Sozialisationsprobleme unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen [Textfassung a]
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Sozialisationsprobleme unterprivilegierter gesellschaftlicher Gruppen
1)Unveränderter Text eines Vortrages in den Höheren Fachschulen f. Sozialarbeit in Hamburg und Frankfurt/M.

[037:1] Zur Verständigung über das, was ich zu sagen vorhabe, möchte ich zunächst einige Begriffsklärungen versuchen. Vor allen Dingen drei Begriffe meines Themas sind es, die hier kurz erläutert werden sollten:
    [037:2] der Ausdruck
    Sozialisation
    ,
    [037:3] der Ausdruck
    unterprivilegiert
    ,
    [037:4] der Ausdruck
    gesellschaftliche Gruppen
    .
[037:5] Der Ausdruck
Sozialisation
entwickelt sich, wenn ich recht sehe, zu einem Modebegriff. Aber es gibt auch gute Moden. Der Ausdruck Sozialisation macht uns aufmerksam darauf, daß Erziehung und Lernen nicht immer und unter allen Umständen das Gleiche sind, daß sie nicht nach einer gleichen Struktur nach gleichen Mustern und nach denselben Orientierungen verlaufen, sondern daß sie nach sozialen Gruppen und Institutionen durchaus sowohl in ihrer Form wie in ihren Wirkungen verschieden sind. Sozialisation: darunter verstehen wir also diejenigen Lernvorgänge, durch die der Heranwachsende zum Mitglied der Gesellschaft oder zum Mitglied einer Gesellschaft wird, was nichts anderes heißt, als daß er zum Mitglied von Gruppen wird. Er erwirbt sich im Laufe dieses Heranwachsens diejenigen Selbstverständlichkeiten, Handlungsmuster, Wertorientierungen, Überzeugungen, die ihn zu einem Mitglied dieser Gruppe qualifizieren.
[037:6] Insofern liegt in meinem Thema bereits, wenn auch in sehr allgemeiner Form, eine These, nämlich die, daß es besondere Sozialisationsprobleme in den sogenannten unterprivilegierten gesellschaftlichen Gruppen gibt, die sich von denen |a 6|anderer Gruppen deutlich und angebbar unterscheiden. Aber was heißt
unterprivilegiert
?
[037:7] Auch dies ist ein Modewort. Deshalb ist auch hier eine kurze, wenigstens flüchtige Verständigung vorweg sinnvoll. Der Ausdruck meint ja ursprünglich, daß es innerhalb einer Gesellschaft formell abgestufte Rechte gibt, die sich über die ganze Skala der Population einer solchen Gesellschaft erstrecken: daß es also Menschen mit Rechten gibt, an denen andere nicht teilhaben, und zwar formell erklärtermaßen. In diesem Sinne kann dieser Ausdruck heute, von einigen gesellschaftlichen Bereichen allerdings abgesehen, kaum noch verwendet werden. Heute liegt das Problem, auf das mit diesem Ausdruck hingewiesen werden soll, ein wenig anders. Trotz formal gleicher Rechte finden wir praktisch Unterschiede in der Möglichkeit ihrer Wahrnehmung. Die Unterprivilegiertheit ist also nicht ein Unterschied in dem ausdrücklich formell zugesprochenen unterschiedlichen Recht verschiedener Gruppen, sondern in der Unmöglichkeit bestimmter Gruppen, die ihnen formell zustehenden Rechte tatsächlich auch wahrzunehmen. Begrenzte Chancen, begrenzte Teilhabe, und zwar im Vergleich zu anderen Gruppen, vor allem aber im Vergleich zu den dominanten Werten und Normen und den Mitteln, mit denen die
wertvollen
Ziele dieser Gesellschaft erreicht werden können.
[037:8] Und schließlich:
gesellschaftliche Gruppen
[037:9] Der Ausdruck
Gruppen
ist nicht eindeutig, und ich werde ihn auch im Verlaufe meines Vortrages nicht präzise verwenden. Dieser Ausdruck meint sowohl statistische Gruppen, wie z. B. soziale Schichten, er meint aber auch reale Gruppen im Sinne von subkulturellen Nachbarschaften, im Sinne von eindeutig angebbaren Siedlungsbezirken usw., und er meint schließlich auch Gruppen im Sinne der Verwendung des Ausdrucks
soziale Klasse
, die Gruppe der Arbeitnehmer, die Gruppe der Lohnabhängigen usw. Ich verwende im folgenden den Ausdruck nicht strikt im Sinne einer dieser drei Bedeutungen, sondern vage. Ich denke, daß angesichts der Probleme, mit denen ich mich beschäftigen will, dies kein gravierender Nachteil ist.
[037:10] Ich gliedere meine Darstellungen in drei Abschnitte: zunächst mache ich einige allgemeine Bemerkungen zu dem Zu|a 7|sammenhang von Sozialstruktur und Sozialisation, präzisiert auf die besondere unterprivilegierte Gruppe, mit der ich mich im folgenden näher befassen will, nämlich den unteren sozialen Schichten. Zweitens werde ich einige Aspekte der restriktiven Sozialisation in sozial unteren Schichten zur Sprache bringen, und in einem letzten Abschnitt mache ich einige Bemerkungen zur theoretischen Interpretation dieses Zusammenhanges.

1. Sozialstruktur und Sozialisation.

[037:11] Ich sagte, daß der Begriff Sozialisation darauf aufmerksam macht, daß alle Lernprobleme in gesellschaftlihe Bedingungen eingebettet sind, was immer das auch im einzelnen heißen mag. Allgemein jedenfalls bedeutet das, daß die sozioökomomischen Bedingungen, also die materiellen Lebensumstände, für die Entwicklung der Persönlichkeit, für ihr Verhalten, für ihre Wertorientierung, ihre Motive von entscheidender Bedeutung sind. Der Begriff der Sozialisation ist also eine theoretische Vermittlung zwischen den Begriffen Sozialstruktur auf der einen Seite und Persönlichkeitsstruktur der Mitglieder einer Gesellschaft auf der anderen Seite. Oder in den Worten einer neueren Sozialisationsuntersuchung2)
|a 23|2)R. Jessor (Th. D. Graves/ R. C. Hanson / S. L. Jessor; S Niety, Personality and Deciant Behavior, New York 1968
die zugleich einen theoretischen Rahmen zu erarbeiten sucht: Das Sozialisationssystem vermittelt zwischen dem sozio-kulturellen System und dem Persönlichkeitssystem. Innerhalb einer Gesellschaft gibt es demnach also so viele Sozialisations- und Persönlichkeitssysteme wie es sozio-kulturelle Systeme gibt, so viele Sozialisations- und Persönlichkeitssysteme wie es unterscheidbare materielle Lebensbedingungen sozialer Gruppen gibt, die sich deutlich genug voneinander abheben, um auch unterschiedliche Normen, Verhaltensmuster und Lebenschancen zur Folge zu haben (z. B. die Gruppe der Akademiker, der Angestellten, der Arbeiter, die Gruppe der Land- und die Gruppe der Stadtbevölkerung, ethnische Gruppen, religiöse Gruppen etc.). Auch die der sozialen Unterschicht zugehörige Bevölkerung kann nun im Sinne einer solchen Gruppe interpretiert werden.
[037:12] Da die Klienten der Sozialarbeit vorwiegend aus dieser Schicht stammen, liegt es nahe, ja ist es unerläßlich, jenen Zusammenhang vom sozio-kulturellen System, Sozialisations|a 8|system und Persönlichkeitssystem für diese Gruppe zu ermitteln.
[037:13] Neben vielen anderen hat Miller3)
|a 23|3)W. V. Miller, Die Kultur der Unterschicht als ein Entstehungsmilieu für Bandendeliquent, in: F. Sack/ R. König (Hg.) Kriminaloziologe, Frankfurt/M. 1968
versucht, durch direkte Beobachtungen so etwas wie die wesentlichen Merkmale einer Kultur der Unterschicht zu bestimmen. Es handelt sich dabei um Merkmale, mit denen sowohl das Sozialisationssystem wie auch der auf diese Weise durch bestimmte pädagogische Techniken in solchen Bereichen zustandkommende Sozialcharakter von Unterschichtsangehörigen beschrieben werden kann. Miller unterscheidet in dieser Absicht mehrere
Kristallisationspunkte
, die er vornehmlich in den folgenden Begriffen zusammenfaßt: Schwierigkeiten, Härte, geistige Wendigkeit, Erregung, Unabhängigkeit, Zugehörigkeit, Status. Auf Anhieb sind diese Ausdrücke befremdend, weil man nicht recht weiß, was man damit anfangen soll. Sie sind Hinweise auf diejenigen Probleme, mit denen es die Angehörigen der Unterschicht vornehmlich zu tun haben, diejenigen Probleme, die für die Verhaltensorientierung der Angehörigen dieser Schicht außerordentlich wichtig sind und in ihrem Selbstverständnis als die problematischen Aspekte ihres Daseins auftauchen, aber die andererseits auch in objektiver Analyse als diejenigen Aspekte ihres Daseins ermittelt werden können, die tatsächlich, unabhängig von ihrem eigenen Selbstverständnis, eine zentrale Rolle spielen. Ich werde einige Bemerkungen zu diesen einzelnen Begriffen machen.
[037:14]
Schwierigkeiten
:
Für
Angehörige der Unterschicht ist es offenbar im Unterschied z. B. zu Angehörigen anderer sozialer Schichten außerordentlich wichtig, nicht in Schwierigkeiten zu geraten, das heißt nicht in Probleme verwickelt zu werden, deren Bewältigung, insbesondere im Zusammenhang mit der sozialen Mitwelt, auffallende Folgen zeitigen. Es ist damit vornehmlich gemeint das Vermeiden von Schwierigkeiten, die es mit den gesetzlichen Regelungen in unserer Gesellschaft zu tun haben. Gerade das Fertigwerden mit der beständigen Schwierigkeit, gesetzlich erwartetes Verhalten nicht einhalten zu können, das Fertigwerden mit dem beständigen Druck in Richtung auf das Produzieren abweichender Verhaltensweisen verleiht dem Angehörigen dieser Schicht einen besonderen Status, gerade das erscheint ihm als eine Leistung besonderer Art. Wo in den sozialen Mittel|a 9|schichten etwa der Begriff der Leistung einzusetzen wäre, das Sich-Profilieren in individueller Tüchtigkeit, etwa im Beruf, im sozialen Fortkommen usw., steht in der Unterschicht dieses Fertigwerden mit Schwierigkeiten innerhalb dieser Schicht.
[037:16]
Härte
:
[037:17] Dem Angehörigen der Unterschicht ist es offenbar selbstverständlich, alle seine Äußerungen oder doch die wesentlichen Probleme der sozialen Kommunikation immer auch unter dem Gesichtspunkt der harten Selbstdarstellung zu betrachten. Auf diese Weise entsteht und pflanzt sich gleichsam fort ein ausgesprochen maskulines Ideal, das die physische Tapferkeit, wie wir sie etwa in der Filmindustrie, der Traumwelt, beständig noch erfahren, daß diese physische Tapferkeit einen ganz herausgehobenen und das Verhalten im Ganzen regulierenden Wert darstellt.
[037:18]
geistige Wendigkeit
:
[037:19] Mit diesem Stichwort sind die Fähigkeiten gemeint, ein Ziel mit minimalem Kraftaufwand zu erreichen und sich aus Konfliktlagen geschickt herauszuwinden, d.h. also um eine spezifische Form intelligenten Verhaltens, das sich von dem der Mittelschicht durchaus unterscheidet. Es wird schon sehr früh eingeübt, zunächst innerhalb der Familie, dann außerhalb der Familie in den Kindergruppen, auf der Straße, in der Kneipe, den typischen Formen des Unterschichtenstreites, des Unterschichtenwitzes und -spottes, in den Formen des ritualisierten Austausches von Beleidigungen usw.
[037:20]
Erregung
:
[037:21] Der Sozialisationsmodus und damit auch die Persönlichkeitsstruktur des Unterschichtsangehörigen neigt zu einem Verhalten, in dem ein Hin- und Herpendeln zwischen monotonen Tätigkeiten auf der einen Seite und stark affektiven Erregungszuständen auf der anderen Seite nicht nur häufig, sondern offenbar sogar geboten ist. Das übliche und gerade von Sozialpädagogen häufig bemängelte
Herumlungern
, das
Eckenstehen
, das
Nichts-mit-sich-anzufangen-wissen
, das, was dem Außenstehenden – besonders dem, der mit mittelständischen Wertungen sich identifiziert – als augenfälliges Symptom eines sinnentleerten Daseins erscheint, ist gerade zu interpretieren als die Notwendigkeit, ange|a 10|sichts des beständigen Drucks der Arbeitssituation einen affektiven Ausgleich zu schaffen. Das Problem des Alkoholgenusses in der unteren sozialen Schicht gehört in diesen Zusammenhang, und zwar als eine Form jenes affektiven Verhaltens, das als Kompensation der Arbeitsmonotonie betrachtet werden kann. An dieser Stelle ist vielleicht besonders deutlich, wie unterschiedlich die Vorstellungen und die Lebenspraktiken verschiedener sozialer Schichten sind und wie schwierig es für den Angehörigen der einen Schicht ist, das, was in der anderen geschieht, tatsächlich zu verstehen.
[037:22]
Unabhängigkeit
:
[037:23] Es handelt sich auch hier um ein charakterliches Verhaltensmerkmal im Hinblick auf einen Wert, der im übrigen ja in dieser ganzen Gesellschaft akzeptiert und geschätzt wird. Die besondere Darstellung dieses Problems, die besondere Art der Verarbeitung der mit Unabhängigkeit oder mit dem Streben nach Unabhängigkeit zusammenhängenden Probleme sieht in der Unterschicht so aus, daß eine Diskrepanz besteht zwischen dem, was offen positiv bewertet wird, und dem, was heimlich wirklich erstrebt wird. Oder anders formuliert: Für das Unterschichtsverhalten charakteristisch ist die Diskrepanz zwischen einer bemerkenswerten Zurschaustellung von Autoritätskritik, von Unabhängigkeitsstreben, der Ablehnung von Bevormundung auf der einen und einem deutlichen Versorgungsbedürfnis, einer Autoritätssuche und einem starken Anlehnungsbedürfnis auf der anderen Seite. Viele Angehörige der Unterschicht scheinen geradezu eine restriktive soziale Umwelt zu suchen, in der es stringente äußerliche Kontrollen über ihr Verhalten gibt. Auf diese Weise wird vielleicht zum Teil erklärlich die Ambivalenz im Verhalten von Jugendlichen in Heimen oder anderen geschlossenen Anstalten: ihr Hin und Her zwischen Auflehnung und der Suche nach einem System von stabilen Verhaltensregeln und Bezugspersonen. Solange er, der Angehörige der Unterschicht, unter dem Zugriff solcher Systeme steht, zeigt er seinen Schichtgenossen gegenüber ständigen Ärger über diese physische, ungerechte und willkürliche Ausübung der Autorität. Ist er entlassen, oder ist er diesem Milieu entflohen, wird er sich oft so verhalten, daß ihm seine Rückführung sicher ist, oder er wird sich freiwillig nach einer |a 11|vorübergehenden Periode der Freiheit wieder einfinden.
[037:24] Dies könnte nun leicht zynisch mißverstanden werden im Sinne der bornierten Meinung:
da sieht man es ja, die Unterschicht braucht eine starke Hand
. Nichts wäre falscher, nichts wäre der Absicht meines Vortrages mehr entgegenstehend! Nach dem skizzierten Modell des Zusammenhangs von sozio-ökonomischem System, Sozialisationssystem und Persönlichkeitssystem sind es ja gerade die sozio-kulturellen Bedingungen, die solche Verhaltensweisen produzieren, die solches Verhalten oder solche Persönlichkeitsmerkmale über ein entsprechendes Sozialisationssystem hervorbringen.
[037:25]
Zugehörigkeit und Status
:
[037:26] Im Unterschied zu dem in der Gesellschaft sonst geltenden Wert der Individualität spielt er in der Untersicht eine nahezu verschwindende, wenn überhaupt irgendeine Rolle. Viel wichtiger sind demgegenüber Kategorien des kollektiven Verhaltens, der Gesichtspunkt der Zugehörigkeit, des Dabeiseins, des Mitmachens oder um es trivial zu formulieren, der Gesichtspunkt, ein guter Kumpel zu sein. Unwichtig dagegen ist es, mit besonderen Leistungen hervorzuragen (mit Ausnahme der körperlichen), Individualität zu entwickeln, besondere, differenzierte Gefühle zu entwickeln und sie auch sozial zur Darstellung zu bringen, Damit hängt die besondere Form des Statusbedürfnisses zusammen, das schon relativ früh ausgesprochen erwachsen-orientiert und rollenkonform ist. Äußere Statussymbole in Form kollektiv anerkannter Tätigkeiten spielen von früh an eine Rolle: das Trinken, das Autofahren, das Spielen u. ä.. Nicht die bürgerlichen Interessen an der Sache, an den Handlungen selbst verleihen den Einzelnen Ansehen, sondern vielmehr die Interessen an Handlungen und Sachen, nur insofern sie einen Sozialwert vermitteln.
[037:27] Das sind nun sicher auf weiten Strecken gar keine Neuigkeiten, es sind Erscheinungen, die zur Alltagserfahrung dessen gehören, der im Zusammenhang der sozialen Arbeit steht. Die Frage ist nur, in welcher Weise wir diese Erfahrungen und Daten interpretieren, wie sie in den Rahmen einer Theorie der Sozialpädagogik eingeordnet werden können. Ich will deshalb einige Aspekte, die theoretisch relevant sein können, im folgenden zur Sprache bringen.
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2. Aspekte restriktiver Sozialisation

[037:28] Schon verschiedentlich habe ich in dieser Skizze auf Vergleiche zur Mittelschicht hingewiesen. Verschiedentlich ist auch schon der Ausdruck restriktiv gefallen. Zu diesem Ausdruck eine kurze Bemerkung: Wir verwenden ihn als eine zusammenfassende Bezeichnung für jene merkmale des Sozialisationsprozesses, die die Lern- und damit die Lebenschancen einer Gruppe oder eines Einzelnen verringern, und zwar bezogen auf die dominanten Erwartungen und Werte der Kultur. Eine Gruppe ist also u. a. deshalb unterprivilegiert zu nennen, weil sie unter restriktiven Lernbedingungen aufwächst. In diesem Sinne leben die Angehörigen der Unterschicht unter restriktiven Bedingungen:
  • [037:29] Sie lernen nicht, und das ist eine Interpretation der bisher gegebenen Skizze, sich diejenigen Fähigkeiten anzueignen die individuelle Konkurrenzfähigkeit möglich machen;
  • [037:30] sie lernen nicht, was nötig wäre, um sozial aufsteigen zu können (ich frage hier gar nicht, ob das überhaupt erstrebenswert sein soll);
  • [037:31] sie lernen nicht, ohne einen autoritativen institutionellen Rahmen individuell sich zu verhalten;
  • [037:32] sie lernen schließlich nicht, sich diejenigen Fähigkeiten und Mittel anzueignen die nötig wären, um sich aus der kollektiven Situation der Unterprivilegiertheit zu befreien.
[037:33] Diese vier Sätze könnte man als eine Umschreibung der Bedeutung des Ausdrucks
restriktive Sozialisationsbedingungen
verstehen.
[037:34] In vielen Versuchen konnte jenes Sozialisationsdefizit im einzelnen und auch mit zwar unterschiedlicher aber doch relativ großer Sicherheit nachgewiesen werden. Einige solcher Aspekte will ich nun skizzieren, und zwar die normativen Orientierungen, das Leistungsverhalten, das Geschlechtsrollenverhalten und die Sprache.
[037:35] Die normativen Orientierungen:
[037:36] Jenes in der kurzen, von mir gegebenen Skizze zum Vorschein kommende Verhalten enthält als eine seiner wesentlichen Aspekte den Verlust dessen, was in der bürgerlich-mittelständischen Tradition etwa als das Planungsverhalten für jedermann selbstverständlich ist oder doch jedermann selbstverständlich zu sein scheint. In der Dimension Gegenwart – |a 13|Zukunft verteilen sich die Orientierungen der sozialen Schichten so, daß man sagen kann: Mittelschichtangehörige orientieren sich wesentlich in der geschichtlichen Dimension; sie haben sowohl eine weit zurückreichende Erinnerung wie auch verfügen sie über Mittel der Planung in die Zukunft, sie können zukünftige Ereignisse differenziert antizipieren und ihr Verhalten im Sinne solcher Antizipation einrichten. Die Angehörigen der unteren sozialen Schichten jedoch verfügen nur relativ wenig über diese spezifische Form bürgerlichen Verhaltens und sind viel mehr orientiert an der Gegenwart allein und den Bezugs- und Orientierungspunkten, die diese Gegenwart ihnen liefert. Sie verfügen nicht über das, was im Zusammenhang der einschlägigen Forschung das
defered gratification pattern
genannt wird: ein Verhaltensmuster, mit dessen Hilfe dem Individuum die Möglichkeit gegeben wird, unmittelbare Befriedigung hinauszuschieben und sie erst von einem späteren Zeitpunkt zu erwarten. Diese Fähigkeit, sich unmittelbare Befriedigung zu versagen, auftauchende Affekte nicht spontan zum Zuge kommen zu lassen, sondern sie gleichsam zu disziplinieren, dieses Muster ist eine notwendige Voraussetzung für jenes zitierte Planungsverhalten, das ein typisches Merkmal der mittelständisch-bürgerlichen Kultur ist, aber dessen Fehlen eben entscheidendes Markmal des Unterschichtverhaltens ist. Damit hängt die Verhaltensalternative von kollektivistischer und individualistischer Orientierung zusammen. Die Unterschicht verfügt wenig über jenes Verhaltensmuster, das uns Mittelschicht-Angehörige selbstverständlich ist: daß der Einzelne als Einzelner, das Individuum mit Merkmalen, die nur ihm allein und niemand anderem sonst zukommen, sich im sozialen Zusammenhang präsentiert und daß er genau danach auch geschätzt wird, daß die Prämien, die verteilt werden, gleichsam nach Gesichtspunkten der Individualität verteilt werden und nicht nach kollektiven Gesichtspunkten der Zugehörigkeit oder Solidarität. Diese Differenz, die sich zwischen den sozialen Schichten zeigt, läßt sich auch zusammenfassen in dem Begriff der Statusorientiertheit auf der einen Seite und der Personorientiertheit auf der anderen Seite.
[037:37] Das Leistungsverhalten:
[037:38] Mit solchen normativen Orientierungen hängt die unterschied|a 14|liche Verteilung des Leistungsverhaltens in den sozialen Schichten zusammen. Wir wissen aus unzähligen Untersuchungen, insbesondere die schulischen Karrieren von Kindern betreffend, daß Angehörige der Unterschicht in der Regel über ein niedrigeres Leistungsniveau, niedrigeres Aspirationsniveau und niedrigere Leistungsmotivation verfügen als die Kinder der höheren Schichten. Diese geringe Leistungsmotivation steht im Zusammenhang mit jener Alternative von kollektivistischer und individualistischer Orientierung, bzw. mit dem
defered gratification pattern
. Leistungsverhalten scheint weitgehend von dieser Fähigkeit abhängig zu sein, zukünftige Ereignisse zu antizipieren und das zu entwickeln, was wir das Planungsverhalten nennen.
Leistung
bezeichnet dabei allerdings immer – und ohne diesen Hinweis bleiben solche Skizzen nicht nur unvollständig, sondern wären sie falsch – den wesentlich in unserem Bildungssystem institutionalisierten und kulturell dominanten Leistungsbegriff. Über diesen Leistungsbegriff und seine Problematik will ich hier nichts sagen, obwohl gerade an dieser Stelle eine kritische Erörterung des Problems besonders erforderlich wäre. Mit dem Leistungsverhalten, gerade mit der Differenz im Leistungsverhalten der verschiedenen sozialen Schichten hängt ja die Tatsache zusammen, daß der weniger Leistungsfähige zugleich auch der weniger Konkurrenzfähige ist, d.h. derjenige, der von den Mitteln, die unser soziales System ihm bietet, einen geringeren Gebraucht machen kann und also als der sozial Schwächere erscheint. Dieser Leistungsbegriff zeigt sehr deutlich seine Abhängigkeit von dem ökonomischen System und demonstriert die Interdependenz der verschiedenen gesellschaftlichen Instituationen.
[037:39] Die Entstehung dieser niedrigen Leistungsmotivation können wir ungefähr so erklären: Es fehlt in der unteren sozialen Schicht der starke Anreiz durch reale Erfolgsaussichten. Der Zugang zu den legitimen Kanälen des Erwerbs materieller Güter ist eingeengt durch eine
opportunity structure
4)
4)Jesser et.al.: Society, Personality, an Deviant Behavior
, die den Angehörigen der Unterschicht nur geringe Chancen bietet. Woher soll der Anreiz kommen, so etwas wie Leistungsverhalten überhaupt zu entwickeln, wenn doch die Gesellschaft an den Arbeitsplätzen, die sie für diese Schichten bereit|a 15|hält wenig reale Chancen einräumt, ein solches Leistungsstreben auch wirklich als honorierbares zu erleben. Da der Erfolg in Form von individueller Leistungs- und Konkurrenzfähigkeit nun aber in der dominanten Kultur nicht nur technisch sondern zugleich auch moralisch bewertet wird, steht der Angehörige der Unterschicht unter dem ständigen zusätzlichen moralischen Druck. Er kann diesen Druck nun in der Form eines eigenen Normensystems verarbeiten, indem er versucht, sich gleichsam resignativ dieser unterprivilegierten Situation anzupassen, nach der Devise
es hat ja doch alles keinen Zweck
, und so wenigstens die bürgerlichen Bewertungsmaßstäbe einigermaßen neutralisieren. In dem Augenblick, wo er resigniert und sich zurückzieht und eigene Normenorientierungen entwickelt wie z. B. jene kollektivistische Orientierung, erreicht ihn gleichsam der bürgerliche Bewertungsmaßstab nach individualistischen Konkurrenzleistungskriterien gar nicht mehr. Er wird für seine eigene Lebensführung ein völlig irrelevantes Datum: eine Form der Anpassung an das gegebene soziale System. Er kann allerdings auch durch übermäßige Anstrengung das geforderte Leistungsniveau dennoch erreichen und sozial aufsteigen; und er kann schließlich auch den Weg des abweichenden Verhaltens gehen und sich in den Besitz derjenigen Güter bringen, die ein Symbol für Leistung in unserer Gesellschaft sind, dann freilich nicht mehr mit denjenigen Mitteln, die von der dominanten Kultur nocht gutgeheißen werden.
[037:40] Es ist offenbar nicht leicht, wirklich zu verstehen, was diese Unterschiede im Sozialisationsmilieu und seiner Wirkungen bedeuten, welche Konsequenzen sich daraus ergeben, besonders für den Sozialarbeiter, sein Selbstverständnis und seine Praxis. Das illustriert z. B. der Bericht über eine Sozialarbeiterkonferenz, auf der die Eckenstehergruppen der Unterschicht als
Jugendgruppen
beschrieben wurden, die mit der Kultur
ihrer
Gemeinde in Konflikt stehen. Solche Charakterisierungen ergeben sich offensichtlich, wenn die Mittelschicht und ihre Institutionen naiv als Maßstab genommen werden.
[037:41] Das geschlechtsspezifische Rollenverhalten.
[037:42] Wir wissen alle, daß Mädchen in den unteren sozialen Schich|a 16|ten in besonders gravierender Weise benachteiligt werden. In der Unterschicht nun sind die Geschlechtsrollen besonders stereotyp ausgeprägt; die Frau wird hier eindeutiger als in allen anderen gesellschaftlichen Gruppen festgelegt auf einen bestimmten Typus des Verhaltens und leidet unter dem restriktiven Rollendruck. Diese deutliche Ausprägung der Geschlechtsrollendifferenzen innerhalb der Familien hängt u. a. mit der besonderen Situation der Arbeiter in den unteren sozialen Schichten zusammen. Die emotionelle Beziehung zur Mutter ist – im Vergleich mit anderen sozialen Schichten – ungleich stärker als die zum Vater; auch die rollenspezifischen Indentifizierungen der nachwachsenden Generation sind damit deutlicher und intensiver. Aber nicht nur für die Mädchen, auch für die Jungen ergeben sich aus dieser Situation gravierende Konsequenzen: die Betonung des Maskulinen, das Schwanken zwischen Autoritätskritik und Autoritätshörigkeit, die damit zusammenhängende geringere Ich-Stärke oder, wenn man so will, die geringere Autonomie, ist wahrscheinlich in diesem Zusammenhang zu interpretieren. Das Fehlen eines in seinem Rollenverhalten deutlich sichtbaren und auch emotionell an die Kinder gebundenen Vaters schafft eine Situation in der jene Unsicherheit im Umgang mit Autorität entsteht, jene schwache Entwicklung einer rational-distanzierten Autoritätskritik.
[037:43] Sprachverhalten:
[037:44] Dieses Problem ist inzwischen so viel diskutiert, daß ich es hier nur ganz kurz behandeln möchte. Im Sprachverhalten dokumentieren sich nun nicht nur die normativen Orientierungen, sondern es dokumentieren sich im Sprachverhalten auch die Reflexionsmöglichkeiten einer gesellschaftlichen Gruppe bzw. die des einzelnen Sprechers. Es dokumentieren sich in ihr soziale Nähe und Distanz, die Gesamtheit des möglichen Rollenverhaltens. In der Fülle von Untersuchungen in diesem Feld konnte ermittelt werden, daß das sprachliche Verhalten eine der wesentlichsten Bedingungen, wenn nicht vielleicht sogar die wesentlichste Bedingung für die kognitiven Unterschiede im Verhalten der sozialen Gruppen und Schichten darstellen. Die Ermittlung der schichtspezifischen Sprachstile ist deshalb für pädagogische Fragestellungen viel|a 17|leicht der wichtigste Forschungszweig bei der Ermittlung von restriktiven Sozialisationsbedingungen innerhalb unserer Gesellschaft bei der Ermittlung von unterprivilegierten Lagen. Hier zeigt sich, daß die Unterschiede der Schichten bis in Einzelleistungen des Denkens und des Vorstellens hinein sich auswirken. Das, was als die Wertorientierung unter dem Begriff des Status und des kollektivistischen Verhaltens schon zitiert wurde, prägt sich auf der Ebene des Sprachverhaltens noch einmal deutlich sichtbar und empirisch gut zu ermitteln aus: Die Sprache der Unterschicht verfügt über wenig Möglichkeiten der individuellen Differenzierung, sie verfügt über wenig Möglichkeiten, differenzierte individuelle Intentionen auszudrücken, kompliziertere Problemlösungen abzubilden; dieser Sprachstil neigt im Ganzen zum Konkretismus, zu einem Verzicht auf Differenzierungen, Nuancierungen, Individualisierungen. In ihm kann sich gerade das nicht entwickeln, was uns allen – als mittelständisches Sprachmuster – selbstverständlich erscheint und was wir – vielleicht kurzschlüssig – als das allein
Wertvolle
interpretieren. Richtig an solcher Interpretation ist allerdings, daß die von uns naiv akzeptierten Werte tatsächlich die in dieser Gesellschaft dominanten Werte sind. Wären sie es nicht dann wäre es in der Tat auch nicht sinnvoll, die Sozialisationsbedingungen einer anderen Schicht als restriktiv zu bezeichnen, denn restriktiv sind sie ja gerade nur im Vergleich zu jenen in der Gesellschaft selbstverständlich geltenden Normen.

3. Einige theoretischen Bemerkungen

[037:45] Fügt man die referierten Beobachtungen zusammen, dann möchte man besonders im Hinblick auf die Probleme der Sozialarbeit mit dem Soziologen Dreitzel 5)
|a 23|5)P. Dreitzel: Die gesellschftlichen Leiden und das Leiden der Gesellschaft, Stuttgart Enke 1968
der Meinung sein, daß eine Pathologie der Gesellschaft und damit auch eine Pathologie des Sozialisationsprozesses dringend erforderlich ist. Allein davon sind wir theoretisch noch weit entfernt. Dennoch möchte ich einige Erklärungsversuche in diesen letzten Bemerkungen zusammenstellen, auch wenn sie sehr wahrscheinlich nur Teile des Ganzen befreffen und keineswegs das Gesamtsyndrom restringierter Sozialisationsbedingungen zu erklären vermögen.
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[037:46] Eines der wichtigsten Merkmale des für die Unterschicht typischen Sozialisations- und Persönlichkeitssystems scheint, und darauf habe ich häufig hingewiesen, das kollektivistische, das statusorientierte Verhalten zu sein. Wenn wir nicht alles aus einer relativ stabilen Unterschichtkultur erklären wollen, die irgendwann einmal entstand und sich nun gleichsam durch ihre eigenen Traditionen am Leben erhält und von Generation zu Generation wertervermittelt, dann bietet sich u. a. eine Erklärung an, die zum entscheidenden Ausgangspunkt den restriktiven Charakter dieser Kultur wählt, d.h. ihre relative Lage zu den wertdominanten Gruppen der Gesellschaft. Wichtiger als zu erklären, wie es zu jenem Sozialisations- und Persönlichkeitssystem kam, ist vielleicht eine Erklärung, warum es dabei bleibt, obwohl doch unsere Gesamtkultur sich an anderen Maßstäben als den Maßstäben dieser sozialen Schicht, die immerhin einen beträchtlichen Teil dieser Gesellschaft ausmacht, planmäßig orientiert. Eines der möglichen Erklärungsschemata geht von dem berufsspezifischen Rollenverhalten aus. Die industrielle Arbeitssituation des lohnabhängigen Arbeiters läßt für die in unserer Kultur dominanten Werte in seiner Situation wenig Spielraum. Das Arbeitsverhalten ist an funktionell festgelegten sozialen Rollen orientiert. Als Vollzugsnormen sind die Normen dieses Arbeitsverhaltens notwendig prägnant und geben in ihrer Prägnanz individuellen Bedürfnissen und ihrer Befriedigung wenig oder gar keinen Spielraum. Daß ein derart festgelegtes und institutionalisiertes Verhaltensritual eine stark prägende Wirkung hat, liegt nahe. Es liegt ebenso nahe wie die Vermutung, daß es sich dabei um einen triebunterdrückenden Mechanismus handelt. Beides, sowohl die prägende Wirkung wie die Frage der Triebunterdrückung ist in diesem Zusammenhang wichtig. Die Prägung des Arbeitsverhaltens wirkt, so scheint es, unmittelbar in die arbeitsfreie Zeit hinein und bewirkt hier eine Wiederholung derjenigen Verhaltensmerkmale, die durch den Druck der Arbeitsverhältnisse und die dort erfolgten Indentifizierungen die Möglichkeiten des Verhaltens einschränkt oder festlegt. Strikte Kontrolle des Verhaltens des Kindes in der Familie, genau eingehaltene Arbeitsteilung zwischen |a 19|Mann und Frau, nicht individualistische, sondern kollektivistische Verhaltenserwartungen im Sozialisationssystem usw.: das sind gleichsam in das pädagogische Lernfeld übertragene Vollzugsnormen aus der repressiven Arbeitssituation, der der Arbeiter selbst täglich konfrontiert wird. Das zeigt z. B. eine Untersuchung von Kohn und Pearlin 6)
|a 23|6)L.J. Pearlin/ M.L: Kohn: Social Class, Occupation, and Parental Values: A Cross-National Study, in: Am. Soc. Rev., Vol. 31, 1966, S. 466 ff.
, in der versucht worden ist, Korrelationen zwischen dem Arbeitsverhalten auf der einen Seite und dem Erziehungsverhalten auf der anderen zu ermitteln. Kohn hat etwas getan, was in Untersuchungen bis dahin nicht geschehen war: in der Regel hat man nämlich unterschiedliche Erziehungspraktiken immer nur auf die verschiedenen sozialen Schichten verteilt; er dagegen hat den Faktor der Schicht einmal außer Acht gelassen und stattdessen die von ihm untersuchte Population in drei Gruppen eingeteilt mit der Frage: geht der Ernährer dieser Familie, deren Sozialisationszusammenhang untersucht wurde, vornehmlich
mit Dingen
um, geht er vornehmlich
mit Menschen
oder geht er vornehmlich
mit Ideen
um. Und es zeigt sich dann, daß der Zusammenhang zwischen Erziehungspraxis und Arbeitssituation wesentlich enger ist als der zwischen Erziehungspraxis und sozialer Schicht. Das heißt: viel wichtiger als die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht ist die Art und Weise, in der der Arbeitsplatz zu einem bestimmten Rollenverhalten zwingt. Oder anders interpretiert: je prägnanter das geforderte Arbeitsverhalten, um so restriktiver ist die Erziehungspraxis. Die rollenmäßig am wenigsten festgelegten Berufe sind nun offenbar solche, in denen man mit Ideen umgeht. Die restriktiv prägende Wirkung des Verhaltens am Arbeitsplatz trifft vornehmlich jene Schichten der Bevölkerung, die mit Dingen umgehen, d.h. diejenigen, die wir uns angewöhnt haben als Arbeiter zu bezeichnen.
[037:47] Dieser Zusammenhang ist nun für die Sozialisationsforschung außerordentlich wichtig, weil so innerhalb der Schichtzugehörigkeit ein Faktor deutlicher herausgehoben und auf diese Weise für die Theoriebildung verwendet werden kann.
[037:48] Der triebunterdrückende Charakter der modernen Industriearbeit betrifft aber noch einen anderen Aspekt des Problems. Es ist für die industrielle Arbeitssituation gleichsam normal, daß in ihr Triebunterdrückung herrscht. Das liegt an |a 20|der Natur dieser Tätigkeit und an der schon genannten Prägnanz des verlangten Rollenverhaltens. In diese Situation entstehen sogenannte
projektive Gehalte
in Wünschen und Vorstellungen, in Träumen, Utopien usw. Das heißt, es entstehen Vorstellungen von einer anderen Situation, von einer Alternative zum gegebenen Zustand, und zwar im Hinblick auf eine mögliche Bedürfnisbefriedigung. In einer solchen Situation gibt es zwei Möglichkeiten. Zunächst wäre es möglich, daß solche Projektionen in den Dienst einer aktiven Veränderung der Lage genommen werden: z. B. in den Dienst des sozialen Aufstiegs, sowohl des individuellen wie auch eines politischen, kollektiven Aufstiegs.
[037:49] Die andere Möglichkeit wäre die, daß solche projektiven Gehalte nicht in den Dienst der Veränderung der Lage gestellt werden, sondern als Kompensation der repressiv erfahrenen Situation fungieren. Das ist die Tatsache z. B. in der Konsum- und Freizeitindustrie, die sozialpsychologisch in diesem Zusammenhang, wenn ich das recht sehe, nicht anderes tut als die in der Arbeitssituation beständig entstehenden projektiven Gehalte auf einer politisch neutrale und ungefährliche Weise beständig wieder abzuschöpfen. Wir haben es also, um es zugespitzt zu sagen, im Fall der unteren sozialen Schichten mit einer doppelten Ausbeutung zu tun. Es handelt sich nicht nur um eine Ausbeutung der physischen Arbeitskraft, sondern auch noch um eine psychische
Ausbeutung
derjenigen Kräfte, die u. U. verändert und in dieser Situation wirksam werden könnten.
[037:50] Damit könnte nun jener in vielen Untersuchungen immer wieder zum Vorschein kommende Mangel an Autonomie und Ich-Stärke in den als unterprivilegiert zu bezeichnenden Gruppen zusammenhängen. Die Kanalisierung der projektiven Gehalte durch die Freizeitindustrie, die Privatisierung des in den Träumen, Wünschen und Vorstellungen enthaltenen utopischen Elements bewirkt ein Schwächung der Widerstandskraft gegen jene Rollenerwartung, die in der Arbeitssituation die Triebunterdrückung verlangt. Dazu steht auch jene Beobachtung nicht im Widerspruch, nach der gerade in der Unterschicht ein heftiger Wechsel von diszipliniertem, konformen Verhalten und affektiven Erregungszuständen häufig ist.
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[037:51] Diese Affektivität kann nun gleichsam als die dynamische Seite jener projektiven Gehalte interpretiert werden. Das Fehlen einer wirkungsvollen affektbildung in der Unterschicht bewirkt, daß sie nicht produktiv zur Gestaltung der eigenen Lebensverhältnisse eingesetzt werden, sondern nur als kompensatorische Abfuhr fungieren. Das ist nicht Schuld des Einzelnen, da er ja im Sozialisationssystem gar keine anderen Muster möglicher Affektbewältigung vorfindet.
[037:52] In solchen Verknüpfungen wird also versucht, das Sozialisationssystem der Unterschicht, ihren Sozialcharakter und die damit zusammenhängenden Verhaltens- und Orientierungsschemata aus der Struktur unserer Arbeitswelt und den in ihr herrschenden Hierarchien, Disziplinierungen, Rollendefinitionen und Beteiligungsmodi zu erklären. Unterprivilegierung und Restriktion sind die Folgen restriktiver Rollenbildung, so ließe sich zusammenfassend formulieren. Nicht das Sich-Hineinversetzen in den individuellen Klienten bezeichnet deshalb die primäre methodische Aufgabe des Sozialarbeiters, sondern das Sich-Hineinversetzen in die kollektive Lage dieser Schicht und ein Verständnis des Einzelverhaltens aus dem Zusammenhang solcher Bedingungen. Er müßte dabei das Kunststück vollbringen, seine eigenen Wertorientierungen und Verhaltenserwartungen völlig zu suspendieren, ohne sie doch zu vergessen. Zum Verständnis nämlich sind sie unerläßlich, und zwar deshalb, weil der restriktive Charakter der Unterschichtsozialisation ja u. a. erst unter der Bedingung der nicht erreichbaren Werte der domananten Kultur seine repressive Funktion erhält. Und erhält.
[037:53] Und schließlich möchte ich noch einen Aspekt meines Themas wenigstens erwähnen, der zwar theoretisch nicht so relevant sein mag, praktisch aber doch von großer Bedeutung ist. Goffman hat ein Buch geschrieben mit dem Titel
Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität
7)
|a 23|7)I. Goffman: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt/ M. 1967
Der Ausdruck Stigma wird hier als ein Schlüsselbegriff für all jene Probleme verwendet, die für einen Menschen mit einer auffallenden Andersartigkeit auftauchen. Stigmatisierung ist ein soziales Phänomen. Nicht das unterscheidende Markmal allein, z. B. die Blindheit, die Geisteskrankheit, die Schwerhörigkeit u. ä., sondern seine Bewertung durch die |a 22|anderen, deren Reaktion bringen die Rollenkonflikte hervor, in die der Stigmatisierte gedrängt wird, und bewirken die Beschädigung seiner Identität. Stigmatisierungen aber widerfahren nun nicht nur Einzelnen, sondern auch sozialen Gruppen. Vielleicht handelt es sich hier tatsächlich um eine Art Kernproblem der Sozial- und Jugendhilfe. Ihr Institutionen produzieren gleichsam aus den vielen Einzelnen je verschiedene Gruppen der Klienten und
stigmatisieren
sie über die einzelnen sozialen Kontakte der Individuen hinaus nach den Bewertungsregeln dieser Einrichtungen. Jede Anstaltsunterbringung ruft so zusätzlich zu den Problemen, die die Klienten ohnehin schon haben, neue und schwere Indenditätsprobleme hervor. In solcher Betrachtung wären die Klassifizierungen und Zurechnungen, die wir vornehmen (
Gefährdete
,
Verwahrloste
,
Haltlose
,
ledige Mütter
,
Mädchen mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr
usw.) Stigmatisierungen, mit denen wir für die Betroffenen neue Probleme schaffen, Probleme, für die dann die Stigmatisierten selber wiederum Anstalten brauchen, um in der Gemeinschaft der Gleichen ihre soziale und persönliche Identität wieder herzustellen, was freilich auch mißlingt. Wie ethnische und rassische Ghettos schaffen sich diese Gruppen innerhalb der Instituationen eine Zufluchtsstätte der Selbstverteidigung gegen solche
Stigmatisierungen
und einen Ort, wo der individuell Abweichende
offen der Auffassung Ausdruck verleihen kann, daß er zumindest so gut wie jeder andere ist
.
[037:54] Dazu ein Zitat: Ein Strafgefangener berichtet von der Unterhaltung mit einem Besucher, der ihm sagte:
Wissen Sie, es ist erstaunlich, daß Sie Bücher wie dieses lesen, ich bin verblüfft, ja wirklich, ich hätte gedacht, sie würden Taschenkrimis lesen, Dinger mit knalligen Umschlägen, solche Bücher eben. Und hier finde ich Sie mit Claud Cockburne, Hugh Clare, Simone de Beauvoire und Lawrence Durrell!
Der Strafgefangene kommentiert diese Bemerkung:
Wissen Sie, er hielt das überhaupt nicht für eine beleidigende Bemerkung. Ich glaube, er hielt es wirklich für anständig von sich, daß er mir erzählte, wie sehr er sich geirrt habe, und das ist genau die Art, wie man von rechtschaffenen Menschen behandelt wird, wenn man ein Krimineller ist. |a 23|
Es ist komisch
, sagen sie,
in mancher Hinsicht sind Sie genau wie ein menschliches Wesen
. Im Ernst, ich kriege dann Lust, ihnen den Hals umzudrehen.
8)
|a 23|8)Zitiert nach Goffman, S. 25
[037:55] In solchen Äußerungen zeigt sich die ganze Kluft, die zu überwinden wäre, wenn die Sozialarbeit ihre eigene mittelständische Orientierung aufgeben will.