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Zusammenfassender Bericht über die Beratungen des Arbeitskreises V
Probleme der erziehungswissenschaftlichen Forschung in der
Jugendkriminalrechtspflege
erstattet von Professor Dr. Mollenhauer
[040:1] Der Arbeitskreis litt an drei Schwierigkeiten: Das Thema war so weit
gespannt, daß wir keine kontrollierte Erfahrungsbasis hatten, auf deren Boden
die hier zu diskutierende Probleme in wenigstens andeutungsweise wissenschaftlicher Strenge
hätten behandelt werden können; diejenigen Fragen, die sich mit
wissenschaftlicher Absicht hätten isolieren lassen, sind vornehmlich Gegenstand
von anderen Kreisen gewesen; schließlich war dieser Arbeitskreis belastet durch
den Widerspruch zwischen Strafrecht und Erziehung, der m. E. von Generationen
von Strafrechtslehrern und Pädagogen nicht befriedigend gelöst werden konnte und
den freilich ein Arbeitskreis wie der unsere auch nicht lösen konnte.
[040:2] Ich gliedere meinen Bericht so, daß ich zunächst (1) über den Anlaß und den Ausgangspunkt unserer Diskussion berichte, nämlich über die Denkschrift der
„Arbeiterwohlfahrt“
, die von
Herrn Professor Simonsohn vorgetragen wurde; dann (2) über eine erste Gruppe von Reaktionen auf diesen Bericht; es
folgt (3) eine kurze Überlegung zur widersprüchlichen
Struktur des Diskussionsverlaufs und (4) schließlich eine Exemplifizierung des
Problems an einem konkreten Fall, nämlich dem Jugendstrafvollzug, hier wiederum
mit Hilfe eines Kurzreferats von Herrn Dozenten
Dr. Hofmann über seine
Untersuchungen
„Jugend im Gefängnis“
.
[040:3] Das Referat von Prof. Simonsohn wurde von ihm in folgenden Leitsätzen zusammen gefaßt:
[040:4] 1.
-
1)
[040:5] Ein umfassendes neues
„Jugendhilfegesetz“
soll einige der geltenden Jugendgesetze, insbesondere das Jugendwohlfahrtsgesetz und
das Jugendgerichtsgesetz, ersetzen. Mit einer einheitlichen
Konzeption für alle die Aufgaben der Jugenderziehung und Jugendhilfe, die
gesetzlicher Regelung zugänglich sind, sollen die Aufgaben der Jugendämter
und der bisherigen Vormundschafts- und Jugendgerichte neu geordnet werden.
Damit wird der international anerkannten Tatsache Rechnung getragen, daß –
pädagogisch gesehen –
„Jugendverwahrlosung“
und
„Jugendkriminalität“
nur verschiedene Ausdrucksformen
einer Fehlentwicklung darstellen, der der Ausdruck
„Dissozialität“
(oder
„Delinquenz“
) besser
entsprechen würde.
-
2)
[040:6] Die Stellung der Jugendämter soll gestärkt werden, indem ihnen
in ihrem Bereich die Verantwortung für alle erzieherischen Hilfen übertragen
wird. Neben ihrer besseren personellen und finanziellen Ausrüstung bedarf es
des Ausbaus der ambulanten oder
„offenen“
Erziehungs- und
Bildungshilfen. |a 148|Dazu ist u. a. die Schaffung
zweckgerechter örtlicher Einrichtungen – von Erziehungsberatungsstellen,
Tagesstätten, Freizeitheimen usw. – erforderlich, die Erziehungshilfen in
enger Zusammenarbeit mit den Eltern und unter Belassung des Kindes oder
Jugendlichen in der Familie ermöglichen und Heimerziehung soweit wie möglich
vermeiden sollen. Der freiwilligen Vereinbarung von Erziehungshilfen mit den
Eltern soll der Vorrang vor gerichtlich angeordneten Maßnahmen gegeben
werden.
-
3)
[040:7] Ein neues
„Jugendgericht“
soll künftig – an
Stelle des jetzigen Jugendstrafgerichtes und des Vormundschaftsgerichtes –
alle gerichtlich notwendigen Entscheidungen treffen, die für Erziehung und
Entwicklung von Minderjährigen wesentlich sind. Wichtige
vormundschaftsrichterliche Entscheidungen über Fragen der elterlichen Gewalt
sollen künftig also auch von dem kollegial besetzten
„Jugendgericht“
in einem förmlichen Verfahren getroffen werden (und
nicht mehr wie bisher von einem Einzelrichter ohne mündliche Anhörung der
Beteiligten). Dieses Gericht soll sowohl mit sachkundigen Berufsrichtern wie
mit sachkundigen Beisitzern besetzt werden.
-
4)
[040:8] Dem neuen
„Jugendgericht“
soll ein
umfangreicher, sehr differenzierter Katalog von möglichen Maßnahmen zur
Verfügung stehen, mit denen es in konsequenter Verwirklichung des
Erziehungsgedankens den jeweiligen erzieherischen Notwendigkeiten des
einzelnen jungen Menschen gerecht werden kann. Mit diesem Maßnahmenkatalog,
der Freiheitsstrafen für Minderjährige grundsätzlich ausschließt, werden
ganz neue Möglichkeiten und Einrichtungen für die Behebung der
Fehlentwicklung und die soziale Eingliederung jugendlicher
„Dissozialer“
vorgeschlagen. Die derzeitige Jugendstrafe mit einer
Mindestzeit von sechs Monaten soll durch einen neuen Erziehungsvollzug von
mindestens einjähriger und höchstens fünfjähriger Dauer ersetzt werden, der
für über 16jährige junge Menschen gedacht ist. Die Dauer soll im Einzelfall
je nach den Erziehungsnotwendigkeiten bestimmt werden, da statistisch
einwandfrei erwiesen ist, daß junge Menschen mit kurzfristigen und zeitlich
bestimmten Freiheitsstrafen eine weit höhere Rückfallquote aufzeigen als die
jungen Menschen, denen eine bereits jetzt mögliche, zeitlich individuell zu
bestimmende Freiheitsstrafe auferlegt wurde.
-
5)
[040:9] Bei über 18jährigen Heranwachsenden soll in bestimmten Fällen
von längerem Erziehungsvollzug abgesehen werden können, wenn dieser nach
Lage des Falles nicht erforderlich erscheint. Bei Heranwachsenden, die Taten
begangen haben, die bei Erwachsenen mit schwerer Zuchthausstrafe bedroht
werden, soll auch künftig Jugendstrafe bis zu fünfzehn Jahren angeordnet
werden können, die in den bisherigen Jugendstrafanstalten vollzogen werden
soll. Die Kommission der
Arbeiterwohlfahrt hat bei dieser Gruppe bewußt das Prinzip
durchbrochen, Freiheitsstrafen bei Minderjährigen ganz auszuschließen, um
mit diesem Zugeständnis in der Öffentlichkeit mehr Verständnis für ihre
sonstigen Vorschläge zu finden.
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-
6)
[040:10]
Die Vorschläge der Kommisssion zur Reform des Jugendrechts werden nicht schnell
realisiert werden können, wirksam aber nur dann zu verwirklichen sein,
wenn die gleichzeitige Erfüllung folgender Forderungen sichergestellt
wird:
-
–
Gewinnung der breiten Öffentlikeit für die Einsicht in die Notwendigkeit einer grundlegenden
Reform von Recht und Praxis der Jugendhilfe,
-
–
Förderung der wissenschaftlichen Fundierung der Jugendhilfe in
Forschung und Lehre,
-
–
Verbesserung der Ausbildung und Fortbildung und der
Arbeitsbedingungen der Jugendrichter, Jugendstaatsanwälte und
Fachkräfte der Jugendhilfe, einschließlich der
Vollzugsbediensteten,
-
–
Bedarfsfeststellung für die künftig erforderlichen Einrichtungen
und Veranstaltungen der Jugendhilfe auf Grund einer zwischen den
Ländern und Gemeinden abzustimmenden langfristigen Planung.
[040:11] 2. Die erste Reaktion des Arbeitskreises auf diese
Vorschläge war eher zurückhaltend. Es wurde mit Nachdruck darauf hingewiesen,
daß es sich vielleicht nicht eindeutig genug um den Vorschlag wirklicher
Neuregelungen handelt, sondern – jedenfallls konnte das nicht zwingend ausgeschlossen werden – um eine Umbenennung
und Umformulierung von Problemen und Regelungen, die bisher schon geläufig sind.
Unter diesem gegen die Denkschrift vorgetragenen kritischen Gesichtspunkt wurde besonders
auf eine Reihe von Defiziten in der gegenwärtigen Jugendstrafrechtspflege und
Jugendhilfepraxis hingewiesen, Defizite, die durchaus im Rahmen des geltenden
Rechts auszugleichen seien. Der Ausgleich dieser Defizite – so war die Meinung –
bedürfe nicht einer Veränderung oder Verbesserung des geltenden rechtlichen
Rahmens, sondern könne unter den gegebenen Bedingungen durchaus gewährleistet
werden. Von zwei Gruppen solcher Defizite und entsprechender Maßnahmen war vor
allen Dingen die Rede: einer Gruppe organisatorischer und einer Gruppe
sozialpsychologischer bzw. soziologischer Bedingungen.
[040:12] Die Defizite organisatorischer Art wurden innnerhalb des Arbeitskreises vor allem in folgenden drei Punkten
zusammengefaßt:
-
1)
[040:13] das Defizit der fehlenden, zum mindesten nicht befriedigenden
Ausbildung und Fortbildung der Jugendrichter, soweit diese Ausbildung sich
gerade auf die pädagogischen und kriminologischen Implikationen ihrer
eigenen Berufstätigkeit bezieht;
-
2)
[040:14] das Defizit im Ausbildungsniveau und in den Ausbildungsgängen
auch anderer Mitarbeiter, solcher Mitarbeiter nämlich, die bei der
Durchführung von Maßnahmen innerhalb der Jugendstrafrechtspflege mitzuwirken
gehalten sind;
-
3)
[040:15] das Defizit der materiellen Bedingungen, das vielfach Anlaß
dafür ist, daß der Sinn, der den rechtlichen Regelungen des Jugendgerichtsgesetzes innewohnt, nicht zureichend erfüllt
werden kann, so daß es zunächst einmal notwendig wäre, |a 150|diese Bedingungen zu erfüllen, ehe man an eine Veränderung des
rechtlichen Rahmens denkt.
[040:16] Bei der zweiten Gruppe der Defizite, den sozialpsychologischen
bzw. soziologischen Bedingungen, handelt es sich ebenfalls um drei
Tatbestände:
-
1)
[040:17] um den bemerkenswerten und nicht nur in Kreisen der
Jugendkriminalrechtspflege bemerkbar gewordenen Sachverhalt, daß die soziale
Herkunft der Richter deutlich homogen ist. Diese Homogenität in der mittelständigen Herkunft bewirkt offenbar so etwas wie ein Unverständnis im Umgang
mit gerade solchen Jugendlichen, die aus ganz anderen sozialnormativen
Horizonten kommen, d. h. aus ganz anderen sozialen Schichten mit anderen
Gewohnheiten, mit anderen Normen- und Wertvorstellungen;
-
2)
[040:18] die Abhängigkeit des Richters von der Öffentlichkeit und die
Einstellung der Öffentlichkeit zur Jugendkriminalrechtspflege. Es handelt
sich hier vermutlich um zwei Seiten derselben Sache. Es ist nicht nur so –
so wurde gesagt –, daß die Öffentlichkeit den Vorgängen innerhalb der
Jugendstrafrechtspflege immer noch zu wenig Verständnis entgegenbringt,
sondern es ist mindestens zu vermuten, daß mancher Jugendrichter diejenige
Bewegungsfreiheit, die er gegenüber den öffentlichen Erwartungen durchaus
hat, vielleicht nicht in dem Maße ausnutzt, in dem er es tun könnte oder gar
tun sollte. Auch Richter sind trotz aller formalen Autonomie – meist nicht
bewußt – abhängig von den Voreinstellungen und Vorurteilen ihrer eigenen
sozialen Schicht; sie sind außerdem abhängig, mehr oder weniger bewußt,
nicht nur von den manifesten Reaktionen der Öffentlichkeit, sondern auch von
den von ihnen vermuteten Reaktionen der Öffentlichkeit auf Urteile und
Maßnahmen.
-
3)
[040:19] Die dritte Schwierigkeit in diesem Komplex der
sozialpsychologischen Bedingungen – so hieß es – liege in dem immer noch
nicht bewältigten Verhältnis von Erziehung und Strafe, in der merkwürdigen
Dichotomie, die die Praxis immer noch zu formen scheint, daß nämlich Strafe
und Erziehung gleichsam zwei auseinanderfallende Akte des gesamten Vorganges
der Wiedereingliederung oder der Eingliederung junger Menschen in diese
Gesellschaft darstellen. Zu einer Aufhebung oder Bewältigung dieses
Widerspruchs sei es indessen immer noch nicht oder doch nicht befriedigend
gekommen.
[040:20] Es ist deutlich, daß diese zweite Gruppe der sozialpsychologischen
oder soziologischen Bedingungen nicht in der gleichen Weise verfügbar ist wie
die erste Gruppe der organisatorischen Bedingungen. Die Tatbestände der zweiten
Gruppe entziehen sich offenbar dem unmittelbar planenden Eingriff. Sie entziehen
sich auch einer Veränderung, die versucht, auf dem Wege des Appells etwas zu
erreichen. Darin lag in gewisser Weise die Ironie dieser Diskussionen: Der
Arbeitskreis wiederholte mit solchen Vorschlägen eben eine häufige rhetorische
Figur der Jugendstrafrechtspflege, nämlich den verbalen Appell an bessere
Gesinnung und besseres Verhalten. Auch die Verhandlung vor dem Richter hat ja
eine ähnliche Gestalt. Auch sie ist ja ein |a 151|moralischer
Appell, unterstützt durch physische Gewalt bzw. drohende physische Gewalt. Dabei
wurde innerhalb der Arbeitsgruppe ein Widerspruch in den Diskussionen deutlich,
der als Gegensatz zweier Gruppen oder zweier Interessenrichtungen begriffen
werden muß: Auf der einen Seite nämlich gab es Teilnehmer, die von der Annahme
ausgingen, daß die gegebenen rechtlichen Bedingungen durchaus ausreichend seien,
um eine sachgerechte Praxis zu ermöglichen; sie gingen darüber hinaus vielleicht
sogar von der Annahme aus, daß auch die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen
durchaus ausreichend seien, um den Erziehungszweck innerhalb der
Jugendstrafrechtspflege voll befriedigend oder doch ausreichend zu realisieren,
wenn nur genügend guter Sachverstand und Wille vorhanden sei. Demgegenüber war
eine andere Gruppe der Meinung, daß genau diese Annahme eigentlich nicht zu
halten sei, sondern daß vielmehr zu fragen sei, woran es denn liege, daß die
vorgetragenen und beklagten Defizite innerhalb der Jugendkriminalrechtspflege
nicht verschwinden, sondern über Jahre oder Jahrzehnte hinweg gleichsam konstant
bleiben. Es könne nicht allein am guten Willen von einzelnen liegen, es könne
nicht nur daran liegen, daß zufällig der staatliche Geldgeber hier und da nicht
so viel bereitstellt, wie bereitgestellt werden müsse, sondern es müsse an
Problemen liegen, die eben mit der Institution im ganzen etwas zu tun haben oder
möglicherweise mit der Gesellschaft, innerhalb derer so etwas geschieht. Wir
waren der Meinung, daß es sich um eine Frage handelt, die in der Arbeitsgruppe
nicht entscheidbar war; es ist aber eine Frage, die empirisch entschieden werden
könnte, aber eben nicht in dem Rahmen solcher Kongresse. Wir haben uns deshalb
damit begnügt, diese beiden Annahmen gegenüberzustellen und jedenfalls deutlich
zu machen, daß eine Klärung der Richtigkeit der einen oder anderen Annahme für
die weitere Entwicklung der Jugendstrafrechtspflege von großer Bedeutung
ist.
[040:21] In dieser Kontroverse, die sich im Grunde genommen als ein schwelender
Konflikt durch die beiden Verhandlungstage hindurchzog, kam noch etwas anderes
zum Vorschein, nämlich eine unterschiedliche Einstellung dieser Kreise zu dem,
was man traditionellerweise mit einem vielleicht nicht sehr glücklichen und
wissenschaftlich auch nicht sehr brauchbaren Ausdruck die Frage des
Menschenbildes nennt. Es wurde nämlich den Verfassern der Denkschrift der
Arbeiterwohlfahrt vorgeworfen, daß sie mit einer Vorstellung von
Menschen operieren, die den tatsächlichen Gegebenheiten, mit denen man
insbesondere bei dissozialen Jugendlichen rechnen müsse, nur ungenügend Rechnung
trägt. Es wurde vorgeworfen, daß hier eine idealistische oder gar illusionäre
Anthropologie zum Vorschein komme. Es wurde – wenn auch in anderen Worten – ihr
vorgeworfen, ein
„utopisches“
Konzept entwickelt zu
haben.
[040:22] Dem wurde entgegnet, daß es sich bei diesen Voraussetzungen gerade
nicht um
„utopische“
Voraussetzungen handelt, sondern um
bestimmte Prinzipien, an denen festzuhalten auf jeden Fall geboten ist,
unabhängig davon, in welcher Annäherung an diese Prinzipien die Praxis ihre
Gestalt gewinnt. Es wurde konkret darauf hingewiesen, daß man nichts anderes tue
und daß auch die Verfasser der Denkschrift
|a 152|nichts anderes zu tun versucht haben, als den Begriff
der Menschenwürde ernst zu nehmen und ihn konsequent auch auf die sog.
dissozialen Jugendlichen hin zu Ende zu denken. Sofern man allerdings solche
Prinzipien, die ja schließlich Prinzipien des Grundgesetzes sind, für utopisch
halten will, würde diese Gruppe, so vermute ich, sich freilich auch utopisch
nennen lassen.
[040:23] 3. Ich gehe damit über das, was wortwörtlich in der
Diskussion zur Sprache kam, hinaus und versuche nun meinerseits eine
Interpretation dieses bisweilen sehr verschlungenen Diskussionsverlaufs. Das
Kreisen um dieses Problem bedeutet nichts anderes, als daß die Frage nach dem
Verhältnis von Recht und Pädagogik zum Vorschein kam. Die Frage nach einer unserer Vorstellungen von vernünftiger Gesellschaft und vernünftigem
Heranwachsen angemessenen Form der Behandlung dissozialer Jugendlicher ist
offenbar kein auf einzelne wissenschaftliche Disziplinen isolierbares Problem.
Es ist offenbar auch kein Problem, das sich in Kooperation einzelner
Wissenschaften schon befriedigend lösen ließe, sondern es ist offenbar ein
gesellschaftspolitisches Problem, das zu erkennen uns allerdings einige
Schwierigkeiten macht. Ich vermute, daß auch hier eine deformation professionelle eine Rolle spielt, nämlich das
unpolitische Bewußtsein zweier Berufsstände, der Juristen und der Pädagogen.
Dergestalt
„frustriert“
versuchte sich der Arbeitskreis dann
schließlich an einem praktischen Problem, und zwar an dem Problem des
Jugendstrafvollzuges, genauer gesagt, an der Frage nach der Wirkungsweise des
isolierenden Anfangsvollzugs. Dr. Hofmann referierte einen Ausschnitt aus seinen
umfangreichen Untersuchungen, nämlich die Frage, welche Wirkungen der
isolierende Anfangsvollzug der Anstalt hat. Er stellte vornehmlich drei typische
Wirkungen heraus:
-
1)
[040:24] die Depersonalisierung, bildhaft zu vergegenwärtigen in der
Tatsache, daß der junge Gefangene beim Eintritt ins Gefängnis seine gesamte
private Kleidung ablegt, durch die Dusche geht und seine neue
Anstaltskleidung anlegt; der Junge werde dadurch gleichsam symbolisch dessen
entkleidet, was er ist oder als was er sich selbst bis dahin verstanden hat.
Eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lage werde auf diese Weise nicht
bewirkt.
-
2)
[040:25] die Regression. Die Situation der Isolierung führe nicht dazu,
in einer Besinnungssituation und Auseinandersetzung mit dem eigenen
Schicksal dieses zu verarbeiten und dann produktiv in den Dienst neuer
Lernleistungen zu stellen, sondern führe im Gegenteil zu Rückschritten oder
zu einem Verhalten, das früheren Entwicklungsstufen entspricht und damit
einer Flucht gleichkommt, die gerade mögliche Lernprozesse blockiert, statt
sie zu fördern;
-
3)
[040:26] die Kompensation in irrealen Tagträumen. Auch in den unter
diesem Begriff zusammengefaßten Beobachtungen zeige sich, daß der junge
Mensch versucht, aus dieser für ihn stark belastenden Situation eher in
andere Bereiche zu flüchten, als eine Verarbeitung des Erfahrenen zu
versuchen, so daß im ganzen eine Entrealisierung der Erlebnis- und
Verhaltensweise zustandekommt, die den |a 153|schlechtesten
Ausgangspunkt für Prozesse darstellt, die man noch pädagogisch nennen
könnte.
[040:27] Solche Beobachtungen veranlaßten die Arbeitsgruppe zu einer kritischen
Diskussion des verbreiteten
„Besinnungstheorems“
. Es handelt
sich hier um eine Annahme, deren Wurzeln im pietistisch-puritanischen
Lebensverständnis zu suchen sind, wo Erweckung und Selbstbesinnung eine gewisse
theologisch begründete Rolle spielten. Heute aber, ihres theologischen
Charakters entkleidet, säkularisiert als mittelständische Restideologie,
entbehrt sie für die Behandlung von Straffälligen der pädagogischen
Legitimation. Um eine mittelständische Restideologie handelt es sich heute
deshalb, weil die im Begriff der Besinnung zum Ausdruck kommende Vermutung,
jemand könne durch gleichsam verbal-intellektuell vorgetragenen Appel oder auf einen solchen Appel hin sein Verhalten ändern, nur unter ganz bestimmten
gesellschaftlichen Bedingungen realistisch ist, dann nämlich, wenn es sich um
Menschen handelt, die im Sozialisationsmilieu des Mittelstandes groß geworden
sind. Das trifft gewiß für Richter und Pädagogen zu, nicht aber für ihre
Probanden, ist jedoch unter einer Bedingung allgemein sinnvoll, nämlich unter
der Bedingung einer psychoanalytischen Therapie. Hier, so wurde auch in der
Diskussion eingewandt, ist ja geradezu das Prinzip der Besinnung Methode
geworden, freilich mit einem Effekt und in einer Art und Weise, die mit der
pietistischen Annahme – und das, glaube ich, kann man nicht deutlich genug sagen
– nichts mehr gemein hat. Die Ähnlichkeit ist nur scheinbar.
[040:28] So gelangte die Arbeitsgruppe in immer neue Aporien hinein, in
Situationen, in denen nun die eine oder andere wissenschaftliche Information
nötig gewesen wäre, über die sie jedoch nicht verfügte, da die einschlägigen
Informationen gleichsam in die anderen Gruppen dieses Jugendgerichtstages abgewandert waren. Aber immerhin ist
das Problemfeld oder doch ein Ausschnitt dieses Problemfeldes in Umrissen
deutlich geworden: Der Ausgangspunkt unserer Diskussion war die Denkschrift der
Arbeiterwohlfahrt. Das Prinzip dieser Denkschrift ist die
einheitliche Behandlung der dissozialen Jugendlichen, die nicht Strafe als
notwendige Folge kriminellen Verhaltens ansieht, sondern – im Sinn der heutigen
„Lerntheorie“
– sich allein als ein Anknüpfen an die
Lernbedürfnisse der Jugendlichen versteht.
„Behandlung“
von
dissozialen Jugendlichen heißt demnach – wenn man diesen Ausdruck überhaupt noch
verwenden will –
„Resozialisierung“
, heißt soziales Lernen
unter Bedingungen, die eine Korrektur früherer Lernprozesse möglich machen. Nur
in dieser Richtung scheint eine angemessene Formulierung der pädagogischen
Aufgabe der
„Jugendstrafrechtspflege“
noch vertretbar zu
sein.
[040:29] In lockerem Zusammenhang mit dem Inhalt der Diskussionen spricht der
Arbeitskreis schließlich zwei Empfehlungen aus:
-
1)
[040:30] ist er der Meinung, daß eine der vordringlichsten Aufgaben der
Deutschen Vereinigung für
Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen in der Zukunft die
Öffentlichkeitsarbeit sein solle, und zwar aufgrund der
gesellschaftspolitischen Implikationen der Fragen, die Gegenstand der
Diskussionen waren. Es wird der |a 154|Deutschen Vereinigung die Gründung
eines Ausschusses für Öffentlichkeitsarbeit empfohlen, die Einstellung eines
Pressereferenten, die Ausarbeitung von Direktiven für die Art und Weise, in
der in unserem Arbeitsbereich Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden und
beständige öffentliche Kontakte unterhalten werden können;
-
2)
[040:31] die Deutsche Vereinigung
für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen möge sich an die
dafür zuständigen Adressaten wenden, um ein Dokumentations- und
Forschungszentrum für die Probleme dissozialen Verhaltens und der Behandlung
von dissozialem Verhalten einzurichten. Der Arbeitsgruppe scheint eine
solche Dokumentation insbesondere deshalb wichtig zu sein, weil nicht nur
die rechtlichen, sondern auch die pädagogischen Fragen überhaupt nicht mehr
zureichend beantwortet werden können, wenn nicht ein gesicherter Überblick
über Erfahrungen, die der Kontrolle unterworfen sind, vorliegt, und zwar aus
den verschiedenen sowohl praktischen wie auch wissenschaftlichen
Bereichen.