Zusammenfassender Bericht über die Beratungen des Arbeitskreises V [Textfassung a]
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Zusammenfassender Bericht über die Beratungen des Arbeitskreises V

Probleme der erziehungswissenschaftlichen Forschung in der Jugendkriminalrechtspflege

erstattet von Professor Dr. Mollenhauer

[040:1] Der Arbeitskreis litt an drei Schwierigkeiten: Das Thema war so weit gespannt, daß wir keine kontrollierte Erfahrungsbasis hatten, auf deren Boden die hier zu diskutierende Probleme in wenigstens andeutungsweise wissenschaftlicher Strenge hätten behandelt werden können; diejenigen Fragen, die sich mit wissenschaftlicher Absicht hätten isolieren lassen, sind vornehmlich Gegenstand von anderen Kreisen gewesen; schließlich war dieser Arbeitskreis belastet durch den Widerspruch zwischen Strafrecht und Erziehung, der m. E. von Generationen von Strafrechtslehrern und Pädagogen nicht befriedigend gelöst werden konnte und den freilich ein Arbeitskreis wie der unsere auch nicht lösen konnte.
[040:2] Ich gliedere meinen Bericht so, daß ich zunächst (1) über den Anlaß und den Ausgangspunkt unserer Diskussion berichte, nämlich über die Denkschrift der
Arbeiterwohlfahrt
, die von Herrn Professor Simonsohn vorgetragen wurde; dann (2) über eine erste Gruppe von Reaktionen auf diesen Bericht; es folgt (3) eine kurze Überlegung zur widersprüchlichen Struktur des Diskussionsverlaufs und (4) schließlich eine Exemplifizierung des Problems an einem konkreten Fall, nämlich dem Jugendstrafvollzug, hier wiederum mit Hilfe eines Kurzreferats von Herrn Dozenten Dr. Hofmann über seine Untersuchungen
Jugend im Gefängnis
.
[040:3] Das Referat von Prof. Simonsohn wurde von ihm in folgenden Leitsätzen zusammen gefaßt:
[040:4] 1.
  1. 1)
    [040:5] Ein umfassendes neues
    Jugendhilfegesetz
    soll einige der geltenden Jugendgesetze, insbesondere das Jugendwohlfahrtsgesetz und das Jugendgerichtsgesetz, ersetzen. Mit einer einheitlichen Konzeption für alle die Aufgaben der Jugenderziehung und Jugendhilfe, die gesetzlicher Regelung zugänglich sind, sollen die Aufgaben der Jugendämter und der bisherigen Vormundschafts- und Jugendgerichte neu geordnet werden. Damit wird der international anerkannten Tatsache Rechnung getragen, daß – pädagogisch gesehen –
    Jugendverwahrlosung
    und
    Jugendkriminalität
    nur verschiedene Ausdrucksformen einer Fehlentwicklung darstellen, der der Ausdruck
    Dissozialität
    (oder
    Delinquenz
    ) besser entsprechen würde.
  2. 2)
    [040:6] Die Stellung der Jugendämter soll gestärkt werden, indem ihnen in ihrem Bereich die Verantwortung für alle erzieherischen Hilfen übertragen wird. Neben ihrer besseren personellen und finanziellen Ausrüstung bedarf es des Ausbaus der ambulanten oder
    offenen
    Erziehungs- und Bildungshilfen. |a 148|Dazu ist u. a. die Schaffung zweckgerechter örtlicher Einrichtungen – von Erziehungsberatungsstellen, Tagesstätten, Freizeitheimen usw. – erforderlich, die Erziehungshilfen in enger Zusammenarbeit mit den Eltern und unter Belassung des Kindes oder Jugendlichen in der Familie ermöglichen und Heimerziehung soweit wie möglich vermeiden sollen. Der freiwilligen Vereinbarung von Erziehungshilfen mit den Eltern soll der Vorrang vor gerichtlich angeordneten Maßnahmen gegeben werden.
  3. 3)
    [040:7] Ein neues
    Jugendgericht
    soll künftig – an Stelle des jetzigen Jugendstrafgerichtes und des Vormundschaftsgerichtes – alle gerichtlich notwendigen Entscheidungen treffen, die für Erziehung und Entwicklung von Minderjährigen wesentlich sind. Wichtige vormundschaftsrichterliche Entscheidungen über Fragen der elterlichen Gewalt sollen künftig also auch von dem kollegial besetzten
    Jugendgericht
    in einem förmlichen Verfahren getroffen werden (und nicht mehr wie bisher von einem Einzelrichter ohne mündliche Anhörung der Beteiligten). Dieses Gericht soll sowohl mit sachkundigen Berufsrichtern wie mit sachkundigen Beisitzern besetzt werden.
  4. 4)
    [040:8] Dem neuen
    Jugendgericht
    soll ein umfangreicher, sehr differenzierter Katalog von möglichen Maßnahmen zur Verfügung stehen, mit denen es in konsequenter Verwirklichung des Erziehungsgedankens den jeweiligen erzieherischen Notwendigkeiten des einzelnen jungen Menschen gerecht werden kann. Mit diesem Maßnahmenkatalog, der Freiheitsstrafen für Minderjährige grundsätzlich ausschließt, werden ganz neue Möglichkeiten und Einrichtungen für die Behebung der Fehlentwicklung und die soziale Eingliederung jugendlicher
    Dissozialer
    vorgeschlagen. Die derzeitige Jugendstrafe mit einer Mindestzeit von sechs Monaten soll durch einen neuen Erziehungsvollzug von mindestens einjähriger und höchstens fünfjähriger Dauer ersetzt werden, der für über 16jährige junge Menschen gedacht ist. Die Dauer soll im Einzelfall je nach den Erziehungsnotwendigkeiten bestimmt werden, da statistisch einwandfrei erwiesen ist, daß junge Menschen mit kurzfristigen und zeitlich bestimmten Freiheitsstrafen eine weit höhere Rückfallquote aufzeigen als die jungen Menschen, denen eine bereits jetzt mögliche, zeitlich individuell zu bestimmende Freiheitsstrafe auferlegt wurde.
  5. 5)
    [040:9] Bei über 18jährigen Heranwachsenden soll in bestimmten Fällen von längerem Erziehungsvollzug abgesehen werden können, wenn dieser nach Lage des Falles nicht erforderlich erscheint. Bei Heranwachsenden, die Taten begangen haben, die bei Erwachsenen mit schwerer Zuchthausstrafe bedroht werden, soll auch künftig Jugendstrafe bis zu fünfzehn Jahren angeordnet werden können, die in den bisherigen Jugendstrafanstalten vollzogen werden soll. Die Kommission der Arbeiterwohlfahrt hat bei dieser Gruppe bewußt das Prinzip durchbrochen, Freiheitsstrafen bei Minderjährigen ganz auszuschließen, um mit diesem Zugeständnis in der Öffentlichkeit mehr Verständnis für ihre sonstigen Vorschläge zu finden.
  6. |a 149|
  7. 6)
    [040:10]
    Die Vorschläge der Kommisssion zur Reform des Jugendrechts werden nicht schnell realisiert werden können, wirksam aber nur dann zu verwirklichen sein, wenn die gleichzeitige Erfüllung folgender Forderungen sichergestellt wird:
    • Gewinnung der breiten Öffentlikeit für die Einsicht in die Notwendigkeit einer grundlegenden Reform von Recht und Praxis der Jugendhilfe,
    • Förderung der wissenschaftlichen Fundierung der Jugendhilfe in Forschung und Lehre,
    • Verbesserung der Ausbildung und Fortbildung und der Arbeitsbedingungen der Jugendrichter, Jugendstaatsanwälte und Fachkräfte der Jugendhilfe, einschließlich der Vollzugsbediensteten,
    • Bedarfsfeststellung für die künftig erforderlichen Einrichtungen und Veranstaltungen der Jugendhilfe auf Grund einer zwischen den Ländern und Gemeinden abzustimmenden langfristigen Planung.
[040:11] 2. Die erste Reaktion des Arbeitskreises auf diese Vorschläge war eher zurückhaltend. Es wurde mit Nachdruck darauf hingewiesen, daß es sich vielleicht nicht eindeutig genug um den Vorschlag wirklicher Neuregelungen handelt, sondern – jedenfallls konnte das nicht zwingend ausgeschlossen werden – um eine Umbenennung und Umformulierung von Problemen und Regelungen, die bisher schon geläufig sind. Unter diesem gegen die Denkschrift vorgetragenen kritischen Gesichtspunkt wurde besonders auf eine Reihe von Defiziten in der gegenwärtigen Jugendstrafrechtspflege und Jugendhilfepraxis hingewiesen, Defizite, die durchaus im Rahmen des geltenden Rechts auszugleichen seien. Der Ausgleich dieser Defizite – so war die Meinung – bedürfe nicht einer Veränderung oder Verbesserung des geltenden rechtlichen Rahmens, sondern könne unter den gegebenen Bedingungen durchaus gewährleistet werden. Von zwei Gruppen solcher Defizite und entsprechender Maßnahmen war vor allen Dingen die Rede: einer Gruppe organisatorischer und einer Gruppe sozialpsychologischer bzw. soziologischer Bedingungen.
[040:12] Die Defizite organisatorischer Art wurden innnerhalb des Arbeitskreises vor allem in folgenden drei Punkten zusammengefaßt:
  1. 1)
    [040:13] das Defizit der fehlenden, zum mindesten nicht befriedigenden Ausbildung und Fortbildung der Jugendrichter, soweit diese Ausbildung sich gerade auf die pädagogischen und kriminologischen Implikationen ihrer eigenen Berufstätigkeit bezieht;
  2. 2)
    [040:14] das Defizit im Ausbildungsniveau und in den Ausbildungsgängen auch anderer Mitarbeiter, solcher Mitarbeiter nämlich, die bei der Durchführung von Maßnahmen innerhalb der Jugendstrafrechtspflege mitzuwirken gehalten sind;
  3. 3)
    [040:15] das Defizit der materiellen Bedingungen, das vielfach Anlaß dafür ist, daß der Sinn, der den rechtlichen Regelungen des Jugendgerichtsgesetzes innewohnt, nicht zureichend erfüllt werden kann, so daß es zunächst einmal notwendig wäre, |a 150|diese Bedingungen zu erfüllen, ehe man an eine Veränderung des rechtlichen Rahmens denkt.
[040:16] Bei der zweiten Gruppe der Defizite, den sozialpsychologischen bzw. soziologischen Bedingungen, handelt es sich ebenfalls um drei Tatbestände:
  1. 1)
    [040:17] um den bemerkenswerten und nicht nur in Kreisen der Jugendkriminalrechtspflege bemerkbar gewordenen Sachverhalt, daß die soziale Herkunft der Richter deutlich homogen ist. Diese Homogenität in der mittelständigen Herkunft bewirkt offenbar so etwas wie ein Unverständnis im Umgang mit gerade solchen Jugendlichen, die aus ganz anderen sozialnormativen Horizonten kommen, d. h. aus ganz anderen sozialen Schichten mit anderen Gewohnheiten, mit anderen Normen- und Wertvorstellungen;
  2. 2)
    [040:18] die Abhängigkeit des Richters von der Öffentlichkeit und die Einstellung der Öffentlichkeit zur Jugendkriminalrechtspflege. Es handelt sich hier vermutlich um zwei Seiten derselben Sache. Es ist nicht nur so – so wurde gesagt –, daß die Öffentlichkeit den Vorgängen innerhalb der Jugendstrafrechtspflege immer noch zu wenig Verständnis entgegenbringt, sondern es ist mindestens zu vermuten, daß mancher Jugendrichter diejenige Bewegungsfreiheit, die er gegenüber den öffentlichen Erwartungen durchaus hat, vielleicht nicht in dem Maße ausnutzt, in dem er es tun könnte oder gar tun sollte. Auch Richter sind trotz aller formalen Autonomie – meist nicht bewußt – abhängig von den Voreinstellungen und Vorurteilen ihrer eigenen sozialen Schicht; sie sind außerdem abhängig, mehr oder weniger bewußt, nicht nur von den manifesten Reaktionen der Öffentlichkeit, sondern auch von den von ihnen vermuteten Reaktionen der Öffentlichkeit auf Urteile und Maßnahmen.
  3. 3)
    [040:19] Die dritte Schwierigkeit in diesem Komplex der sozialpsychologischen Bedingungen – so hieß es – liege in dem immer noch nicht bewältigten Verhältnis von Erziehung und Strafe, in der merkwürdigen Dichotomie, die die Praxis immer noch zu formen scheint, daß nämlich Strafe und Erziehung gleichsam zwei auseinanderfallende Akte des gesamten Vorganges der Wiedereingliederung oder der Eingliederung junger Menschen in diese Gesellschaft darstellen. Zu einer Aufhebung oder Bewältigung dieses Widerspruchs sei es indessen immer noch nicht oder doch nicht befriedigend gekommen.
[040:20] Es ist deutlich, daß diese zweite Gruppe der sozialpsychologischen oder soziologischen Bedingungen nicht in der gleichen Weise verfügbar ist wie die erste Gruppe der organisatorischen Bedingungen. Die Tatbestände der zweiten Gruppe entziehen sich offenbar dem unmittelbar planenden Eingriff. Sie entziehen sich auch einer Veränderung, die versucht, auf dem Wege des Appells etwas zu erreichen. Darin lag in gewisser Weise die Ironie dieser Diskussionen: Der Arbeitskreis wiederholte mit solchen Vorschlägen eben eine häufige rhetorische Figur der Jugendstrafrechtspflege, nämlich den verbalen Appell an bessere Gesinnung und besseres Verhalten. Auch die Verhandlung vor dem Richter hat ja eine ähnliche Gestalt. Auch sie ist ja ein |a 151|moralischer Appell, unterstützt durch physische Gewalt bzw. drohende physische Gewalt. Dabei wurde innerhalb der Arbeitsgruppe ein Widerspruch in den Diskussionen deutlich, der als Gegensatz zweier Gruppen oder zweier Interessenrichtungen begriffen werden muß: Auf der einen Seite nämlich gab es Teilnehmer, die von der Annahme ausgingen, daß die gegebenen rechtlichen Bedingungen durchaus ausreichend seien, um eine sachgerechte Praxis zu ermöglichen; sie gingen darüber hinaus vielleicht sogar von der Annahme aus, daß auch die gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen durchaus ausreichend seien, um den Erziehungszweck innerhalb der Jugendstrafrechtspflege voll befriedigend oder doch ausreichend zu realisieren, wenn nur genügend guter Sachverstand und Wille vorhanden sei. Demgegenüber war eine andere Gruppe der Meinung, daß genau diese Annahme eigentlich nicht zu halten sei, sondern daß vielmehr zu fragen sei, woran es denn liege, daß die vorgetragenen und beklagten Defizite innerhalb der Jugendkriminalrechtspflege nicht verschwinden, sondern über Jahre oder Jahrzehnte hinweg gleichsam konstant bleiben. Es könne nicht allein am guten Willen von einzelnen liegen, es könne nicht nur daran liegen, daß zufällig der staatliche Geldgeber hier und da nicht so viel bereitstellt, wie bereitgestellt werden müsse, sondern es müsse an Problemen liegen, die eben mit der Institution im ganzen etwas zu tun haben oder möglicherweise mit der Gesellschaft, innerhalb derer so etwas geschieht. Wir waren der Meinung, daß es sich um eine Frage handelt, die in der Arbeitsgruppe nicht entscheidbar war; es ist aber eine Frage, die empirisch entschieden werden könnte, aber eben nicht in dem Rahmen solcher Kongresse. Wir haben uns deshalb damit begnügt, diese beiden Annahmen gegenüberzustellen und jedenfalls deutlich zu machen, daß eine Klärung der Richtigkeit der einen oder anderen Annahme für die weitere Entwicklung der Jugendstrafrechtspflege von großer Bedeutung ist.
[040:21] In dieser Kontroverse, die sich im Grunde genommen als ein schwelender Konflikt durch die beiden Verhandlungstage hindurchzog, kam noch etwas anderes zum Vorschein, nämlich eine unterschiedliche Einstellung dieser Kreise zu dem, was man traditionellerweise mit einem vielleicht nicht sehr glücklichen und wissenschaftlich auch nicht sehr brauchbaren Ausdruck die Frage des Menschenbildes nennt. Es wurde nämlich den Verfassern der Denkschrift der Arbeiterwohlfahrt vorgeworfen, daß sie mit einer Vorstellung von Menschen operieren, die den tatsächlichen Gegebenheiten, mit denen man insbesondere bei dissozialen Jugendlichen rechnen müsse, nur ungenügend Rechnung trägt. Es wurde vorgeworfen, daß hier eine idealistische oder gar illusionäre Anthropologie zum Vorschein komme. Es wurde – wenn auch in anderen Worten – ihr vorgeworfen, ein
utopisches
Konzept entwickelt zu haben.
[040:22] Dem wurde entgegnet, daß es sich bei diesen Voraussetzungen gerade nicht um
utopische
Voraussetzungen handelt, sondern um bestimmte Prinzipien, an denen festzuhalten auf jeden Fall geboten ist, unabhängig davon, in welcher Annäherung an diese Prinzipien die Praxis ihre Gestalt gewinnt. Es wurde konkret darauf hingewiesen, daß man nichts anderes tue und daß auch die Verfasser der Denkschrift |a 152|nichts anderes zu tun versucht haben, als den Begriff der Menschenwürde ernst zu nehmen und ihn konsequent auch auf die sog. dissozialen Jugendlichen hin zu Ende zu denken. Sofern man allerdings solche Prinzipien, die ja schließlich Prinzipien des Grundgesetzes sind, für utopisch halten will, würde diese Gruppe, so vermute ich, sich freilich auch utopisch nennen lassen.
[040:23] 3. Ich gehe damit über das, was wortwörtlich in der Diskussion zur Sprache kam, hinaus und versuche nun meinerseits eine Interpretation dieses bisweilen sehr verschlungenen Diskussionsverlaufs. Das Kreisen um dieses Problem bedeutet nichts anderes, als daß die Frage nach dem Verhältnis von Recht und Pädagogik zum Vorschein kam. Die Frage nach einer unserer Vorstellungen von vernünftiger Gesellschaft und vernünftigem Heranwachsen angemessenen Form der Behandlung dissozialer Jugendlicher ist offenbar kein auf einzelne wissenschaftliche Disziplinen isolierbares Problem. Es ist offenbar auch kein Problem, das sich in Kooperation einzelner Wissenschaften schon befriedigend lösen ließe, sondern es ist offenbar ein gesellschaftspolitisches Problem, das zu erkennen uns allerdings einige Schwierigkeiten macht. Ich vermute, daß auch hier eine deformation professionelle eine Rolle spielt, nämlich das unpolitische Bewußtsein zweier Berufsstände, der Juristen und der Pädagogen. Dergestalt
frustriert
versuchte sich der Arbeitskreis dann schließlich an einem praktischen Problem, und zwar an dem Problem des Jugendstrafvollzuges, genauer gesagt, an der Frage nach der Wirkungsweise des isolierenden Anfangsvollzugs. Dr. Hofmann referierte einen Ausschnitt aus seinen umfangreichen Untersuchungen, nämlich die Frage, welche Wirkungen der isolierende Anfangsvollzug der Anstalt hat. Er stellte vornehmlich drei typische Wirkungen heraus:
  1. 1)
    [040:24] die Depersonalisierung, bildhaft zu vergegenwärtigen in der Tatsache, daß der junge Gefangene beim Eintritt ins Gefängnis seine gesamte private Kleidung ablegt, durch die Dusche geht und seine neue Anstaltskleidung anlegt; der Junge werde dadurch gleichsam symbolisch dessen entkleidet, was er ist oder als was er sich selbst bis dahin verstanden hat. Eine Auseinandersetzung mit seiner eigenen Lage werde auf diese Weise nicht bewirkt.
  2. 2)
    [040:25] die Regression. Die Situation der Isolierung führe nicht dazu, in einer Besinnungssituation und Auseinandersetzung mit dem eigenen Schicksal dieses zu verarbeiten und dann produktiv in den Dienst neuer Lernleistungen zu stellen, sondern führe im Gegenteil zu Rückschritten oder zu einem Verhalten, das früheren Entwicklungsstufen entspricht und damit einer Flucht gleichkommt, die gerade mögliche Lernprozesse blockiert, statt sie zu fördern;
  3. 3)
    [040:26] die Kompensation in irrealen Tagträumen. Auch in den unter diesem Begriff zusammengefaßten Beobachtungen zeige sich, daß der junge Mensch versucht, aus dieser für ihn stark belastenden Situation eher in andere Bereiche zu flüchten, als eine Verarbeitung des Erfahrenen zu versuchen, so daß im ganzen eine Entrealisierung der Erlebnis- und Verhaltensweise zustandekommt, die den |a 153|schlechtesten Ausgangspunkt für Prozesse darstellt, die man noch pädagogisch nennen könnte.
[040:27] Solche Beobachtungen veranlaßten die Arbeitsgruppe zu einer kritischen Diskussion des verbreiteten
Besinnungstheorems
. Es handelt sich hier um eine Annahme, deren Wurzeln im pietistisch-puritanischen Lebensverständnis zu suchen sind, wo Erweckung und Selbstbesinnung eine gewisse theologisch begründete Rolle spielten. Heute aber, ihres theologischen Charakters entkleidet, säkularisiert als mittelständische Restideologie, entbehrt sie für die Behandlung von Straffälligen der pädagogischen Legitimation. Um eine mittelständische Restideologie handelt es sich heute deshalb, weil die im Begriff der Besinnung zum Ausdruck kommende Vermutung, jemand könne durch gleichsam verbal-intellektuell vorgetragenen Appel oder auf einen solchen Appel hin sein Verhalten ändern, nur unter ganz bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen realistisch ist, dann nämlich, wenn es sich um Menschen handelt, die im Sozialisationsmilieu des Mittelstandes groß geworden sind. Das trifft gewiß für Richter und Pädagogen zu, nicht aber für ihre Probanden, ist jedoch unter einer Bedingung allgemein sinnvoll, nämlich unter der Bedingung einer psychoanalytischen Therapie. Hier, so wurde auch in der Diskussion eingewandt, ist ja geradezu das Prinzip der Besinnung Methode geworden, freilich mit einem Effekt und in einer Art und Weise, die mit der pietistischen Annahme – und das, glaube ich, kann man nicht deutlich genug sagen – nichts mehr gemein hat. Die Ähnlichkeit ist nur scheinbar.
[040:28] So gelangte die Arbeitsgruppe in immer neue Aporien hinein, in Situationen, in denen nun die eine oder andere wissenschaftliche Information nötig gewesen wäre, über die sie jedoch nicht verfügte, da die einschlägigen Informationen gleichsam in die anderen Gruppen dieses Jugendgerichtstages abgewandert waren. Aber immerhin ist das Problemfeld oder doch ein Ausschnitt dieses Problemfeldes in Umrissen deutlich geworden: Der Ausgangspunkt unserer Diskussion war die Denkschrift der Arbeiterwohlfahrt. Das Prinzip dieser Denkschrift ist die einheitliche Behandlung der dissozialen Jugendlichen, die nicht Strafe als notwendige Folge kriminellen Verhaltens ansieht, sondern – im Sinn der heutigen
Lerntheorie
– sich allein als ein Anknüpfen an die Lernbedürfnisse der Jugendlichen versteht.
Behandlung
von dissozialen Jugendlichen heißt demnach – wenn man diesen Ausdruck überhaupt noch verwenden will –
Resozialisierung
, heißt soziales Lernen unter Bedingungen, die eine Korrektur früherer Lernprozesse möglich machen. Nur in dieser Richtung scheint eine angemessene Formulierung der pädagogischen Aufgabe der
Jugendstrafrechtspflege
noch vertretbar zu sein.
[040:29] In lockerem Zusammenhang mit dem Inhalt der Diskussionen spricht der Arbeitskreis schließlich zwei Empfehlungen aus:
  1. 1)
    [040:30] ist er der Meinung, daß eine der vordringlichsten Aufgaben der Deutschen Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen in der Zukunft die Öffentlichkeitsarbeit sein solle, und zwar aufgrund der gesellschaftspolitischen Implikationen der Fragen, die Gegenstand der Diskussionen waren. Es wird der |a 154|Deutschen Vereinigung die Gründung eines Ausschusses für Öffentlichkeitsarbeit empfohlen, die Einstellung eines Pressereferenten, die Ausarbeitung von Direktiven für die Art und Weise, in der in unserem Arbeitsbereich Öffentlichkeitsarbeit betrieben werden und beständige öffentliche Kontakte unterhalten werden können;
  2. 2)
    [040:31] die Deutsche Vereinigung für Jugendgerichte und Jugendgerichtshilfen möge sich an die dafür zuständigen Adressaten wenden, um ein Dokumentations- und Forschungszentrum für die Probleme dissozialen Verhaltens und der Behandlung von dissozialem Verhalten einzurichten. Der Arbeitsgruppe scheint eine solche Dokumentation insbesondere deshalb wichtig zu sein, weil nicht nur die rechtlichen, sondern auch die pädagogischen Fragen überhaupt nicht mehr zureichend beantwortet werden können, wenn nicht ein gesicherter Überblick über Erfahrungen, die der Kontrolle unterworfen sind, vorliegt, und zwar aus den verschiedenen sowohl praktischen wie auch wissenschaftlichen Bereichen.