Was ist „politische Bildung“ ? [Textfassung a]

Was ist
politische Bildung
?
Bericht über ein Seminar

[038:1] Was politische Bildung ist, sein soll oder sein kann, in welcher Form pädagogischer Praxis sie sich sinnvoll darstellen läßt und welche Wirkungen von ihr zu erhoffen oder zu erwarten sind, war in den Jahren nach 1945 noch nie so ungewiß wie gegenwärtig. Ich rede nicht von den Dogmatikern aller politischen Schattierungen, die immer schon wissen, wie alles abgelaufen ist und demnächst wird ablaufen müssen, die die Verwendung eines so oder so gearteten Vokabulars oder die Reinheit irgendeiner Gesinnung für politische Bildung halten und in deren Augen Kritik immer nur die Kritik der anderen ist. Ich meine vielmehr jene, denen die Proteste der letzten Jahre – von den Schülerzeitungen bis zum
Kursbuch
-Enzensberger, von den Vietnam-Demonstrationen bis zur Notstands-Diskussion, von Angriffen gegen den Springer-Konzern bis zur Hochschulpolitik – Anlaß gewesen sind, ihre eigenen pädagogischen Konzepte zu revidieren, vielleicht zu korrigieren. Anlaß dazu haben – wie mir scheint – alle am politischen Streit beteiligten Gruppen.
[038:2] Wie gründlich eine solche Revision vorgenommen werden müßte, das lehrte, jedenfalls in Ansätzen, ein Seminar zur politischen Bildung, das mit Studenten der Kieler und Flensburger Pädagogischen Hochschule und der Universität Kiel einerseits und Dozenten der drei Institutionen und des Jugendhofs Scheersberg andererseits stattfand. Ich sage nicht, es fand
unter der Leitung von ...
statt, |a 442|denn das wäre, wie sich zeigen wird, eine freundliche Übertreibung. Dauer, Ort und Kulisse der Handlung: fünf Tage und Nächte im Jugendhof Scheersberg, schleswig-holsteinische Knicklandschaft, Blick auf die Ostsee, 100 m neben den Tagungs-Räumen der
Bismarck-Turm
; in seinem ersten Stockwerk, in Bronze gegossen, ein Schlüsselrequisit des Seminars:
Wir sind nicht auf dieser Welt, um glücklich zu sein und zu genießen, sondern um unsere Schuldigkeit zu tun.

Das Tagungskonzept oder:
ja, mach nur einen Plan ...!

[038:3] Das Seminar war als Bestandteil der erziehungswissenschaftlichen Ausbildung gemeint; sein Thema:
Demokratie und Schule
.
[038:4] Die Form der Tagung oder der mehrtägigen Klausur wurde gewählt, weil die übliche Seminar-Praxis an Hochschulen – Referate und Diskussion der Referate – dem Gegenstand
politische Bildung
wenig angemessen scheint, zumal wenn nicht nur über den Gegenstand informiert werden, sondern der Seminarverlauf selbst einen politischen Bildungsprozeß bei den Teilnehmern bewirken soll. Entsprechend sah das Seminar-Programm einen Wechsel zwischen sechs methodischen Elementen vor.
  1. 1.
    [038:5] Diskussion in Gruppen zu 15 Teilnehmern zur Klärung der Vorbegriffe von Demokratie;
  2. 2.
    [038:6] Streitgespräch vor dem Plenum;
  3. 3.
    [038:7] Plenumsdiskussionen;
  4. 4.
    [038:8] thematisch festgelegte Literatur-Arbeit in Gruppen (Analyse von Schuldokumenten, Sozialkunde-Lehrbüchern, Schülerzeitungen und ähnlichem);
  5. 5.
    [038:9] praktische Erkundungen der Gruppen (Interviews von Lehrern, Repräsentanten der Schulverwaltung, von Bürgern aus der Bevölkerung umliegender Ortschaften);
  6. 6.
    [038:10] Anhörung der Meinungen von eingeladenen Vertretern der Schule und der politischen Instanzen (Parlament und Kultusministerium).
[038:11] Das Thema
Demokratie und Schule
wurde gewählt, weil es nach Meinung der Veranstalter den Kriterien besonders genügt, die für die Wahl von Inhalten der politischen Bildung, besonders in der erziehungswissenschaftlichen Ausbildung, Anwendung finden sollten: Es ist aktuell, es ist – und das gilt schon für den vorausgesetzten Demokratie-Begriff – kontrovers; es hat unmittelbaren Bezug auf pädagogisch-politische Konflikte (Politische Schülergruppen, Schülerzeitungen, Krise der SMV), und es demonstriert den Zusammenhang von Politik und Pädagogik.
[038:12] Die Planung war also gewiß gut gemeint. In ihr steckten aber bereits mindestens zwei Fehler:
  1. 1.
    [038:13] Sie konzipierte das Programm auf ein Publikum hin, dem politische Probleme interessant gemacht werden müssen und für das das Seminar die Funktion eines Problem-Aufrisses haben sollte – ohne daran zu denken, daß Studenten, die sich zu einem solchen Seminar anmelden, bereits ein Problembewußtsein und politische Interessen mitbringen; die Bildungsaufgabe hätte richtiger als die kritische Diskussion dieses Bewußtseins und dieser Interessen konzipiert werden müssen.
  2. 2.
    [038:14] Man verstand den Seminar-Verlauf, trotz aller methodischen Auflockerung und Vielfalt, als eine Lehrveranstaltung, deren entscheidendes Kriterium im Kenntnis-Gewinn liegt – ohne daran zu denken, daß sich unter den Teilnehmern eines |a 443|solchen Seminars mit Sicherheit eine Gruppe findet, die nicht bereit ist, eine der dadurch definierten Rollen zu spielen; die Bildungsaufgabe hätte richtiger als die Analyse desjenigen Konflikts bestimmt werden müssen, der aus den institutionell vorgegebenen Rollenerwartungen der Veranstalter und der politisch motivierten Weigerung eines Teils der Teilnehmer, solche Rollen zu spielen, entstehen kann.
[038:15] Alle Schwierigkeiten des Seminars und schließlich auch sein Lernergebnis sind auf diese beiden Fehler zurückzuführen. Sie werden allerdings nur für denjenigen als
Fehler
akzeptabel sein, der seinem eigenen Konzept von politischer Bildung kritisch gegenübersteht und für den zu den Merkmalen solcher Bildung die methodische Berücksichtigung und Analyse der Motiv- und Interessenlage der Teilnehmer gehört, kurz: der von der politischen Lage des Individuums her zu denken sucht und nicht von einem Lehr-Kanon aus.

Ein mißglückter Beginn oder: die Exposition

[038:16] Es begann mit einer Differenz im
Leitungsteam
: Der Eröffnung eines Team-Mitgliedes den gerade angekommenen Teilnehmern gegenüber.
Wir wollen gemeinsam ...
dies und jenes erarbeiten, widersprach ein anderes Mitglied im Zusammenhang einiger Einführungsworte: Es sei gar nicht so sicher, ob
wir gemeinsam
dies oder jenes wollten; vielmehr sei nur sicher, was das Leitungsteam wolle, und die Teilnehmer hätten durchaus die Möglichkeit, ihren eigenen Willen, wenn vorhanden, zur Sprache und zur Geltung zu bringen; so etwas zu können, sei schließlich selbst eine Dokumentation oder gar Voraussetzung politischer Bildung.
[038:17] Für das Bewußtsein autoritäts-gewohnter Studenten – so scheint es – erschien solche Uneinigkeit in der Führungsspitze als Schwäche und eher verwirrend; für das Bewußtsein einer zur Aktion vielleicht noch nicht entschlossenen, aber dafür doch mindestens aufgeschlossenen Gruppe galt jene Differenz als Ermutigung oder gar Aufforderung. Die Gruppenarbeit zur Klärung vorgängiger Demokratie-Vorstellungen wurde noch brav absolviert; im ersten Plenum aber – aus Anlaß des Streitgesprächs – beginnt
politische Praxis
: Antrag zur Geschäftsordnung, Änderung des Streitgesprächs durch Mehrheitsentscheid in eine Plenumsdiskussion. Das Leitungsteam macht von seiner Funktion und seinen Machtmitteln – es handelt sich immerhin um Studenten, die bei den Team-Mitgliedern Examen machen wollen – keinen Gebrauch. Es formiert sich deutlich eine Gruppe, deren Interesse erkennbar darin besteht, das Leitungsteam zu
entmachten
und alle inhaltlichen wie formalen Tagungsfragen vom Plenum entscheiden zu lassen. Bezeichnend spricht man nun nicht mehr von
Plenum
, sondern von
Vollversammlung
.
[038:18] Das
Leitungs-Team
glaubte gute Gründe für seine Entscheidung zu haben, von den Machtmitteln keinen Gebrauch zu machen und den weiteren Verlauf den Beschlüssen jener
Vollversammlungen
zu überlassen. Es übersah jedoch, daß die Alternative zum Verzicht auf die
Dozenten-Rolle
nicht in der Unterordnung unter Vollversammlungsbeschlüsse oder in der Pose des Beobachtenden liegen konnte, sondern darin, nun seinerseits sich als Interessengruppe mit entsprechenden Taktiken zu solidarisieren. In dem Maße, in dem vom
Leitungs-Team
das Politik-Spiel der um Durchsetzung von Interessen bemühten Teilnehmer-Gruppen |a 444|als mögliches
Seminar-Thema
akzeptiert wurde, hätte auch die Rolle der Team-Mitglieder
spielgerecht
neu definiert werden müssen. Statt dessen konstatierte das Team lediglich die Erweiterung der Thematik des Seminars, die als
Praxis und Analyse eines gruppendynamischen Vorgangs mit politischem Charakter
bezeichnet werden kann, ohne daß indessen diese Erweiterung den agierenden Teilnehmern selbst schon deutlich wurde.
[038:19] Wie wenig das Leitungs-Team darauf vorbereitet war, eine solche Gruppen-Situation pädagogisch produktiv zu bewältigen und wie wenig auch die Teilnehmer imstande waren, die neue Situation im Dienste definierbarer Lernziele zu nutzen, läßt sich aus den Symptomen vermuten: Eine plötzliche Erschlaffung trat ein, es wurde kein neues Seminar-Konzept entwickelt, sondern das ursprüngliche Seminar-Konzept wurde mit einer unerheblichen Variante akzeptiert, das Niveau der Diskussionen sank, die einzelnen Beiträge dienten eher der Kundgabe eigener Interessen oder Einfälle und waren weniger an der strengen Klärung von Sachproblemen orientiert; vor allem aber: ein beträchtlicher Teil der Studenten erschien weder zu den Sachdiskussionen noch zu den
Vollversammlungen
.
[038:20] Damit reproduzierte das Seminar eine im Bereich der Hochschulpolitik typische Situation: die Dichotomie zweier Gruppen, von denen die eine, relativ gut konsolidiert, eigene politische Interessen mit Hilfe eines Arsenals eingespielter Taktiken verfolgt und sich offen pauschal gegen die Interessen der
Führungsgruppe
stellt; die andere Gruppe verbleibt bei ihrem Interesse an den angebotenen Lehrinhalten wie auch den Formen ihrer Vermittlung, sieht, daß dieses Interesse unter dem Druck der
linken
Taktiken nicht mehr befriedigt werden kann, und zieht sich deshalb in den privaten Bereich zurück. Ihnen beiden steht eine dritte, die
Führungsgruppe
, gegenüber, von der einen offen angegriffen, von der anderen eher versteckt kritisiert, weil sie ihren
Lehrauftrag
aufgegeben habe. Ein Versuch des Leitungs-Teams, sich in dieser Lage als Interessengruppe zu solidarisieren, scheitert daran, daß die
Linken
die Beratungen stören indem sie sich mit etwa 15 Personen im Beratungszimmer dazusetzen.
[038:21] Zwei Merkmale vor allem also charakterisieren in dieser Lage den Lernvorgang: Die begriffliche Anstrengung wird zunehmend schwächer, die soziale Anstrengung akzentuiert und profiliert sich. Inzwischen aber sind zwei Tage vergangen; die einzelnen Arbeitsgruppen haben ihre Analysen und Interviews, wenigstens deren Vorbereitung, aufgenommen. Sie zeigen große Arbeitsintensität, die Dichotomie der Gruppen scheint verschwunden zu sein. Das Seminar nimmt an dieser Stelle den geplanten Verlauf; das Leitungs-Team allerdings scheint vollständig
entmachtet
zu sein; die ursprünglich vorgesehene Rolle des Gruppenberaters in Sachfragen kann nur sporadisch wahrgenommen werden, da von manchen Gruppen schon die Sachkompetenz als Wiederaufrichtung der alten Leitungs-Autorität empfunden wird.

Ein unpolitisches Happening – oder: das Seminar findet seinen Gegenstand

[038:22] Am Abend des dritten Tages fand das erste der geplanten
Hearings
mit einem Schulrat und einem Volksschulrektor statt. Nach einer Dreiviertelstunde ist Lärm auf der Treppe zu hören, ein Gong ertönt, die Tür wird aufgestoßen, und ungefähr |a 445|zehn Studenten tragen einen offensichtlich sehr schweren Gegenstand in den Saal, der, aufgerichtet, als die eingangs erwähnte Bronzeplatte aus dem Bismarckturm erkennbar wird. Die
Aktionsgruppe
setzt sich stumm davor und weist auf den Text mit der Aufforderung, den nun unübersehbaren
politischen
Beitrag zum Gegenstand der Diskussion zu machen:
Wir sind nicht auf dieser Welt, um glücklich zu sein und zu genießen, sondern um unsere Schuldigkeit zu tun.
[038:23] Bei der
Aktionsgruppe
handelt es sich zum großen Teil um dieselben Studenten, die noch am Vortage zum Prinzip erhoben hatten, daß über alle den Gang des Seminars bestimmenden Inhalte und Verfahren zuvor von der Vollversammlung entschieden werden müsse! Es handelt sich zudem um eine Gruppe, die für sich ein besonders hohes Niveau politischen Bewußtseins,
Rationalität
in Anspruch nimmt! Welche Chance der Einflußnahme verbleibt dem, der sich für den Verlauf des Seminars und sein Ergebnis verantwortlich fühlt?
[038:24] Diese Chance war durch zwei
Unmöglichkeiten
eingeschränkt. Durch den Verzicht auf die eindeutige Führungsrolle verbat sich jede Form autoritärer Zurechtweisung, es sei denn, man hätte das Experiment
politisches Seminar als Praxis von Interessenkonflikten
an dieser Stelle abgebrochen. Ebenso unmöglich aber war der Rückzug auf die Beobachter-Rolle, da der Widerspruch im Verhalten der
Aktionsgruppe
eine kritische Analyse verlangte. Und schließlich geriet das Leitungsteam in einen zusätzlichen Rollenkonflikt dadurch, daß die beiden Gäste des
Hearings
unter den Bedingungen eines im üblichen Sinne geordneten Seminar-Ablaufs geladen und erschienen waren. Nur der Höflichkeit und wohl auch dem Interesse dieser Gäste war es zu verdanken, wenn nach zweistündiger Unterbrechung tatsächlich das
Hearing
noch fortgesetzt und abgeschlossen werden konnte. Die
aktive
Studentengruppe machte keinen Versuch den an dieser Stelle auftauchenden Konflikt zu bewältigen und ihr Verhalten den Gästen gegenüber zu verantworten; ja, es ist zu vermuten, daß sie das Problem gar nicht sah.
[038:25] Was sich indessen in jenen zwei Stunden abspielte, war eine turbulente
Geschäftsordnungs
-Debatte. Ihr Thema: Verbleib oder Entfernung der Bronzeplatte, die Motive der
Aktionsgruppe
und schließlich die dabei zum Vorschein kommenden Spannungen und bisher zurückgehaltenen Aggressionen in der Gesamtgruppe der Seminar-Teilnehmer. Das
Leitungs-Team
verhielt sich teils zurückhaltend-beobachtend, teils versuchte es, durch eigene Beiträge der Diskussion eine Richtung zu geben; der entscheidendste und im Sinne des Seminar-Verlaufs konsequenteste Beitrag eines Team-Mitgliedes aber bestand darin, durch Störungen auf eigene Faust – er trug zum Beispiel nach 40 Minuten fruchtloser Diskussion ein Schild mit der Aufschrift:
Der Turmschlüssel ist im Gasthaus zu holen
herein und verlangte, analog dem ersten
Happening
, darüber zu diskutieren – das Verhalten der
Aktionsgruppe
ad absurdum zu führen. Die Aggression in der Auseinandersetzung wurde dadurch nur gesteigert und erreichte ihren Höhepunkt, als zwei Studenten, mit geballten Fäusten sich gegenüberstehend, fast tätlich aufeinander losgehen wollten, wenn nicht, durch diesen Anblick vermutlich plötzlich zur Besinnung gekommen, Ernüchterung sich ausbreitete. Bezeichnenderweise konnte nachträglich keiner dieser beiden Studenten sich an den Zwischenfall erinnern!
[038:26] Nach 23.00 Uhr wurde das
Hearing
fortgesetzt und der Merk-Spruch auf der Bronzeplatte in das Gespräch miteinbezogen, was nahelag, da er sich immerhin an einer Stelle befindet, die von schleswig-holsteinischen Schulklassen wohl am häu|a 446|figsten besucht wird. Das offizielle Programm dieses Tages war um 0.30 Uhr beendet.
[038:27] Nun aber geschah das Überraschende, eine Art nachträglicher Legitimierung des vorher durchaus ambivalenten Geschehens: Die Beunruhigung über das, was offensichtlich
mit der Gruppe geschah
; die bei ehrlichem Eingeständnis notwendige Erfahrung, daß eine politisch gemeinte Aktion in unpolitische Gruppenspannungen und Aggressionen umschlug, deren man nicht mehr Herr war; die Erkenntnis, daß vernünftige Absicht unversehens in jene verhaßte Irrationalität übergehen kann – die Ahnung solcher Gefahren wenigstens veranlaßte ungefähr ein Drittel der Seminar-Teilnehmer, bis um 5.00 Uhr früh den gerade durchlebten Vorgang so gut es eben ging zu analysieren. Das Thema: Wie konnte es geschehen, daß ein Vorgang, den man doch als Akt politischer Mündigkeit verstand, dem einzelnen und der Gruppe derart entglitt; wie ist das Verhältnis von politischer Absicht und psychischer Fähigkeit der Realisierung im einzelnen; wieweit sind bei profilierten Aktionen die politischen Gründe sekundär neben den persönlich-unpolitischen Motiven zur Selbstdarstellung?
[038:28] Damit war auch das neue Seminar-Thema formuliert und den Teilnehmern zum Bewußtsein gebracht: Lernprozesse unter den Bedingungen politisch motivierter gruppendynamischer Vorgänge. Wie weit indessen der Weg von der Aufklärung zu aufgeklärt-mündigem Verhalten ist, das zeigte der weitere Verlauf des Seminars.

Die Folgen – oder: blinde Politik

[038:29] Im Grunde hatte das Seminar nun nicht mehr nur ein, sondern drei Themen zu bearbeiten:
  1. 1.
    [038:30] das im Programm vorgesehene Thema
    Demokratie und Schule
    ; sein methodischer Ort lag in der Tätigkeit der Arbeitsgruppen;
  2. 2.
    [038:31] das durch die entstandenen Konflikte heraufbeschworene Thema
    Analyse der stattfindenden Gruppenprozesse als Lernprozesse
    ; es hatte nur einen informellen methodischen Ort, und zwar in nächtlichen Anschlußdiskussionen in Pausen und informellen Gruppen und zum Teil sogar in formellen Plenumsdiskussionen, die während der Mahlzeiten stattfanden;
  3. 3.
    [038:32] die durch die Bronze-Platten-Aktion ausgelöste Reaktion in den umliegenden Ortschaften bis hin zum Landratsamt (am nächsten Vormittag stand das Telefon nicht still; Presse und Rundfunk erschienen; Empörung regte sich in der Bevölkerung: der Sinnspruch war ihr wert und die Bronzeplatte wertvoll); ein Thema, das keinen methodischen Ort hatte.
[038:33] So beeindruckend die Intensität war, mit der die Teilnehmer sich ihren eigenen Problemen zuwandten – der Seminar-Prozeß zog schließlich nahezu alle Teilnehmer an sich und produzierte im ganzen eine von mir selten beobachtete Ernsthaftigkeit der Auseinandersetzung auch bei denen, die zunächst als die privatistisch-zurückgezogene Gruppe erschienen –, so beeindruckend war allerdings auch das völlige Fehlen einer Kalkulation der politischen Folgen einer
politischen
Aktion. Keiner der Studenten, die vordem kräftig die
Politisierung
des Seminars betrieben hatten und durch ihr
Happening
dem Seminar tatsächlich eine politische Funktion verleihen konnten, machte den Versuch, die Folgen des Ereignisses noch |a 447|zu verantworten, das heißt die Wirkungen in den umliegenden Gemeinden – in denen verständlicherweise viel Erregung war – nicht gleichsam sich selbst zu überlassen. Es schien als sei ihnen sowohl die Einrichtung, deren Gast sie waren – der Jugendhof Scheersberg – und ihre politisch-pädagogische Funktion im Lande als auch die nun wirklich politische Folge ihres Verhaltens gleichgültig. Genauer ist jedoch die Vermutung, daß solche Verknüpfungen außerhalb ihres Bewußtseins liegen, das sich damit, trotz aller gegenteiligen Pose, als subjektivistisch verkürzend, als tendenzieller Narzißmus mit dem Schein des Politischen herausgestellt hat.
[038:34] Das aber ist zugleich ein Vorwurf an das
Leitungs-Team
. Zwar fand aufgrund der Initiative von Team-Mitgliedern, zwei Tage nach der Aktion, am letzten Abend des Seminars eine öffentliche Diskussion im nahegelegenen Saal eines Gasthauses statt, während der die Studenten ernsthaft bemüht waren, den versammelten rund 70 Bürgern aus der Umgebung ihr Verhalten verständlich zu machen. Diese Veranstaltung aber war, obwohl politisch notwendig geworden, im Hinblick auf den Seminar-Prozeß die verspätete Korrektur ursprünglicher Versäumnisse. Die Versammlung schloß zwar in scheinbarem Frieden und gegenseitigem Verständnis, ohne aber auf irgendeiner Seite tatsächliche Änderungen bewirkt zu haben. Daß die öffentliche Veranstaltung stattfand, war überdies nicht der überdachte Entschluß des Teams als Führungsgruppe, sondern es handelte sich um eine spontan improvisierende Initiative einzelner ihrer Mitglieder: Das Seminar war mit dieser Konfrontation scheinbar gerettet – ihr ging eine intensive nächtliche Diskussion voraus, deren Thema die Notwendigkeit einer Rechenschaft gegenüber der Bevölkerung und der Inhalt der zu erwartenden Auseinandersetzung war – die Art des Seminarprozesses war aber dadurch keineswegs legitimiert. Politische Aktionen wie pädagogisches Handeln können nicht durch zufällig Folgen, und seien sie noch so erwünscht, sondern nur durch die kalkulierten, gewollten und verantworteten Wirkungen gerechtfertigt werden; nur darin sind sie rational.
[038:35] Riskiert man als verantwortlicher Initiator einer Tagung gegen die eigene ursprüngliche Intention einen solchen Prozeß, muß man wissen, worauf man sich einläßt. Weiß man das nicht, ist ein solches Seminar höchstens einmal zu verantworten, nämlich um sich in den Besitz des nötigen Wissens zu bringen. Es gab während des Seminars eine verräterische und verführerische Vokabel:
Lernprozeß
. Sie tauchte in nahezu allen Zusammenhängen auf. Sie war der Strohhalm, an den die Optimisten sich zu klammern suchten: egal was geschieht, auf jeden Fall finden Lernprozesse statt. Das kann der Ausdruck von Hilflosigkeit, Zynismus, politischer Taktik, Dummheit, Blindheit, ironischem Raffinement, ja sogar von Verschleierung eigener Interessen, also Ideologie sein. Eines kann diese Rede jedenfalls mit Sicherheit nicht sein: der Ausdruck pädagogischer Verantwortung.

Ergebnisse – oder: die zu früh erschöpfte Vernunft

[038:36] Die theoretisch gesicherte und praktisch befriedigende Bearbeitung aller drei Themen, die dem Seminar schließlich seinen besonderen Charakter gaben, war offensichtlich eine Überforderung. Auch dem Hochschullehrer gelingt es ja in der Regel nicht, den von ihm bevorzugten wissenschaftlichen Gegenstand nach den Regeln seiner Kunst zufriedenstellend zu erforschen, zugleich die sozialen Implikationen |a 448|am Ort der eigenen Lehr- und Forschungspraxis zu durchschauen und schließlich auch noch die Ergebnisse seiner wissenschaftlichen Tätigkeit ins gesellschaftspolitische Spiel zu bringen. Wo so etwas unternommen wird, leidet mit Sicherheit die Qualität mindestens einer der drei Tätigkeiten. Politische Bildung aber müßte dieses
Zugleich
leisten können: sachgerechte und wissenschaftlich gesicherte Information, Selbstaufklärung über die Interessen und Motive des politischen Subjekts und Erwerb von Dispositionen und Verfahren des verantwortlichen politischen Handelns.
[038:37] Daß die Erfüllung dieser drei Aufgaben in der Regel mißlingt und insbesondere in unserem Seminar mißlungen ist – das ist meine Hypothese –, liegt nicht an der prinzipiellen Unmöglichkeit, sondern daran, daß wir bisher über keine Übung und keine Verfahren verfügen, die drei verschiedenen Arten von Lernvorgängen in einer didaktischen Einheit zu integrieren. Unser Seminar hat dieses Problem verdeutlichen können, ohne es schon zu lösen.
[038:38] Wer als Beobachter oder vorübergehender Gast des Seminars jeweils nur eines seiner Themen zu Gesicht bekam, wird es schlecht und unergiebig gefunden haben: Das Thema
Demokratie und Schule
wurde weder zu begrifflicher Klarheit geführt, noch erreichten die Ergebnisse der Arbeitsgruppen ein wissenschaftlich vertretbares Niveau.
[038:39] Die durch jenes
Happening
ausgelösten politischen Vorgänge waren weder kalkuliert worden noch wurden sie, einmal im Gang, zum Gegenstand einer von den Studenten durchdachten politischen Strategie.
[038:40] Die Selbstanalyse der Seminarteilnehmer im Hinblick auf die Gruppenprozesse und Interessen-Konflikte blieben ein nur informeller Bestandteil des Seminars und konnten für die Gesamtheit der Teilnehmer nicht so ausgiebig diskutiert werden, wie es nötig gewesen wäre.
[038:41] Es gelang in diesem Seminar aber, was in der Regel bei Veranstaltungen zur politischen Bildung außerhalb des Lernhorizontes bleibt: eine Problematisierung des Zusammenhangs von Information, Aktion und Interessen-Lage des einzelnen. Daß über die Exposition des Problems hinaus keine rationale Aufarbeitung des Erlebten und Erfahrenen mehr gelang, ist das eigentlich pädagogische Defizit des Seminars.
[038:42] Was über diese grundlegende Einsicht hinaus als Erfahrung festgehalten werden kann, die für Veranstaltungen zur politischen Bildung in den Formen der Jugendarbeit fruchtbar werden kann, läßt sich thesenhaft formulieren:
  1. 1.
    [038:43] Die Solidarisierung von Gruppen im Sinne politischer Interessen kann politische Probleme unter Umständen wirksamer zum Vorschein bringen und thematisieren als die sorgfältige Planung einer abgewogenen, an den Kriterien der Politikwissenschaft orientierten Information.
  2. 2.
    [038:44] Die Technik der Provokation – nicht nur der Teilnehmer durch das Leitungsteam, sondern umgekehrt und der Teilnehmer untereinander – zwingt auch die zunächst indifferenten oder am Konsum von
    Informationsgütern
    allein interessierten Teilnehmer zur Parteinahme und vermittelt damit Kenntnis von Formen politischen Engagements wie auch Motivationen für politisches Handeln.
  3. |a 449|
  4. 3.
    [038:45] Die auf langatmige Erörterungen und Begründungen zunächst verzichtende Demonstration der eigenen Lage kann Ungerechtigkeiten und
    Unterprivilegierungen
    von einzelnen oder Gruppen der Gesamtgruppe schlagartig zum Bewußtsein bringen. So entwickelte das Seminar unter anderem die Technik, daß diejenigen, die vom Gang einer Diskussion
    frustriert
    wurden, sich stumm in der Mitte des Raumes auf dem Boden niederließen. Auch diejenigen, die in der Regel an Diskussion sich nicht beteiligten, demonstrierten auf diese Weise, daß die Taktiken der Redegewandten oder Redeeifrigen die Interessen anderer unterdrückten; sie
    zwangen
    damit das Plenum auf sie einzugehen und nach dem Grund der Demonstration zu fragen.
  5. 4.
    [038:46] Gruppenkonflikte stellen nicht nur sozialpsychologische Probleme dar, sondern sind auch politisch interpretierbar. Gerade solche Konflikte, deren Quellen unter anderem außerhalb der Veranstaltung in der politischen Herkunft der Teilnehmer und den politischen Aspekten der Führungsrollen liegen, sind deshalb ein legitimes Thema solcher Seminare.
  6. 5.
    [038:47] Der Übergang vom Spiel zum Ernst, wie an dem
    Happening
    und seinen Folgen zu beobachten war, kann die politische Bildung sowohl aus ihrer intellektuellen Enklave wie aus der Einübung in nur formale Verhaltensregeln befreien und dazu zwingen, den Zusammenhang von gut gemeintem Engagement und realistischer Einschätzung der Natur politischen Verhaltens und seiner Wirkungen als eigene Erfahrung zu thematisieren.
  7. 6.
    [038:48] Die Institution des Leitungs-Teams kann für Zwecke der politischen Bildung dadurch erweitert werden, daß man der Einrichtung eines
    Gegen-Teams
    aus dem Kreis der Teilnehmer Raum gibt. Sowohl der formale Tagungsverlauf wie die Thematik können dadurch an Politisierung gewinnen, denn der Interessenkonflikt zwischen beiden Gruppen ist unter Umständen selbst ein politisches Thema.
[038:49] In solchen Elementen liegt aber – wie unser Seminar zeigt – zugleich eine Gefahr, der besonders die
links
engagierten Studenten zu erliegen drohen: die Gefahr der Irrationalisierung. Die Affekte gegen die Repräsentanten der
Ordnung
sind so stark, die Sensibilität gegenüber allen
autoritären
Ansätzen so entwickelt, die Gewißheit des
richtigen
politischen Engagements wird für so unbezweifelbar gehalten, daß die Verkürzung der Vernunft, die für Folgen und Selbstaufklärung bisweilen blinde Fixierung auf die eigenen Interessen, das eigentliche Thema solcher Seminare genannt werden könnte. Veranstaltungen zur politischen Bildung können nur dann als solche gelten, wenn sie die gesellschafts-politische Analyse nicht schon vollzogen und als wahr voraussetzen – sei es in der Form der meisten Sozialkunde-Lehrbücher, sei es in der Gestalt des Marxismus –, sondern sie selbst betreiben. Das aber scheint mir nicht anders als in rationaler Kontrolle möglich zu sein.