Studentische Jugendhilfe [Textfassung a]
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Studentische Jugendhilfe

[002:1] Man gewöhnt sich heute mehr und mehr daran, im Rahmen sozialer Fragestellungen und im Zusammenhang mit der ungeheuren Ausweitung dessen, was wir
Soziale Arbeit
nennen, den Studenten als Objekt fürsorgerischer Bemühungen und sozialer Hilfsmaßnahmen zu sehen. Die Berechtigung dieses Aspektes kann gar nicht abgestritten werden und Veröffentlichungen aus jüngster Zeit scheinen die Notwendigkeit einer solchen Betrachtungsweise und eines entsprechenden Handelns nur zu bekräftigen. Umso beachtenswerter scheint es zu sein, wenn man entdeckt, daß eine Umkehrung dieses Verhältnisses nicht nur faktisch vorhanden ist, sondern auch offenbar im unmittelbaren Zusammenhang jener oft zitierten
sozialen Bedürftigkeit
des Studenten steht, die man getrost im weitesten Sinne – nicht nur in bezug auf eine finanzielle Bedürftigkeit – ausdeuten kann.
[002:2] Es soll hier daher von einem Sektor des studentischen Lebens gesprochen werden, der – gleichsam am Rande |a 363|der Universität gewachsen – mehr und mehr in das Studienleben eindringt und für den Einzelnen recht wesentliche Bedeutung erlangt. Das geschieht freilich vorerst nur an einigen Universitäten, ebenso wie auch nur ein geringer Teil der Studentenschaft davon erfaßt wird; ja sicher immer nur erfaßt werden kann. Im Sommer 1952 begann der Verband Deutscher Studentenwerke mit einem Arbeitsprogramm, in dem gewissermaßen die soziale Not des Studenten zur sozialen Tugend gemacht werden sollte. Studenten übernahmen Tätigkeiten innerhalb der Jugendsozialarbeit und erhielten dafür aus Mitteln des Bundesjugendplanes eine Entschädigung, die Stipendiencharakter trug. Diese Einrichtung besteht noch und wird weiter bestehen. Das Bemerkenswerte nun aber ist, daß diese sozialen
Arbeitseinsätze
einen großen Teil der beteiligten Studenten an einigen Hochschulen veranlaßte, sich zusammenzuschließen, mit dem Ziel, die Jugendsozialarbeit als praktisches Anliegen zum Mittelpunkt einer studentischen Gruppe zu machen, die gewonnenen Erfahrungen zu vertiefen, weitere Kreise der Studentenschaft für diesen Gedanken zu gewinnen und ihn als ein bildendes Moment – vor allem auch im Sinne einer politisch-sozialen Verantwortung – in die Universitätsausbildung des Einzelnen als Beitrag der Studentenschaft mitaufzunehmen. Die einzelnen Hochschulgruppen schlossen sich zusammen unter dem Titel
Arbeitskreis Studentische Jugendhilfe
.
[002:3] Vorbilder aus den zwanziger Jahren sollten nun aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß heute einer solchen Arbeit Schwierigkeiten ganz neuer Art im Wege stehen. Das Pathos und das Sendungsbewußtsein der sozialpädagogischen Reformbewegung ist uns heute weitgehend fremd, die Sozialarbeit ist bis in ihre Details hinein viel stärker durchorganisiert und macht es der privaten Initiative immer schwerer, der finanzielle Druck und die Anforderungen des Studiums lasten auf dem Studenten – und schließlich ist auch der soziale Impuls wesentlich schwächer, das Verhältnis zu Gemeinschaft und Gesellschaft ein durchaus anderes. Aber gerade die eigene Notsituation und ein noch eher gefühltes als klar bewußtes neues Verhältnis zum Mitmenschen schaffen eine Ausgangssituation, in der eine eigentlich ganz unpädagogische Hinwendung zum Einzelnen und seiner Not enthalten ist.
[002:4] Die Natur der Sozialen Arbeit heute bringt es mit sich, daß die Arbeit der Studenten wesentlich unterstützender Art ist und keine völlig neuen Gedankenkreise und Arbeitsbereiche erschließen kann. Es handelt sich also im wesentlichen um die Unterstützung von und um die Mitarbeit in schon bestehenden Einrichtungen. Allerdings besteht das Anliegen der einzelnen Gruppen darin, eigene Arbeitsbereiche ausfindig zu machen, die als eine ursprüngliche Aufgabe der Gruppe entsprechen, und in ihnen auch während des Semesters und neben dem Studium tätig zu werden. Daß es sich dabei vornehmlich um solche Arbeit handelt, in der einerseits unsere spezifische soziale und politische Problematik besonders deutlich wird, und in der andererseits neue Formen und Wege in der Jugendsozialarbeit gesucht werden, ist nur natürlich. So wurden vor allen Dingen in Hamburg, Göttingen, Heidelberg, Mainz und München Schwerpunkte der Arbeit gebildet, die in der Flüchtlingsbetreuung, Schülerbetreuung und in
Heimen der offenen Tür
liegen. Die Flüchtlingsbetreuung – auf die süddeutschen Gruppen beschränkt – besteht vornehmlich in der Durchführung von musischen und bildenden Kursen, in Einzelhilfen bei solchen Fällen, die von den öffentlichen Hilfsmaßnahmen nicht erfaßt werdenø und in der Einrichtung bzw. Mitarbeit bei
Kinderstuben
. Unter
Schülerbetreuung
(Gruppe Mainz) ist die Durchführung von Ferienfreizeiten, Zeltlagern usw. zu verstehen. Diese Freizeiten wiederum sind einer Einrichtung entwachsen, in der schulschwierige Kinder von den Studenten zu Freizeitbeschäftigungen in Gruppen zusammengefaßt wurden; eine Einrichtung, die sich besonders für die beteiligten Lehrerkreise als eine erfreuliche Hilfe erwies. Bei den
Heimen der offenen Tür
handelte es sich zunächst um die Mitarbeit in schon bestehenden Heimen, bis dann die Gründung eines eigenen Heimes der Gruppe ein gleichsam autonomes Arbeitsfeld verschaffte (Hamburg). Die Frage der
Unorganisierten Jugend
und damit die Frage nach dem Bild der heutigen Jugend überhaupt rückte immer stärker in das Blickfeld der Studenten – zumal es ein Problem ist, von dem sie selbst nicht ganz unbetroffen sind –ø sodaß jetzt auch in Göttingen ein ähnlicher Versuch mit einem
Heim der offenen Tür
unternommen wurde, dessen Anfänge durchaus erfreulich sind. Sowohl die Organisation wie auch die praktische Arbeit liegt in sehr vielen Fällen völlig in der Hand der Studenten.
[002:5] In diesen Bereichen konzentrieren sich Probleme, die für die ganze Jugendsozialarbeit heute von Bedeutung sind. Es lag daher nahe, die praktische Arbeit zum Anlaß für dauernde Auseinandersetzungen mit Fragen der Fürsorgearbeit, des Jugendrechtes, der Berufsproblematik, der Jugendpflege und mit allgemeinen politisch-sozialen Fragen zu nehmen. So wurden gemeinsame Tagungen durchgeführt mit den Themen
Student und Jugendarbeit
,
Der jugendliche Flüchtling aus der SBZ
,
Probleme der Jugendpolitik
und
Der Jugendliche und seine politische Entscheidung
. Erst dieser Wechsel von Theorie und Praxis macht die studentische Jugendhilfe eigentlich fruchtbar, bei der sich Studenten aller Fakultäten beteiligen. In einer engen Zusammenarbeit mit Fachleuten aus der Sozialen Arbeit und in dauernder Diskussion der praktischen pädagogischen, methodischen und fürsorgerischen Probleme am Ort wird versucht, den Anforderungen der Arbeit gerecht zu werden.
[002:6] Abgesehen von dem Wert, den diese studentische Arbeit als ganz konkrete Hilfe und für den Studenten persönlich haben mag, scheint nun aber noch ein Moment in einem allgemeineren Zusammenhang von Bedeutung zu sein. Die zunehmende Spezialisierung auch der Sozialen Arbeit, das Problem der
Fachleute
bis in kleinste Bereiche hinein – erinnert sei hier nur an das Wuchern der Psychologie – wird schon längst nicht mehr ohne Kritik beobachtet. Der privaten Initiative wird – bedingt durch die Organisationsformen der Sozialen Arbeit, die Sozialstruktur der Gesellschaft und wohl auch die Bewußtseinslage des Einzelnen – die Möglichkeit des Handelns immer mehr erschwert. Will man aber diese Situation nicht als unabänderlich hinnehmen, so muß man auf Wege einer Änderung sinnen. Diese Wege eröffnen sich sicher nicht zuletzt an den Ausbildungsstätten aller Art. Soziale Verantwortung aber sowohl der Gesellschaft wie dem hilfsbedürftigen Einzelnen gegenüber – denn auf sie läuft alle private Initiative in der Sozialen Arbeit schließlich hinaus – wird nicht abstrakt und in der Theorie, sondern stets konkret geweckt. Die beschriebenen studentischen Bemühungen sind u. a. als ein solcher Versuch zu werten, die soziale Wirklichkeit dem Bewußtsein im Erleben und Handeln zu erschließen und den Blick für die Möglichkeiten, Grenzen und Notwendigkeiten einer privaten sozialen Hilfe zu eröffnen.