbar. Sie ist durchaus benotbar. Es sind Fehlerquoten zu ermitteln. Eine
ganz andere Frage ist, ob man benoten soll, und von welchem Alter ab man das
tun soll. Aber hier ist ein ganz grundsätzlicher Unterschied. Und deshalb
habe ich in meinem Vortrag Wert auf die Unterscheidung zwischen ästhetischer
Empfindung auf der einen Seite, verbunden mit Selbstreflektion und der
Lesbarkeit von Kunst auf der anderen Seite gelegt. Ich denke , sofern ästhetische Tätigkeiten und ästhetische Objekte lesbar
gemacht werden, insofern Lesefähigkeit bei Kindern gebildet werden kann, hat
es eine gewisse Ähnlichkeit mit allen anderen Fächern, in denen es um
kulturelle Inhalte geht. Und da müßte man überlegen, wie dann eigentlich der
Weg zu einer solchen Lesbarkeit vernünftigerweise aussieht. [V71:24] Ich habe den Workshop besucht, der sich mit
dem Theaterspiel befaßt hat. Mir wurde deutlich, daß zur Lesbarkeit von
Schauspielliteratur vermutlich gehört, selbst einmal gespielt zu haben, weil
die besondere Dramatik eines Stückes erst dann zureichend verstanden werden
kann – so war jedenfalls die Hypothese der Schauspieler, und die hat mir
zunächst einmal eingeleuchtet – wenn ich die besonderen Körperempfindungen,
die der Schauspieler beim Spielen des Stückes hat, nachvollziehe. Also
Lesbarkeit von Kunst bedeutet nicht nur reine Kopfarbeit, sondern bedeutet
auch die Beteiligung des eigenen Leibes an der eigenen ästhetischen
Hervorbringung.
[V71:25] Miller:
[V71:26] Aber bleibt nicht die Paradoxie bestehen, wenn Lehrer
das als Pflichtkurs in einem üblichen Unterrichtszusammenhang anbieten und
eben nicht in einer Schauspielgruppe, die nachmittags zusammenkommt? Ist für
Schüler nicht doch dann eine schizophrene Situation gegeben, wenn sie sich
wirklich ehrlich auf das einlassen, was sie empfinden? Das Risiko, sich
einzulassen, denke ich, ist eine Zumutung in unserer Schulpraxis, wenn man
Kunstwerke nicht nur ihrer Aura entkleidet als technisch reproduzierbares
Forminventar. [V71:27] Ist es nicht eine
Zumutung für einen Schüler zu sagen: so, und jetzt ziehe ich mich mal aus!
Ich habe selber Theaterworkshops an Schulen gemacht, und es ist jedes Mal
ein eklatanter Unterschied gewesen, ob es eine Pflichtveranstaltung war, wo
alle Schüler kommen mußten, oder ob das eine Nachmittagsveranstaltung war.
[V71:28] Die Ergebnisse haben sich
unterschieden wie schwarz und weiß!
|a 42|
[V71:29] Jennewein:
[V71:30] Ich wage folgende These: ästhetische Erziehung kann
unter den gegebenen gesellschaftlichen Umständen nur begrenzt in der Schule
erfolgen. Es gibt ausreichende Untersuchungen über die Zeit, die ein Kind,
ein Jugendlicher vor dem Fernsehgerät verbringt. Es gibt ausreichende
Untersuchungen, wie stark in den letzten Jahren die Zahl der Stunden, die
ein Jugendlicher mit einem Buch verbringt, sich reduziert haben. Es gibt
Jugendliche, das wissen Sie als Kolleginnen und Kollegen sehr gut, die kaum
ein Buch lesen. Und in dieser gesellschaftlichen Situation hat es das Fach
„ästhetische Erziehung“
sehr schwer.
„Bravo“
konkurriert dort mit Goethe
und Frau Knauss,
„Alf“
und
„Werner“
mit Picasso und Rembrandt und Jennifer Rush und Peter Maffay mit Brahms und Bach. Ich habe den Eindruck,
ästhetische Erziehung ist eine Reparaturanstalt, um zu reparieren, was durch
gesellschaftliche Entwicklungen in ganz anderen Bereichen kaputtgemacht
wird, und wahrscheinlich in Zukunft noch stärker kaputtgemacht wird. Wir
werden in absehbarer Zeit hier im Saarland noch mehr Programme im Fernsehen
haben als heute. Analog könnten wir fordern: um so erforderlicher ist
ästhetische Erziehung. [V71:31] Hier möchte
ich anknüpfen an das, was Herr Mollenhauer heute
morgen gesagt hat zur Alphabetisierung von Kunst. Ich glaube in der Tat,
bevor wir über Kunst im Unterricht reden, müssen wir uns erst einmal ganz
konkret einlassen auf den alten Grundsatz: Von der Sache zum Begriff. Die
Sache sind die Medien und die Formen von
„Kunst“
, denen
der Schüler tagtäglich ausgesetzt ist und sich mit ihnen auseinandersetzt.
Das ist ein erster pragmatischer Ansatz für ästhetische Erziehung; es gilt,
zu sensibilisieren in einem Bereich, der in allen Medien sehr wenig sensibel
gehandhabt wird. Und zweitens wäre es auf diesem Weg wichtig, die Medien
selbst einer kritischen Bestandsaufnahme zu unterwerfen.
[V71:32] Ebert:
[V71:33] Was Sie gesagt haben, gilt für die Schule schlechthin.
Die Situation in allen schulischen Bereichen gegenüber den Medien ist
insgesamt so. Deshalb kann die Schule auch nicht so tun als wäre sie
isoliert wie zu Zeiten, wo es keine andere Bildung gab als Schule. Nur –
diese Zeiten sind endgültig vorbei auf allen Sektoren, und das ist auch gar
kein spezifisches Problem ästhetischer Bildung. [V71:34] Die Schule hat eine Doppelaufgabe. Die Gesellschaft
bestimmt, wie die Schule aussieht. Aber die Schule bestimmt auch, wie die
Gesellschaft der Zukunft aussieht. Das ist der Kern der bildungspolitischen
Debatte, mal stärker und mal schwächer. – Wir sind als Lehrer verpflichtet
zum Optimismus, nämlich zu glauben, daß wir in der Schule etwas erreichen
können. Ich glaube nach wie vor daran, daß das auch möglich ist, weil doch
das ganze Mediengeriesel letzten Endes nicht das erbringt, was Schule
leistet. Sonst hätte man Schule längst aufgegeben. Die Medienproblematik
stellt sich also für die Schule insgesamt und nicht spezifisch nur für das
Ästhetische.
|a 43|
[V71:35] Mollenhauer:
[V71:36] Ich habe einen Vorschlag für die Kultusministerien,
insbesondere die Schulträger: bauen Sie vernünftige, freundliche
Schularchitektur. Das wäre doch ein sehr wirkungsvoller Beitrag zur
ästhetischen Bildung, der vielleicht effektiver ist als irgendeine
unterrichtliche Bemühung, weil es die ästhetische Umwelt ist, in die das
Kind jeden Tag hineingeht. Denn unsere Schularchitektur ist ja ein
Trauerspiel!
[V71:37] Miller:
[V71:38] Wir sind an einem Punkt angelangt, wo wir die
Ansprüche permanent höherschrauben. Wir türmen Kritikpunkt auf Kritikpunkt;
wir sollten aber auch überlegen, was für konstruktive Ansätze es gibt.
[V71:39] Ein Punkt, der mir in der
Vergangenheit aufgefallen ist, ist der, daß die Leute, die mit Kunst zu tun
haben, sich ständig in der Defensive gegenüber Sachzwängen befinden. Wenn
man ernsthaft meint, daß es eine Nuance zwischen Anschauung und
Begrifflichkeit gibt, dann ist das doch etwas, was man hinsichtlich
ästhetischer Erziehung in andere Fächer als Kunsterziehung übertragen kann.
Wäre es nicht möglich, daß sich Kunsterzieher und Geistes- oder
Naturwissenschaftler zusammensetzen und ihre Bildungsabsichten
zusammenbringen, zumal sich dabei herausstellt, daß scheinbar vollkommen
Unterschiedliches – z. B. in Kunsterziehung und Physik – zumindest in der
historischen Analyse zurückgeführt werden muß auf bestimmte Entscheidungen.
Warum spielte die Zentralperspektive in der Renaissance plötzlich diese
Rolle, und warum wird zur gleichen Zeit eine Physik institutionalisiert, wo
genauso ein individueller Zugang zur Welt propagiert wird? [V71:40] Wir haben mit Denkmodellen zu tun, die auf
historische Entscheidungen zurückzuführen sind, die ihrerseits oft am Ende
eines schöpferischen, initiierten Prozesses gestanden haben. Ich denke, das
ist etwas, was man sinnlich erfahrbar machen kann, und was zu einem
Austausch ästhetischer und kognitiver Elemente in der Schulbildung führen
kann.
[V71:41] Ebert:
[V71:42] Hier müssen wir den Begriff der Freiheit einführen,
und zwar zuerst einmal der Freiheit des Lehrers. Was Sie ansprechen,
bedeutet doch nichts anderes, als daß man diese Freiheit weitergibt an den
Schüler. In der Welt unserer Kinder spielt Phantasie eine zentrale Rolle,
ganz im Gegensatz zur Welt der Erwachsenen. Wenn sie beispielsweise basteln
und bauen, macht es nichts, wenn dieses oder jenes Detail fehlt; auch ein
Auto ohne Lenkrad ist dann noch ein Auto. Diese Phantasie, diese Freiheit
der Gestaltung, wird sie unseren Kindern ausgetrieben? Die Phantasie schafft
unseren Kindern eine eigene Welt, und wir sollten uns hüten, hier etwas zu
früh zu zerstören, in der Schule oder anderswo.
[V71:43] Miller:
[V71:44] Wie reagiert die kultus-bürokratische Welt auf solche
Forderungen, Herr Jennewein? Sie sollen
andere Schulen bauen. Sie sollen mehr Freiräume schaffen, am be|a 44|sten die Zensuren abschaffen. Sie haben selber gegen
die inhaltlich vorgegebenen Normen polemisiert. Was tun Sie dagegen im
Kultusministerium?
[V71:45] Jennewein:
[V71:46] Schulen sind gebaut; die stehen. Schulträger im
Saarland ist nur zu einem geringen Teil das Land selbst, überwiegend sind es
die Kommune bzw. die Landkreise. Daß unsere Schulen wenig kinderfreundliche
sind, wird – glaube ich – hier ernsthaft von keinem bestritten. Da spielen
die Kosten eine Rolle, das brauche ich nicht zu betonen. [V71:47] Skeptisch bin ich, die Freiheit des Lehrers
an Schüler weiterzugeben. Schule ist organisiertes Lernen innerhalb einer
Gruppe. Ich wäre froh, wenn in diesen Fächern, die sich mit ästhetischer
Erziehung befassen, Freiheit in stärkerem Maße den Lehrern gegeben würde. Es
ist ein Unterschied zwischen ästhetischer Erziehung und Mathematik, Ästhetische Erziehung vermittelt Einstellungen, Werte, geht stark
in einen affektiven Bereich hinein. Und es ist ein Unterschied, wie stark
ein Kind vorher sozialisiert wird, das stärker ist im Bereich der
ästhetischen Erziehung als im Bereich des Fachs Mathematik oder Physik.
[V71:48] Aber auf eines will ich auch
hinweisen: auch die Freiheit eines Kultusministers ist begrenzt. Die
Diskussion um die Benotung in der Grundschule hat uns gezeigt, daß die
Eltern zum Teil auf den Noten beharren, weil sie sich davon eine genauere
Bewertung erwarten. Manche Entwicklungen dauern länger und lassen sich nicht
mit der Brechstange durchsetzen. Das trifft zwei kritische Punkte: der eine
heißt Entrümpelung von Lehrplänen, nicht nur in Fächern wie Kunsterziehung
oder Musik, und der zweite ist eine stärkere Dezentralisierung, d. h., mehr
Freiheit für den Lehrer bei der Gestaltung seines Unterrichtes.
[V71:49] Knauss:
[V71:50] Hier ist zu sehr von allgemeinen Schulfragen die Rede.
Wir sollten wieder auf die Frage ästhetischer Erziehung oder Bildung
zurückkommen, und insbesondere auf die angeschnittene Medienproblematik. Ich
bin hier als Vertreterin für Literatur, und mir liegt daran, daß gelesen
wird. Aber man kann nichts erreichen – weder in der Schule, noch in der
sonstigen Bildungspolitik – wenn man Film bzw. visuelle Medien und Buch bzw.
Lesen, polarisiert und einander entgegenstellt. Das hat schon deshalb keinen
Sinn, weil der Film als Medium ganz entscheidend zur ästhetischen Bildung
dieser Generation beiträgt. Er hat schon zu unserer ästhetischen Bildung
sehr viel beigetragen, um wieviel mehr zur ästhetischen Bildung derer, die
jetzt heranwachsen. Für die Schule kann das nur heißen, daß sie den Film als
Medium, als Kunstform endlich auch in die Lehrpläne der Schulen übernimmt,
in Fächer, wo er hingehört, nämlich in Deutsch und bildende Kunst. Es gibt
ja nicht nur irgendwelche Spielfilmserien, die Kinder nachmittags im
Fernsehen sehen, es gibt auch den künstlerischen Trickfilm, es gibt Filme,
die berechtigt den Anspruch erheben können, ein künstlerisches Medium zu
sein.
|a 45|
[V71:51] Wilden (aus
dem Plenum):
[V71:52] Wenn es stimmt – Untersuchungen in
Nordrhein-Westfalen haben bei Schülern von Gymnasien und Hauptschulen in
Dortmund einen durchschnittlichen Fernsehkonsum von etwa 3,6 Stunden pro Tag
festgestellt – wenn es also stimmt, daß wir die Nachmittags- und
Abendgestaltung im Leben der Kinder nicht verändern können, weil wir keinen
Einfluß auf diese Zeit haben, dann muß man aber nach den Konsequenzen für
die Veränderung des Vormittags fragen. Es besteht keine Möglichkeit, die
Gesellschaft zu verändern, aber es gibt die Möglichkeit darüber
nachzudenken, wie sich der Unterricht am Vormittag verändern kann. Und dann
wäre es vielleicht wichtig, darüber nachzudenken, wie man Kunst, wie man
ästhetischen Produktionen begegnen kann – als Individuum, als einzelner
Schüler, als einzelne Schülerin. Doch dann stellt sich zunächst gar nicht
die Frage nach der Leistungsbewertung durch Noten. Vielmehr sollten wir
fragen: wie können wir solche Begegnungen mit Kunst ermöglichen? Ich kann
nicht sagen, ob man Literatur durch Lesen erschließt. Vielleicht ist es auch
kein Film, sondern ein Bild, von dem ich hoffe, daß die Jugendlichen etwas
damit anfangen können. Daß es etwas in ihnen auslöst, etwas, was ich nicht
beschreiben kann, was die Kinder auch vielleicht gar nicht zu einer
Beschreibung herausfordert, weil sie einfach empfinden. [V71:53] Ich bin mir nicht sicher, Herr Mollenhauer, ob man die Lesbarkeit von Kunst von
der ästhetischen Empfindung trennen sollte in der Schule, damit man einen
Teil benoten kann und den anderen sozusagen sich selbst überläßt. Zerbricht
man da nicht die Einheit?
[V71:54] Mollenhauer:
[V71:55] Ich kann Ihnen eigentlich nur recht geben. Ich habe
nicht gemeint, daß man es sozusagen unterrichts-strategisch voneinander
trennen sollte, ich habe nur gemeint, das sind die beiden wesentlichen
Komponenten. Natürlich denke ich, daß es sich immer um den glücklichen Fall
handelt, wenn beide zusammenkommen, denn wenn es zu nichts anderem als nur
zur Lesbarkeit führt, dann kommt ja das ästhetische Erlebnis überhaupt nicht
zustande.
[V71:56] Ebert:
[V71:57] Ich möchte darauf hinweisen, daß die
„Stiftung Lesen“
an
Programmen arbeitet und auch bereits einige produziert hat, die genau die
Problematik zwischen Fernsehprogrammen und dem Lesen in den Schulen
aufnehmen. Es geschieht also gar nicht so wenig auf diesem Gebiet; das sei
positiv herausgestellt. [V71:58] Ich möchte
jedoch nochmals auf zwei andere Dinge zurückkommen. Erstens: zur
Werte-Erziehung. Mathematik ist auch Werte-Erziehung und zwar in bedeutender
Weise. In der Mathematik geht es um richtige oder falsche Ergebnisse auf der
Basis bestimmter Prämissen. Kunst entzieht sich solcher eindeutiger
Aussagen. Das gleiche gilt für andere, scheinbar wertfreie Disziplinen. Wir
sollten also nicht das eine gegen das andere stellen wollen in Bezug auf
Werte-Erziehung. [V71:59] |a 46|Zweitens, zur Benotung: wenn es so ist, daß etwas pädagogisch
Richtiges, wie die Einschränkung der Benotungspraxis, auf öffentlichen
Widerspruch stößt, dann frage ich mich, wozu wir eine repräsentative
Demokratie haben. Denn eigentlich müßten die Politiker auch den Mut haben,
etwas Richtiges durchzusetzen. Hier wünsche ich einfach den Politikern
generell mehr Mut, und wir werden sie darin unterstützen. Sonst steht die
Schule mit ihrem pädagogischen Auftrag völlig isoliert da.
[V71:60] Knauss:
[V71:61] Ästhetische Bildung heute, kann nur darin bestehen,
daß man Jugendlichen dazu verhilft, auf mündige Weise umzugehen mit den
kulturellen und ästhetischen Einflüssen, denen sie ausgesetzt sind. Es kann
also nicht darum gehen, zu sagen, Lesen hat etwas mit ästhetischer Erziehung
zu tun, und Videos nicht. Und damit kommen wir auch zur Frage zurück: Wie
erziehe ich mündige Menschen? [V71:62] Den
Weg über ästhetische Bildung halte ich für wesentlich. Unsere Kinder müssen
lernen, wie mündige Menschen umzugehen mit den kulturellen Einflüssen, die
vorhanden sind. Wir sollten sie nicht beständig zurechtweisen und fordern:
aber eigentlich sollst du Geige spielen und keine Rockmusik
hören.
[V71:63] Jennewein:
[V71:64] Was Sie sagen, ist in einigen Lehrplänen in anderen
Bundesländern bereits vorhanden. So die Beschäftigung mit dem Medium Film.
Das heißt aber, daß es Kategorien gibt, unter denen ich einen Film
betrachte, im Bereich der Rezeption und der Reflexion. Und zudem besteht die
Möglichkeit, mittels einer Videokamera selbst einen Film zu drehen.
[V71:65] Frau Knauss hat zum ersten Mal den Begriff
genannt, unter dem diese Diskussion eigentlich läuft: Mündigkeit. Ich sehe
dabei unsere Kunsterzieher, unsere Musikerzieher, die einen guten Unterricht
machen, und dann kommt die Forderung: das muß zur Mündigkeit erziehen. Damit
habe ich Probleme. [V71:66] Ist das in einem
Unterricht, der ein oder zwei Stunden pro Woche stattfindet, wirklich
machbar? Das bezweifele ich. Ästhetische Erziehung zur Mündigkeit führt zur
Mündigkeit wie jedes andere Fach auch. Ich bin skeptisch, wie wir Mündigkeit
anders als in anderen Fächern – im politischen Unterricht beispielsweise –
erreichen wollen durch Unterricht in den Fächern ästhetischer
Erziehung.
[V71:67] Ebert:
[V71:68] Ich bin wirklich völlig anderer Meinung. Ich bin
überzeugt, daß ästhetische Erziehung wirklich genausoviel, u. U. mehr
leisten kann als irgendeine politische Bildung. Unterschiede liegen in der
Sache, aber nicht in Bezug auf das Ziel
„Mündigkeit“
.
„Mündigkeit“
wird hier offensichtlich nur politisch
verstanden, oder im Hinblick auf Institutionen. Doch das ist viel zu eng.
Mündigkeit spielt sehr wohl in der Kunsterziehung bzw. ästhetischer
Erziehung eine zentrale Rolle, weil die Freiheit – und darum geht es – diese
zentrale Rolle spielt.
|a 47|
[V71:69] Miller:
[V71:70] Wenn wir von Mündigkeit sprechen, was kann der
Kunstunterricht dazu beitragen? Wir haben von der Lesbarkeit gesprochen; in
einer chaotisch reizüberfüllten Welt kann er helfen, Lesbarkeit der Welt zu
stiften, indem er Codes entschlüsselt. Und er kann zum Beispiel solche
Verzerrungen der Welt, wie sie durch die Medien hervorgerufen werden
zurückrücken. [V71:71] Das heißt aber auch,
es kann sein, daß man die
„römischen Elegien“
oder auch Teile des
„Faust“
aus den Lehrplänen drängen muß, obwohl das
wahrscheinlich die Bastion ist, die zuletzt fällt. Dies ist die
Entscheidung, die jeder von Ihnen treffen muß. Aber andererseits heißt ja
ästhetische Erziehung auch, den Schülerinnen und Schülern Selbstbewußtsein
zu vermitteln im Umgang mit tradierten Kulturformen und Kulturtechniken,
sich also einfach zu trauen, dort Verkrustungen aufzubrechen. Und das ist
etwas, worin Sie als Lehrer Vorbilder sind, daß Sie sich ganz souverän
trauen, trotz allen Sachzwängen, auf die man sich immer zurückziehen kann.
Es kann wichtig sein, einem GoetheFellinis
„Roma“
vorzuziehen
oder auch
„Crocodile
Dundee“
. Das erfordert Mut, und es erfordert vor allem
eine Mündigkeit, die Lehrer erst einmal haben müssen.
[V71:72] Mollenhauer:
[V71:73] Ich stimme der geäußerten Skepsis zu, was die
Leistungsfähigkeit der ästhetischen Bildung in Bezug auf Mündigkeit
betrifft. Ich denke, man müßte genau bestimmen, welches denn der Beitrag der
ästhetischen Bildung überhaupt sein könnte im Hinblick auf da, was wir etwas
niveaulos
„Mündigkeit“
nennen. Natürlich, die Lesbarkeit
– wer über das Alphabet nicht verfügt, der kann sich auch nicht politisch
beteiligen. Lesbarkeit ist sicher eine wichtige Komponente. Und die andere
Komponente würde ich nennen: die Vermittlung einer Selbstsicherheit im
Umgang mit meiner sinnlichen Einbildungskraft. Das ist ein möglicher Beitrag
für Mündigkeit. Nicht, daß damit der Begriff Mündigkeit eingelöst wäre. Es
ist nur ein kleiner Beitrag, und bescheiden würde ich die Ziele formulieren
in diesem Zusammenhang.
[V71:74] Knauss:
[V71:75] Ich möchte verdeutlichen, was ich unter einer
Mündigkeit verstehe, die durch ästhetische Erziehung in der Schule erreicht
werden könnte. Als Beispiel nehme ich den Umgang mit der Werbung. Leute, die
Werbung machen, die kennen das ästhetische Alphabet, die wissen, wie Zeichen
gesetzt werden, damit eine bestimmte Botschaft ankommt. Es muß also um diese
Art des Lesens von ästhetischen Zeichen gehen, die den Schülern vermittelt
werden muß. Ich bin da nicht so skeptisch, ich halte uns für fähig, dies zu
vermitteln. Ich würde das als einen Schritt auf dem Weg zur Erziehung zur
Mündigkeit ansehen im ästhetischen Bereich.
[V71:76] Miller:
[V71:77] Ich glaube, wir können an diesem Punkt schließen. Ich
möchte zum Schluß noch einen kleinen Text von Antoine de Saint-Exupery aus
„Der
kleine Prinz“
vorlesen. |a 48|Vielleicht animiert Sie
das zu selbstbewußtem Auftreten gegenüber den Sachzwängen und auch gegenüber
den Kollegen. Ich glaube nicht, daß der Kunstunterricht es notwendig hat,
sich gegenüber der Mathematik durch Noten aufwerten zu lassen. [V71:78]
„Die großen Leute haben eine Vorliebe für Zahlen.
Wenn er ihnen von einem neuen Freund erzählt, befragen sie euch nie
über das Wesentliche, fragen euch nie: Wie ist der Klang seiner
Stimme? Welche Spiele liebt er am meisten? Sammelt er
Schmetterlinge? Sie fragen euch: Wie alt er ist? Wieviel Brüder hat
er? Wieviel wiegt er? Wieviel verdient sein Vater? Dann erst glauben
sie ihn zu kennen. Wir freilich, die wir wissen, wie das Leben
eigentlich ist, wir machen uns nur lustig über die albernen
Zahlen.“