Literatur zum Tagungsthema [Textfassung a]
|a 4|

Literatur zum Tagungsthema zusammengestellt von Klaus Mollenhauer

[V14:1]
Es bleibt nichts übrig, als jeden Bürger anzusprechen, ihn zum sinnvollen Gebrauch der politischen Freiheit und zur opferwilligen Verteidigung dieser Freiheit zu bilden, mögen die Verhältnisse dafür so günstig liegen wie in der Schweiz oder so schwierig sein wie im übrigen Mitteleuropa. Mit großer Eindringlichkeit hat Karl Jaspers in seinem Buch über die Atombombe und die Zukunft des Menschen diesen Satz noch einmal erhärtet. Ich darf ihn zitieren:
Der vernünftige Staatsmann weiß, daß der Kampf um Freiheit oder totale Herrschaft vordergründig eine militärische und politische Seite hat, aber er weiß auch, daß im Grunde geistig-sittlich gekämpft und auf die |a 5|Dauer entschieden wird. Mit diesem Wissen sieht er die Erziehung. In ihr ist organisatorisch das Größte zu leisten. An ihr liegt nicht nur der geistige Rang der kommenden Generationen, sondern heute die Entscheidung zwischen Freiheit und totaler Herrschaft und am Ende das Dasein der Menschheit überhaupt
(S. 338). An anderer Stelle heißt es:
Demokratie ist Erziehung
(S. 443),
denn der Volkssouverain ist weder weise, noch gut, noch göttlich. Er muß erst vernünftig werden
(S. 440). Demokratien gedeihen nicht durch den Automatismus ihrer Einrichtungen –
die abstrakt denkenden Politiker des Völkerbundes
, die das geglaubt haben, irrten da sehr (S. 440). Es bedarf einer langen Erziehung, um Demokratien funktionabel zu machen. Freilich kann die planvolle und institutionelle öffentliche Erziehung ... nur einen bescheidenen Teil der Aufgabe übernehmen. Das Fundament muß die Geschichte selbst gelegt haben; sie ermöglicht durch bestimmende Erlebnisse und Taten einem Volk jene Gesinnung, welche man im 18. Jahrhundert als
Patriotismus
bezeichnete, den wir heute vielleicht besser den bewußten Gemeinsinn nennen. Dieses Grundlegende und durch die Geschichte zu Stiftende muß aber bewahrt werden; es muß auch in ganz andersartigen Situationen neu durchdacht werden, es muß praktisch fruchtbar bleiben. Auch dies ist in erster Linie eine Frage des öffentlichen Geistes und der Elternhäuser. Aber wenn diese Gesinnung gestiftet ist, muß sie im Bewußtsein erhalten, verstanden und geübt werden; hier muß die öffentliche Erziehung eingreifen ...
[V14:2]
(W. Flitner, Das pädagogische Problem der Freiheit, in: Erziehung zur Freiheit, hrsg. von A. Hunold, Zürich 1959, S. 141 f.)
[V14:3]
Die Art und Weise, in der der Erzieher die
Führungs- und Vorbildrolle
dem Kinde gegenüber geltend macht, und die Einstellung, aus der heraus er das Kind auf eine autoritär organisierte Großgesellschaft oder aber auf eine sich demokratisierende gesellschaftliche Ordnung vorbereitet, können ebenso entscheidend voneinander differieren, wie das Verhalten der erwachsenen Personen innerhalb einer autoritären Ordnung von ihrem Verhalten in einer sich demokratisierenden Ordnung differiert. Es gibt deswegen auch keinen zureichenden Grund dafür, die Autorität im Erziehungsbereich von den Autoritätsverhältnissen der erwachsenen Gesellschaft ganz abzutrennen und zu einer autonomen Autoritätsform isolierter Art zu machen. [V14:4] Das erscheint mir ebenso illusionär wie der Versuch, ein quer durch die Sozial- und Kulturgeschichte hindurch gleichbleibendes Urphänomen der Vater- und Mutterrolle zu konstruieren, wenn damit mehr als der Hinweis auf den biogenen Einschlag in der Vater- resp. Mutter- und Kindbeziehung gemeint sein soll. Vater und Mutter oder die sie vertretenden Erziehungspersonen sind niemals nur Vater und Mutter in ihrer biologisch zu verstehenden Rollen oder niemals nur Erziehungspersonen mit den biogenen Reifungsunterschieden, sondern immer auch Repräsentanten einer gesellschaftlichen Ordnung und Autoritätsform gewesen, in die sie selbst hineingewachsen sind, und durch deren Verhaltensmuster ihr Charakter und ihr eigenes Verhalten den Kindern gegenüber geprägt wurde. Daher findet der Autoritätswandel der größeren Gesellschaft naheliegenderweise auch seine Entsprechung in den Veränderungen der Familie.
[V14:5]
(W. Strzelewicz, Der Autoritätswandel in Gesellschaft und Erziehung, in: Die Deutsche Schule, 1961/4, S. 164 f.)
|a 6|
[V14:6] (Der folgende Text ist eine Zusammenfassung empirischer Forschungsergebnisse zum Problem des sogenannten
autoritären Charakters
)
[V14:7]
Der autoritäre Charakter
[V14:8]
hält starr an konventionellen Werten auf Kosten jeder autonomen, moralischen Entscheidung fest ...
[V14:9]
Er hängt dem Schwarz-Weiß-Denken an. Weiß ist die eigene Gruppe, schwarz die andere, fremde Gruppe. Alles Andersartige wird heftig verworfen.
[V14:10]
Er haßt alles, was schwach ist, und nennt es eine
Last
oder einen
Fremdkörper
... Er widersetzt sich heftig jeder Selbstkritik, untersucht nie seine eigenen Motive, sondern schiebt stets anderen Personen oder äußeren, physischen oder
natürlichen
Umständen die Schuld für ein Mißgeschick zu.
[V14:11]
Er denkt in Stereotypen ... Das Individuum erscheint als bloßes Exemplar seiner Gattung.
[V14:12]
Er betont unveränderliche Merkmale (z.B. Erbanlagen gegenüber sozialen Determinanten).
[V14:13]
Er denkt in hierarchischen Begriffen –
Leute an der Spitze, ganz unten und so weiter
.
[V14:14]
Er ist pseudo-konservativ; d. h. er schickt sich in die Beibehaltung des
status quo
, freies Unternehmertum und dergleichen; aber ist derart rachsüchtig gegenüber allen politischen Gegnern, daß seine Affinität zum Despotismus deutlich wird:
Es muß unbedingt etwas geschehen.
[V14:15]
Er glaubt an den
Durchschnitt
, mit dem er sich identifiziert, in Opposition zu den Intellektuellen, dem
Snob
usw. Er sieht in Erfolg, Popularität und ähnlichen Kriterien die einzigen Maßstäbe menschlichen Wertes.
[V14:16]
Während sein eigenes Wertsystem seine starke Gier nach Macht offenbart, beschuldigt er stets die Fremdgruppe des Machtstrebens, der Intrigen und ähnlicher Dinge ...
[V14:17]
Er ist durch und durch
autoritär
, d. h. er akzeptiert Autorität um ihrer selbst willen und fordert ihre rigorose Anwendung. Seine verdrängte Rebellion gegen Autorität richtet sich ausschließlich gegen die Schwachen.
[V14:18]
In geschlechtlicher Hinsicht überwertet er das Ideal des
Normalen
. Der Mann schätzt Männlichkeit über alles, die Frau möchte den Inbegriff der Weiblichkeit verkörpern.
[V14:19]
Er neigt dazu den subjektiven, phantasievollen Menschen abzulehnen.
[V14:20]
Er zeigt kein Mitleid mit den Armen. Sein Gefühlsleben ist im wesentlichen kalt und oberflächlich.
[V14:21]
Seine allgemeine Neigung zur Veräußerlichung macht ihn empfänglich für alle Arten von Aberglauben; es sei denn, sein Bildungsniveau liegt sehr hoch.
[V14:22]
Er ist schlechthin ein Verächter der Menschen, glaubt an ihre angeborene böse Natur und macht sich oft eine zynische Philosophie zu eigen, die in Widerspruch zu seiner konventionellen Übereinstimmung mit
idealen Werten
steht.
[V14:23]
Er betont ständig das Positive und lehnt kritische Einstellungen als destruktiv ab; in seiner spontanen Phantasie hingegen offenbart er selbst stark zerstörerische Tendenzen ... Er interessiert sich im allgemeinen mehr für Mittel als für Zwecke. Dinge sind ihm wichtiger als Menschen, und in den Menschen sieht er hauptsächlich Werkzeuge oder Hindernisse – also Dinge.
[V14:24] |a 7|
Er verbirgt seine stereotype inhumane Einstellung durch Personalisierungen. Wenn er nach Schuld und Schuldigen sucht, denkt er nicht an eine objektive Reihe von Ereignissen, sondern an unfähige, ehrlose, korrupte Menschen, Umgekehrt erwartet er alles Gute von starken Männern, von
Führern
. Er besteht auf sexueller Reinheit, Moralität oder zumindest Normalität, ist aber zugleich von sexuellen Vorstellungen besessen und wittert überall
Laster
. Wenn er von den bösen Mächten spricht, verweilt er gern bei Orgien, sexuellen Perversionen und dergleichen.
[V14:25]
Er idealisiert seine Eltern. Dies verhüllt aber oft nur schwach seine Feindseligkeit. Er kennt keine starken Gefühlsbindungen. Die Begriffe Tausch und Gegenleistung beherrschen sein Denken, und oft beklagt er sich, daß er nicht soviel empfing, wie er gab ...
[V14:26]
Er ist, zumindest oberflächlich,
gut angepaßt
; er zeigt eher psychotische als neurotische Symptome. Er glaubt an eine Reihe von Idealen, die obwohl allgemein von seinem Typ akzeptiert, sich in extremen Fällen Wahnvorstellungen nähern ...
[V14:27]
Er mißt dem Ideal der Reinheit, Ordnung, Sauberkeit und ähnlicher Merkmale übertriebene Bedeutung zu.
[V14:28]
Er beklagt sich über die niedrigen, materialistischen Beweggründe der anderen, aber er selbst denkt sehr oft ans Geld. Er bekennt sich zum offiziellen Optimismus; Pessimismus ist dekadent.
[V14:29]
Trotz seiner allgemeinen Verachtung für seine Zeitgenossen verleugnet er nicht nur seine inneren Konflikte, sondern auch Zwistigkeiten in der Familie und in der Gruppe, der er sich zugehörig fühlt. Das sind alles
wunderbare Leute
.
[V14:30]
Er ist ständig um seinen eigenen sozialen Status wie den seiner Familie besorgt.
[V14:31]
(M. Horkheimer, Autorität und Familie in der Gegenwart, in: Erkenntnis und Verantwortung, Festschrift für Theodor Litt, hrsg. von Josef Derbolav und Friedhelm Nicolin, Düsseldorf 1960.)
[V14:32] Zusatz: Er bezieht die meisten dieser Behauptungen nicht auf sich, sondern weist sie als bösartige Verleumdung zurück.
[V14:33]
Offenbar
stehen die Bemühungen um eine pädagogische Autorität, die nicht Unterdrückung ist, vor fast unüberwindlichen Schwierigkeiten. Nicht nur wird die Entwicklung eines autoritären Charakters schon in der Familie vielfach derart gefestigt, daß der Erzieher scheitern muß, weil seine Güte dem, der nur Zwang kennt, als Schwäche erscheint, – auch die ideologische Erbschaft des faschistischen Staates ist keineswegs überwunden, vielmehr wird seine autoritäre Ordnung noch weitgehend als vorbildlich empfunden. Hinzu kommt, daß selbst in unserem demokratischen Staat die Möglichkeit vergleichsweise gering ist, reale Gleichheit und Solidarität lebendig zu erfahren. Als Arbeiter, Angestellter, Beamter, Glied einer Kirche und als Soldat verbringt der einzelne sein Leben in autoritär strukturierten Hierarchien. Sein gesamtes Verhalten ist tief geprägt von der Notwendigkeit, sich ihnen anzupassen.
[V14:34]
Die Forderung einer pädagogischen Autorität auf der Grundlage wesentlicher Gleichheit der Partner im Erziehungsprozeß steht also weithin im Gegensatz zur gesamtgesellschaftlichen Praxis. Nicht in der immer wieder behaupteten Nivellierung der Ordnungen unseres Lebens scheint das eigentliche Problem zu bestehen, sondern in dem Widerspruch zwischen der Existenz autoritärer Hierarchien, die sich auf Macht oder Mythos gründen, und der Forderung, daß Autorität sich vor dem kritischen Bewußtsein zu rechtfertigen habe. Dieses Dilemma prägt unser Verhalten als Bürger, |a 8|Eltern und Lehrer: wir definieren Kultur als Produkt unserer Freiheit und handeln doch der These Freuds entsprechend: daß sie nur möglich sei als Folge von Unterdrückung. Wir schwanken zwischen Auftrumpfen und bequemem Nachgeben; denn das schlechte Gewissen absoluter und irrationaler Autorität bedeutet noch nicht den Mut zu dem immer wieder diffamierten Versuch, Autorität aus konkreten Vorstellungen über ein glückliches menschliches Leben zu rechtfertigen. Zwar ist die Versuchung groß, angesichts der Widerstände zu resignieren, doch eins scheint sicher: jeder Rückfall in autoritäre Formen kann den Zirkel von Zwang und ohnmächtiger Unterwerfung nur noch fester schließen. Der Erzieher sollte den Glauben nicht aufgeben, daß die Einsicht in den Zwangscharakter autoritärer Strukturen einmal zu deren Sprengung beitragen
wird.
[V14:35]
(Peter Roeder, Untersuchungen zum Problem der Autorität, in: Die Deutsche Schule 1961/4, S. 202)
[V14:36] Die vorangegangenen Texte vergleiche man mit dem folgenden:
[V14:37]
Wer darf nun Gehorsam fordern? – Zuerst die Erzieher, die Eltern, dann die Gesellschaft, das Volk, der Staat und die Kirche. Jeder dieser Bereiche hat ein bestimmtes Anrecht, welches durch die Pflichten bezeichnet wird, die jedem aufgetragen sind, mehr Pflichten als Rechte ...
[V14:38]
... Der Erzieher ist dem Kind absolut übergeordnet und dieses hat einfach zu gehorchen. Allerdings ist er nicht Herr und Besitzer des Kindes, sondern es ist ihm als Gabe und Aufgabe übergeben, anvertraut zur Verantwortung. Er ist der Träger der Geisteshaltung, welche auf das Heil und Wohl des Kindes gerichtet ist, also einen zentralen Förderungswillen verkörpert. Im Kindesalter nimmt der Erzieher die Stellung unbedingter Überlegenheit und Überordnung ein. Er gestaltet die Wertform des Kindes und richtet mit seinen Geboten und Verboten, die Forderungen der Ordnung, der Gemeinschaft, des sittlichen Lebens an das Kind.
[V14:39]
Von der Familie her geschieht die organische Lebensentfaltung in das Leben der Gemeinschaft, deren tragendes Prinzip das geistiger Lebensförderung ist. Ihr Lebensinhalt ist die Kultur. Die staatlich-völkische Gemeinschaft fordert Gehorsam, da dieser antreibend, richtunggebend und wegweisend für das Schaffen des einzelnen, für die Entfaltung des individuellen Lebensgutes, für die Höherbildung der natürlichen Kraftanlagen des Volkes, für die Werkfortsetzung der überlieferten Kulturgüter als Lebenserfüllung ist. Der einzelne ist als Glied der Gemeinschaft diese Einordnung schuldig, denn allein könnte keiner bestehen. Als ens sociale ist die geistige Einzelwirklichkeit nur innerhalb des geistigen Güterlebens der Gemeinschaft möglich. Gehorsam bedeutet hier Förderung des Kulturgeschehens in erbgängig angesammelten Wertgehalten und Wertenergien, die Behütung und Reinerhaltung der Kulturgüter, den lebendigen Zusammenschluß zur geschichtlichen und genossenschaftlichen Einheit der Zeitgenossen, die Einkleidung der freien Tätigkeit in die große Einheit einer lebendigen Kultur. [V14:40] Die Autorität des Staates, welcher Gehorsam fordert, ist die Überlieferung. Diese bedeutet einen Sachverhalt, welcher eine fortschreitende Wertverwirklichung in der Gemeinschaft über Generationen hinaus will und dadurch zur verpflichtenden Kraft wird. Hat die Gemeinschaft als Inhalt der Gehorsamsforderung die Überlieferung, so wird der Träger der Autorität der Staat in seinen Vertretern, seinen Beamten. Diese fordern Gehorsam, damit die Selbstauseinandersetzung des einzelnen mit den Kulturgütern in rechten Bahnen verläuft ...
[V14:41]
(H. K. Bachmeier, Gehorsam als Grundlage der Menschenbildung, München 1964, S. 59 ff.)