„Die Diskussionen der Jahrestagung“ [Textfassung a]
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Die Diskussionen der Jahrestagung

[V11:1] 7. Mai 1959
[V11:2] Professor Weniger – Göttingen:
[V11:3] Ich möchte nur einige Bemerkungen machen, die vielleicht helfen können, die Diskussion zu erleichtern. Herr Mollenhauer hat nämlich eine Seite der Deutung der Gegenwart unterschlagen. Er ist ausgegangen von Dingen, denen ich voll zustimmen würde, von der Not der Situation der polyphonen Gesellschaft, der Situation, daß wir uns selber in verschiedenen Schichten leben. Aber gerade bei Musil und Anderen – man kann Kafka zitieren – muß man doch Kenntnis nehmen von der philosophischen Wendung auf die Existenz hin. Sie fehlte hier, die philosophische Wendung, daß wir nämlich wieder wissen, daß wir in wenigen Situationen – allerdings sehr viel weni­ger als die humanistische Zeit geglaubt hat – vor Entscheidungen gestellt sind. Und daß, wenn nicht an irgendeiner Stelle eine Entscheidung von uns verlangt ist und geleistet ist, alles Rollenspiel unglaubwürdig wird. Das gilt nun besonders für die Situation des Sozialarbeiters. Denn er glaubt doch, wie wir es auch immer geglaubt haben, daß wir immerhin soweit distanziert sind und soweit engagiert sind, daß wir eine Verantwortung übernehmen können. Und die Verantwortung kann nicht für das Rollenspiel gelten, sondern für den Ernst.
[V11:4] |a 3|Und das ist eigentlich das, was noch überlegt werden muß. Alle diese Analysen sind richtig, auch die Erziehungsaufgabe ist richtig, daß wir den Menschen für diese Variabilität, dafür ødaß er nicht ganz er sein kann, daß er in vielen Dingen eine Rolle spielen muß, vorbereiten müssen. Aber das geht doch nur, wenn wir schließlich eine Möglichkeit eröffnen, wo er entweder sich entscheiden kann, das wäre da, wo er personalen Rang gewonnen hat, das werden Tausend und Abertausend nicht können. Oder, das wäre das Minimum für alle erzieherische und fürsorgerische Einwirkung, wo er bevollmächtigt wird, Vertrauen zu schenken, da wo er selber nicht entscheiden kann. Unsere ganze moderne Existenz ruht nicht mehr auf der Möglichkeit, wie man früher glaubte, alle zu personalisieren, d. h. alle zu vollkommen selbständigen, entscheidungsfreien, entscheidungsreifen Menschen zu machen. Aber das Minimum, aus dem z. B. eine politische Demokratie werden kann, ist, den Menschen in seiner Schwäche so doch zu bevollmächtigen, Vertrauen zu schenken, daß er sich entschließen kann, jemand zu folgen, einen Rat anzunehmen usw. Und diese Fähigkeit ist das, was ich personhafte Existenz nennen würde, die Möglichkeit, mindestens in dieser abgeleiteten Form, so gebildet zu sein, daß ich weiß, wem ich vertrauen darf, und wem ich folgen darf øund wozu ich mich entschließen kann, wenn mir andere es vorgemacht haben, sie scheint mir doch die Mindestaufgabe zu sein. Und nun glaube ich, kann der Pädagoge oder der Fürsorger in der Lage, daß ihm Ernst abverlangt wird, nicht selber nur eine Rolle spielen, das wird ihm niemand abnehmen. Wenn ich so tue, als ob ich nur erzöge, wenn ich so tue, als ob ich nur fürsorge, weil es meine Rolle Fürsorge ist, dann würde ich ja scheitern. Und an dieser Stelle setzt der existenzielle Ernst des Sozialfürsorgers und des Pädagogen ein.
[V11:5] Es muß spürbar werden, wo der Ernst sitzt. Und dieser Ernst sitzt bei manchen vielleicht in der religiösen Entscheidung. Aber, da hat Mollenhauer auch wieder ganz recht, diese religiöse Entscheidung ist von vielen von uns nicht mehr zu vollziehen und zwar noch von viel wenigeren als die tun, als ob sie es vollzögen. Aber, dann bleibt der Ernst der existenziellen Entscheidung in der Arbeit selber. In der vom Klienten oder vom Zögling erfahrbaren Verantwortung. Das ist also das kleine Minimum, wo es nicht nur ums Rollespielen geht, sondern um den existenziellen Ernst. Und wo auch Autorität sichtbar wird, Autorität ganz richtig nicht als objektives Fixum, das ich ein für allemal verlangen kann; aber diese Autorität wird abhängen von dem Ernst, den der Klient spürt, für den ich keine
Rolle spiele
.
[V11:6] Etwas weiteres: Ironie darf nicht im Umgang mit dem Zögling sichtbar werden und mit der Relativität und Gebrechlichkeit des Menschen. Wenn ich von vornherein dem Zögling ironisch komme, dann ist es vorbei. Ironie ist kein pädagogischer Begriff. Das hat nichts mit normativem Denken zu tun, sondern nur mit dem Kern unserer Arbeit. Es kann sein, daß alles uns zerfließt, das Verhältnis zur Kunst relativiert wird, das Verhältnis zur Musik besonders, – aber das Verhältnis zum Zögling, zum Befürsorgten selber, darf nicht ironisiert werden; da muß es ernst sein.
[V11:7] |a 4|Und dann zur Moral. Das Moralische ist nicht mehr, das ist völlig richtig, zu deduzieren aus einem theologischen oder ethischen System; das gibt es nicht mehr. Aber das Wesen des Moralischen ist, sonst hätte es gar keinen Zweck, davon zu sprechen, daß es in der jeweiligen Situation verbindlich ist. Wenn das nicht wäre, wenn es also beliebig wäre, dann hätte es keinen Sinn von Moral zu sprechen. Das wird Mollenhauer hoffentlich nicht so gemeint haben.
[V11:8] Ich muß hier ein letztes anführen: das Prekäre an unserer augenblicklichen Situation ist dieser schreckliche Soziologismus, d. h. die Gleichsetzung von analytischen Ergebnissen der Interpretation der Gesellschaft mit dem Ziel der Erziehung z. B. oder der Fürsorge; als ob sich aus einer Analyse der Gesellschaft schon ergäbe, wie die Erziehungsziele seien. Manchmal klang es so bei Mollenhauer, als ob es sich doch um eine Anpassungstheorie handelte, ein bloßes Appeasement an die Gegebenheit, wobei gar nicht mehr gefragt wird, was ist denn diese Gesellschaft? Ist sie denn wirklich zu­geordnet diesen jungen Menschen; ist sie denn in sich so sicher als Gegebenheit; ist sie wirklich als Voraussetzung – nämlich auch die dynamische Gesellschaft – so statisch festgelegt, daß wir gar keinen Raum der Freiheit mehr haben? Es wird die große Aufgabe sein, diese Freiheit gegenüber der Soziologie zu gewinnen; d. h. all ihre sehr wichtigen Kenntnisse ernsthaft zu prüfen, aber uns nicht zu Sklaven einer soziologischen Theorie zu machen, die vielleicht schon von dem nächsten Soziologen dann wieder ad absurdum geführt wird.
[V11:9] Und ein Allerletztes, das ist die Frage des Leitbildes oder des Ideologischen. Da muß man, glaube ich, sehr scharf unterscheiden; es gibt nämlich einen doppelten Gebrauch von Leitbild und Ideologie. Der eine Gebrauch der Ideologie heißt das falsche Bewußtsein, d. h. jemand ist ideologisch fixiert gegenüber seiner gesellschaftlichen Situation, er erkennt sie nicht richtig. Es ist ganz klar, darüber ist gar kein Streit, und die große Aufgabe jeder Form von Aufklärung ist, alle Ideologien, die theologischen, die religiösen, die gesellschaftlichen, die moralischen zu entlarven. Aber die ganz andere Frage ist, ob ich überhaupt mit jemand, dem ich helfen will, in Wirkungskontakt stehen kann, wenn ich nicht eine Vorstellung von den Möglichkeiten habe, die in seiner Existenz liegen und die zugleich mir sichtbar werden müssen, denn sonst hat es keinen Zweck. Wenn ich gar keine Möglichkeit habe, jemanden in seiner Situation so zu verstehen, daß ich ihn auf seine Möglichkeiten hin beurteilen kann, dann bin ich ja bloß ein Apparat, der technisch hilft. Und ich glaube, man muß den Leitbildgedanken korrigieren. Der Gedanke, im Leitbild hätte ich das Ziel der Erziehung, ist unmöglich, denn die Generation soll ja zur Freiheit, zur eigenen Entscheidung erzogen werden und auch zur Anpassung. Aber daß es einen bescheidenen Begriff von Leitbild gibt, daß ich nämlich in dem Kontakt mit dem Zögling und dem was ich zu geben habe, im Bewußtsein meiner Grenzen doch immer ein Bild habe von den Möglichkeiten, die aus seiner Situation und aus seinem Schicksal erwachsen sind, darauf glaube ich, kann man |a 5|nicht verzichten. Man muß alle idealistischen Komponenten ausmerzen; aber man kann sie nicht durch gesellschaftliche Ideologien ersetzen, sonder muß konkrete Möglichkeiten des Menschen in der Begegnung selber finden. Das ist in der Erziehung etwas leichter als in der Fürsorge, denn die Fürsorge ist ja schon viel mehr gebunden an die Schicksale, an die Härten des Daseins, die ich nicht überwinden kann. Aber ich glaube, ganz ohne solch bescheidenes Leitbild kommen wir nicht aus.
[V11:10] 8. Mai 1959
[V11:11] Klaus Mollenhauer
[V11:12] Im Referat hatte ich lediglich die Absicht, an die Fragen heranzuführen, um die es hier gehen muß, oder besser: die Fragen so zu stellen, wie ich meine, daß man sie heute stellen muß, um zu sinnvollen Antworten zu kommen. Das bedeutet aber, daß notwendig Vieles offen und unerörtert bleiben mußte, was doch unbedingt der Klärung bedarf. Prof. Weniger wies mit den Begriffen Person, Verantwortung und Entscheidung schon auf die eine wichtigste Ergänzung hin, die zu machen ist.
[V11:13] In der Verwendung von Begriffen liegt nun aber eine besondere und den Kern unseres Themas treffende Schwierigkeit. Ich habe versucht, das an dem Begriff
Anerkennung
zu zeigen. Unsere sprachlichen Ausdrucksmittel sind weitgehend traditionell. Eine Skepsis ihnen gegenüber und gegenüber der Möglichkeit, daß mit ihnen das Gemeinte auch wirklich und genau zum Ausdruck kommt, ist daher durchaus angebracht. Das gilt auch für die von mir verwandten Begriffe wie Rolle, Distanz, Ironie, Weltbeherrschung. Wie weit sie die gemeinte Sache treffen, muß immer wieder überprüft werden. Ich konnte vorerst nichts anderes tun, als die Richtung angeben, in der die Sache liegt. Tatsächlich ist ja auch, wie die Gespräche gezeigt haben, der Begriff
Rolle
offensichtlich noch zu unbestimmt geblieben und war dadurch vielen Mißverständnissen ausgesetzt.
[V11:14] Bedeutet dieses Rollenspiel, so wurde gefragt, nicht eine oberflächliche Schauspielerei, eine totale Unverbindlichkeit? Verliert sich so nicht völlig die Person? Wie ist es mit Verantwortung und Entscheidung? Wo ist gleichsam der Sitz dessen, das Verantwortung übernimmt und Entscheidungen trifft? In der Tat ist hier eine Lücke im Referat geblieben, aber bewußt geblieben, um den Rollencharakter allen Verhaltens besonders deutlich zu machen und sich nicht zu früh mit den gewohnten Vorstellungen zu beruhigen. Aber diese Lücke muß nun wenigstens andeutungsweise geschlossen werden.|a 6|
[V11:15] Ich will einen unter wahrscheinlich mehreren Orten von Lebenszusammenhang zeigen, der den verschiedenen
Rollenräumen
gegenüber indifferent ist. Ich nenne die Liebeserklärung. Was geschieht in dem Augenblick, in dem die Worte versagen; was bedeutet das berühmte
Stammeln der Liebenden
? Dieses Versagen der Sprache bedeutet doch nichts anderes als das Heraustreten aus allem sprachlich formulierbaren Verhalten, nichts anderes als den Verzicht auf eine ganz bestimmte und festgelegte Rolle. Es bedeutet den Verzicht auf alles Bedingte, denn die Rollen sind ja gerade das sozial Bedingte, Relativierbare, und schließlich unterliegt noch die Sprache diesen Bedingungen. Dieses Heraustreten aus den Rollenräumen ist aber gleichsam nur punktuell möglich, denn die Sprache, wenn wir das Leben weiterführen wollen, muß ja wieder einsetzen und mit ihr die ganze Vielfältigkeit gesellschaftlichen Daseins. Das Hervortreten des Unbedingten, der Person, des Ich oder wie immer man das genauer bezeichnen mag, ist keine Sache, von der her man eine soziale Arbeit begründen kann; es zeigt nur eine Grenze, eine Möglichkeit, die als solche allerdings im Bewußtsein des Sozialarbeiters immer gegenwärtig sein sollte.
[V11:16] Eine andere Frage ist die, ob sich denn nun der Mensch kritiklos den verschiedenen Rollenräumen anpassen müsse. Die Mehrsinnigkeit unserer Welt zwingt zur Distanzierung, eben zum Rollenverhalten. Das schließt aber gerade ein, daß man ein solches Verhalten nicht wahllos übernimmt, sich ihm unterwirft wie dem einheitlichen Lebensstil vorindustrieller Epochen, sondern, mit solcher Distanzierung wird die Beherrschung erst ermöglicht. Kritik, Gestaltung und Veränderung der Lebensmöglichkeiten gehören als notwendige Momente zu unserer Welt.
[V11:17] Darin liegt die Freiheit des Sozialarbeiters und zugleich seine Verantwortung. Daher kommen seine
schlaflosen Nächte
, von denen gesprochen wurde. Da die Hilfe für den Ratsuchenden immer erst in der konkreten Situation gegeben werden kann, ohne die Stützung einer vorgezeichneten Lösung, eines richtigen Weges, einer verbindlichen Moral, ist jeder Rat, den ich gebe oder nicht gebe, jede Stütze, die ich biete oder versage, eine Last, die ich selbst verantworten muß, da ich nicht nur meine eigene Freiheit, sondern auch die des Klienten zu verwalten habe, der sich ja gerade in dieser Situation verirrt hat, unfrei geworden ist.
[V11:18] Ein sehr genaues Durchdenken erfordert das Verhältnis der verschiedenen Rollenräume zu einander. Die geschilderte Haltung ist ja die des reifen Menschen, oder auch die des Heranwachsenden, der bereits imstande ist, zu sich selbst in ein distanziertes Verhältnis zu treten. Fällt dann nicht doch die Familienerziehung, besonders die Erziehung des Kleinkindes aus diesem Schema heraus? Da die Familie der erste Raum ist, in den das Kind eintritt, muß ihr offenbar eine besondere Qualität zugesprochen werden; als sozialer Bereich aber unterliegt sie derselben Relativierung wie die übrigen. Das Problem aber ist, welche Konsequenzen sich denn nun daraus ergeben, daß die Familie ein unumgänglich notwendiger Bereich ist, was |a 7|ja doch für die anderen nicht in gleicher Weise zutrifft. Dieses Problem bleibt, auch wenn man den Gedanken der
Wohnstubenerziehung
Pestalozzis fragwürdig findet. Die Frage, die also in dieser Hinsicht zu erörtern wäre, betrifft die Kombination des sozialen Faktums
Mehrsinnige Gesellschaft
mit der pädagogischen Einsicht in die Notwendigkeit eines Stufengangs im Reifungsprozeß.
[V11:19] Hinter all diesen Problemen aber bleibt die wichtigste Frage offen: wie entsteht nach solcher Relativierung allen Verhaltens und aller Normen doch wieder Verbindlichkeit und wie wäre diese zu formulieren? Es wäre sicher falsch, sich allzuschnell bei
Mindestforderungen
aus dem traditionellen Moral-Bestand zu beruhigen, ebenso wie ein energischer Schritt nach vorn allzu leicht ein Schritt in eine neue Ideologie sein kann.
[V11:20] Elisasbeth Siegel
[V11:21] Vor der Erfahrung der Disparatheit der Welt muß der Heranwachsende Grunderfahrungen gemacht haben; wenn diese in der Einhelligkeit guter Familienerziehung erwachsen sind, vermögen sie die Kraft zu geben, die zum Bestehen der Rollensituation nötig ist. Das von Mollenhauer behauptete Auseinanderfallen der Bereiche ist nicht ohne Gefahr (der SS-mann als guter Ehemann!); das Kind wird früh genug in solche Situationen gestellt (Jugendweihe der Sowjetzone). Reine Rationalität des Rollendaseins führt zur Unmenschlichkeit. Die Erziehung des Kindes muß von einer einsinnigen, geschlossenen Welt ihren Ausgang nehmen.
[V11:22] Fides von Gontard
[V11:23] Mollenhauers Beschreibung unserer mehrsinnigen Welt war richtig. In ihr behaupten kann sich nur, wer sich als einer weiß. Das ist die andere, fehlende Seite der Fragestellung. Immer muß ich mich mühen, zu erfahren, wer ich selbst bin in dieser Welt. Vatersein, Muttersein sind keine Rollen, wie sie Mollenhauer schildert; das Wie mag sich ändern.
[V11:24] Wollen wir dem Menschen helfen,
sich zu verändern
, so zur Verwirklichung seiner eigenen Existenz in seinen verschiedenen Lebensrollen. Dies Eigene gemeinsam aufzusuchen, können einige Methoden der Sozial|a 8|arbeit nützen. Dahinter aber kann eine Erfahrung helfen: die Erfahrung des Menschen als Bruder. Rechtes Christentum ist radikal unideologisch; darin hat es seine Chance.
[V11:25] Emilie Müller-Zadow
[V11:26] Ist das Festhalten von Grundstäzen schon antiquiert, schon Unrecht? Zeichnen wir die Welt nicht zu schwarz? Das Rollenspiel gehört zum Leben; es hat sogar seinen Reiz. Ist nicht das Casework, aus alten Weisheiten schöpfend, für unsere Zeit rational gefaßt, auch eine notwendige – Rolle? Wir wollen nicht alles
verstehen
; die beste Hilfe ist oft der Aufweis von Konsequenzen.
[V11:27] Harald Poelchau
[V11:28] Wir sollten nicht zu rasch über die Unruhe hinwegzukommen suchen, in die uns K. Mollenhauer versetzt hat. Spielregeln, Rollenregeln,
patterns
sind stets nötig; sie bestehen; wir können sie nicht schaffen. Die Schwierigkeit heute ist, daß sie sich widersprechen. Wir sollten hniter diese Schablonen zu kommen suchen, Distanz halten. Auch in der Erziehung gibt es funktionale Autorität aus der Sache, wie Mollenhauer es zeigte. Wir haben bisher nur die andere Seite aufgegriffen, wie das Zusammenhalten der Spannungen vom Ich aus möglich sei. Das sollte nicht zu vorschnell geschehen. Dem Fürsorgezögling können wir nicht unser Bild vom Bruder ansinnen. Auch das Christentum ist von Ideologien, von Weltanschauungen gefärbt. Gleichwohl gibt es Unbedingtes: Liebe und Wahrheit. Es gilt,
innerhalb der Drahtzäune unserer Zeit
dafür frei zu werden.
[V11:29] Fides von Gontard
[V11:30] Die Frage heißt auch heute: Warum soll ich meines Bruders Hüter sein?
[V11:31] Heinz Corves
[V11:32] Wir stehen vor ganz anderen Fragen. Vieles, was gesagt wurde, will zu rasch anknüpfen an Vorhandenes. Anderthalb Jahrtausende, in denen das Christentum als Staatskirche mit den Ideologien verknüpft worden ist, machen es uns Allen schwer, den Blick frei zu bekommen.
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[V11:33] Gustav von Mann
[V11:34] Es gibt bleibende geistige Gesetze des Lebens, deren Wahrer wir sein sollten. Sie gelten, auch wenn wir sie nicht erfüllen können. An sie sind wir gebunden, in ihrer Bejahung nur können wir frei werden. Hinweis auf das Bindung suchende Heimkind, das ungeborgene uneheliche Kind.
[V11:35] Hanns Eyferth
[V11:36] In vielen der letzten Bemerkungen wird Mollenhauers Ansatz so verkürzt, daß er seine Fruchtbarkeit verliert. Wir müssen den Mut haben, in einer Zeit des Ungefestigten zu stehen. Unter uns ist ein langer Wandel längst im Gang. Die jungen Menschen sind in ihrem Rollendasein zu Haus; sie bauen ihr Haus aus und in dieser Welt. Wir brauchen Geduld, sollten uns nicht in allgemeine Thesen flüchten, sondern die Spannung aushalten.
[V11:37] 9. Mai 1959
[V11:38] Heiner Schiller
[V11:39] Wenn wir von den Voraussetzungen unserer praktischen Arbeit sprechen, die doch eine Funktion der Gesellschaft ist, müssen wir ein Gemeinsames finden, was nicht unbedingt weltanschaulich, für Alle verbindlich gleich sein muß. Sondern wir finden dann Grundsätze, von denen wir ausgehen. Und das können m. E. nicht religiöse und weltanschauliche Voraussetzungen, sondern nur gesellschaftlich-praktische sein, die wir sicherlich in jeder Generation neu zu finden haben. Und ich glaube, daß Klaus Mollenhauer auch von diesen grundsätzlichen Voraussetzungen, die nicht unbedingt religiös, weltanschaulich fixierte sind, ausgegangen ist. Obwohl er die Ideologie im negativen Sinne ablehnt, und ich stimme ihm darin zu, geht er doch von einer Grundhaltung aus. Das möchte ich versuchen, zu beweisen. Er hat u. a. gesagt, es ist die Aufgabe der Sozialarbeit, den Menschen zu helfen, sich in den immer verschiedenartigen gesellschaftlichen Strukturen, in anderen Rollenvoraussetzungen zurechtzufinden, sich anzupassen. Und er greift die Familie, er greift die Fürsorger, er greift die Institutionen an, die dieses Lernen nicht ermöglichen, weil ideologische Hemmungen vorhanden sind. D. h. er geht von einer Voraussetzung aus, indem er sagt, wir sollen dem Menschen gerecht werden; wir müssen das Recht des Einzelnen, sich in dieser Gesellschaft zurechtzufinden, wahren. Das ist dann aber doch schon ein Prinzip der sozialen Arbeit. Das ist doch eine werthafte Grundhaltung, von der er ausgeht. Warum greift er sonst |a 10|die Institutionen oder diejenigen Familien an, die eben nicht helfen, daß das Individuum sich der jeweiligen Situation anpaßt? Ich glaube also, daß wir gewisse gemeinsame Grundlagen finden und finden müssen, und die gibt es m. E. auch schon, d. h. eine solche gemeinsame Grundlage ist die Wahrung der Würde des Einzelnen.
[V11:40] Walter Herrmann
[V11:41] Vor einem Übergewicht der Soziologie müssen wir uns wohl alle hüten. Mitunter kapitulieren wir doch einfach davor, daß wir meinen, die gesellschaftlichen Verhältnisse sind etwas, dem wir rettungslos ausgeliefert sind. Da erscheint es mir wichtig, daß wir ja mitten drin in der Formung der gesellschaftlichen Verhältnisse stehen. Aber wir sind ja nicht nur passive Glieder, die dem ausgeliefert sind, sondern es liegt in unserer Würde gerade, daß wir Mitformer, nicht Nur-Träger, sondern auch Beeinflusser dieser Verhältnisse sind.
[V11:42] Carolus Mennicke
[V11:43] Bekenntnis gegen Bekenntnis zu setzen, scheint mir unvermeidlich. D. h. also ich beginne mit diesem Bekenntnis, und ich glaube, daß das, was darin ausgesprochen wird, sich dann auf das Sachliche erstrecken wird.
[V11:44] Wir, die wir hier zusammen sind, wir leben alle mehr oder weniger aus einer Besinnungshaltung heraus, die uns veranlaßt, unser tägliches Tun und Lassen immer wieder zu überdenken, und dieses Überdenken, hat immer den Sinn, daß wir uns fragen, hast du in deinem Tun und Lassen ødeinem eigentlichen Wesen fremden Impulsen Raum gegeben? Oder bist du darin vorangekommen, den eigentlichen, wesentlichen Impulsen in dir Raum zu geben? Wobei wesentlich immer nur heißen kann, in dem, was nicht selbstbezogen ist, sondern in dem, was in Erscheinung tritt, wenn man dazu kommt, diese Selbstbezogenheit zu überwinden. Nun muß ich ganz einfach sagen, und das ist eben das Bekenntnismäßige, wenn man in dieser Besinnungshaltung lebt, daß das Selbstbezogene an Kraft verliert, d. h. also, daß man dahin kommt, sich in seiner persönlichen Verwirklichung zu erfahren. Wobei Verwirklichung die Verwirklichung des Wesentlichen ist, das den Menschen aufgegeben ist. Ich begreife das gern unter dem Begriff der Freiheit und zwar, der Freiheit von sich selbst, von dem, was von Natur- und Gesellschaftsbestand da ist, und was einem natürlich dauernd zu schaffen macht. Nicht wahr, wir stehen in diesem Natur- und Gesellschaftszusammenhang, aber mit der Möglichkeit, uns zu dem Eigentlichen zu befreien, d. i. dann also die Freiheit gegenüber sich selbst. Im Zusammenhang damit bedeutet die Freiheit des Anderen, daß |a 11|je mehr wir die Möglichkeit der wesentlichen Haltung gewinnen, wir in demselben Maße notwendig vor der Freiheit des Anderen Respekt bekommen, und daß wir versuchen, durch unser Verhalten eben den Mut zu seiner Freiheit zu schaffen, oder zu vermehren.
[V11:45] Nun ist es mir im Laufe meines Lebens klar geworden, daß es nur verhältnismäßig sehr wenige Menschen gibt, die aus einer solchen Besinnungshaltung heraus leben. Daß die meisten Menschen, – ich darf vielleicht darauf hinweisen, weil es mir besonders im Felde 1914/18 und sehr ausgesprochen dann in Berlin Ost und Nord, wo ich gelebt habe, aber auch im KZ so richtig erlebnismäßig deutlich geworden ist – daß also die meisten Menschen sich verhalten nach Verhaltensmustern, die sie in ihrer Umgebung vorfinden. Sie leben einfach mit, und die Besinnungshaltung ist ihnen mehr oder weniger fremd, den meisten geradezu verschlossen.
[V11:46] Nun hatte ich den Eindruck, als ich Klaus Mollenhauer sprechen hörte, das, was ich sehr allmählich erkannt habe, daß nämlich da Rollen spielen, das ist ihm schon selbstverständlich geworden, von seiner soziologischen Erkenntnis her. Er sieht die Welt aus dem, wie sie sich in der Wirklichkeit etabliert, nicht mehr aus der Richtung der Besinnungshaltung. Er besteht darauf, wir müssen die Welt sehen, wie sie ist, wir müssen die Menschen nehmen, wie sie sind, denn von dieser Besinnungshaltung her können wir ihnen nicht beikommen. Je mehr wir die Distanz gewinnen, je mehr wir auf Grund persönlicher Vertiefung, möchte ich nun sagen, den Blick frei bekommen für die Realität, desto besser sind wir in der Lage die Menschen zu lehren, sich in ihrer gesellschaftlichen Rolle zu bewegen. Und das schien mir das in gewissem Sinne Umwälzende der Ausführungen, und das ist ja in diesen Tagen auch immer wieder gespürt worden, daß unsere sozialpädagogische Arbeit einen anderen Charakter bekommen muß. Wir müssen jede Vorstellung, die Menschen, die wir zu betreuen haben, an unsere Besinnungshaltung heranzuführen, aufgeben. Wir können sie zwar nie aufgeben, und es spricht und wirkt nur das, was wir in uns verwirklicht haben und gar nichts anderes. Diese Dinge sind aber nicht aussprechbar, sondern was in unserer Arbeit Wirksamkeit gewinnt, ist eben das, was wir an Erkenntnissen über die Wirklichkeit, in der die Menschen sich bewegen, gewonnen haben und an Möglichkeiten, soziologischen und psychologischen Einsichten, von daher ihnen zu raten und zu helfen, ihre Rolle besser zu spielen, als sie sie gespielt haben oder als sie sie voraussichtlich spielen können.
[V11:47] Die Bedingungen, unter denen die heutigen Menschen leben, sind durchaus andere, als die vor 100 oder 200 oder 300 Jahren. Es ist aber selbstverständlich, daß die Gesellschaft dauernd an der Veränderung, und wie sie im allgemeinen meint, an der Verbesserung ihrer Bedingungen arbeitet, und zwar arbeitet sie daran in der Tat unter der Leitung des Begriffes der |a 12|Menschenwürde, ob sie das weiß oder nicht; wobei Menschenwürde immer heißt, daß der Mensch die Möglichkeit hat, sich von sich zu distanzieren und seine Freiheit zu besorgen.
[V11:48] Ulrich Seibert
[V11:49] Klaus Mollenhauer sagte, daß wir, indem wir verschiedene Rollen spielen, nicht in jeder Rolle mit unserer ganzen Person dahinter stehen. Da möchte ich die Frage stellen, ob nicht gerade der Sozialarbeiter in der Lage sein sollte und auch in der Lage sein kann, die verschiedenen Rollen zu spielen, ohne sich, ich möchte sagen, ohne sich an seiner Persönlichkeit dabei etwas zu vergeben; also daß in jeder Rolle, in der er steht, seine Persönlichkeit dahinter steht. Natürlich braucht man sie nicht ununterbrochen einzusetzen, aber ich glaube doch, daß es möglich sein soll, jede Rolle, die von uns verlangt wird, mit ganzer Persönlichkeit zu spielen. Wenn wir das nicht könnten, dann wäre es gelogen, dann wäre es falsch. Ich glaube nicht, daß die verschiedenen Rollen, die wir spielen müssen, im Gegensatz zueinander stehen; ich sehe nicht ein, warum ich nicht Bach und Jazz mit meiner ganzen Persönlichkeit hören kann. Ich muß sagen, daß ich es selber tue und gern tue. Ich glaube, daß man Giotto oder el Greco genau so mit seiner ganzen Persönlichkeit empfinden kann wie Feininger oder Kadinsky. Und ich glaube, wenn es um das Gespräch des Sozialarbeiters geht mit Klienten, daß man da durchaus auch einmal Entgegengesetztes sagen kann und es sogar sehr häufig muß. In der Erziehungsberatung und in der Fürsorge muß man z. B. oft mit miteinander in Fehde liegenden Kontrahenten øz. B. Kind und Eltern oder Eltern und Lehrer øsprechen und muß versuchen, sich mit der Stellung desjenigen, mit dem man spricht, ganz zu identifizieren und jedesmal etwas ganz Verschiedenes sagen, um die beiden zusammenzuführen, und das beides doch mit seiner ganzen Persönlichkeit.
[V11:50] Klaus Mollenhauer
[V11:51] Zur eigentlichen Frage, die den Sozialarbeiter betrifft: Ich würde sagen, Sozialarbeit als Beruf ist eine Rolle. Diese Rolle wird gespielt nach bestimmten Spielregeln, die sich richten nach den Schwierigkeiten, mit denen er zu tun hat øund nach Behandlungsmethoden. Zu dieser Rolle gehört, daß der Sozialarbeiter auch einmal widersprechende Auskünfte gibt; und daß er diese widersprechenden Auskünfte mit Überzeugung gibt, heißt nicht, daß diese Überzeugung den von dieser Rolle nicht betroffenen Kern seiner Person, den Punkt der Selbstverwirklichung, betrifft, sondern diese Überzeugung, mit der er spricht, so meine ich jedenfalls, ist eine Überzeugung des Richtigen in einem Sachzusammenhang. Bliebe ich an dieser Stelle stehen, so würde ich zugeben, daß ein Beruf, der es eben mit dem Menschen zu tun hat, sich in nichts unterscheidet von einem Beruf, der es mit dem |a 13|Zusammensetzen von Maschinen zu tun hat. Da ist offensichtlich noch eine offene Stelle. Ich kann diese offene Stelle nicht umschreiben, und das ist vielleicht der Mangel bei den ganzen Gesprächen hier gewesen, daß es wirklich so unglaublich schwer ist, diese Stelle klar zu benennen, ohne schon im Sprechen wieder zurückzufallen in all die Bedingtheiten, gegen die wir gerade skeptisch sein wollen. Daher meine Frage, was meint man mit Würde? Das ist eine Vokabel, an der wieder diese Bedingtheiten hineinkommen können. Es ist klar, daß wir auf dieses Andere nicht verzichten können in der sozialen Arbeit, aber die Schwierigkeit ist, und ich kann sie nicht lösen, wie ist dieses Andere einzusetzen? Ist es überhaupt bewußt einzusetzen, wie ich mir etwa eine Überzeugung durch sachliche Bemühung aneignen kann, Überzeugung von der Richtigkeit eines bestimmten Ergebnisses nämlich? Ist es überhaupt zu vertreten, daß ich sage, es gehört zum Auftrag des Sozialarbeiters, es gehört zur Rolle seines Berufes, dieses Moment der unmittelbaren menschlichen Kommunikation? Daß der Auftrag des Sozialarbeiters gerade darin besteht, daß er nur unter Einsatz solcher permanenten Bereitschaft zur Kommunikation und Fähigkeit zur Kommunikation seine Arbeit durchführt? Ich würde meinen, daß das zu weit geht. Ich glaube eben, daß soziale Arbeit, soweit sie eine Hilfe für den Menschen ist, nur dann eigentlich gelingt, wenn dieses Moment an irgendeinem Punkt, sich sozusagen punktuell verwirklichen läßt. Wir sprachen vorhin in einem kleineren Kreis darüber. Es ist nichts, was Kontinuität haben kann. Daß also Sozialarbeit nur gelingt, wenn an irgend einem Punkt einer solchen Hilfe dieses Moment einmal zur Verwirklichung kommt; genau wie die Verwirklichung für mich zutrifft, gibt es auch die Verwirklichung zwischen Ich und Du. Ich würde sagen, daß das also an irgendeinem Punkt zur Verwirklichung kommt, daß es aber nicht angeht, es in den Auftrag des Sozialarbeiters einzubauen.
[V11:52] Dagmar Martin
[V11:53] Wir müßten die Tagung wirklich noch einmal von vorn beginnen, wenn wir anfangen, in Frage zu stellen, ob zu unserem Beruf als Sozialarbeiter die Kommunikation mit dem Menschen gehört. In unserer Gruppe
Einzelhilfe
sind einige Dinge zur Sprache gekommen, die uns sehr wesentlich erschienen, da sie in einem gewissen Zusammenhang mit dem standen, was auf uns zukommt. Auch gerade mit der Frage, ob wir im Westen überhaupt ein Konzept haben, ob es sich lohnt, die Freiheit zu verteidigen. Und da haben wir auseinandergesetzt, wie eigentlich das, was auf uns zukommt in der Sozialarbeit, sich verhält zur Freiheit des Menschen. Das neue Sozialhilfegesetz sieht ja auch den Begriff der persönlichen Hilfe vor. Und wir sahen eine Chance darin, wenn der
Beamte
, der ja auf der Basis von Gesetzen arbeitet, darauf hingewiesen wird, daß dies auch eine Form der Hilfe im sozialen Rahmen sein sollte. Aber wir waren uns klar darüber, daß dieser Begriff erst mit einem Inhalt erfüllt werden muß. Wir sahen die |a 14|Bedenken in einem so weit gehenden Angebot des Staates an den Einzelnen; darin kann ein derartiger Aufforderungscharakter liegen, diese Hilfe in Anspruch zu nehmen, und er kann die Gefahr übersehen, sich der persönlichen Freiheit zu begeben, die wir allerdings unterstellt haben als eine Möglichkeit des Menschen schlechthin, es sei denn, daß er krank ist. Das allerdings ist schon wieder eine Ideologie, von der wir ausgegangen sind. Aber es wurde auch zum Ausdruck gebracht, daß wir, auch wenn wir vor den Ideologien warnen, doch nicht ganz darauf verzichten können, von Ideen zu sprechen. Und sollte das nicht doch eine tragende Idee sein in unserem Bild des Menschen, daß er diese Möglichkeit zur Verwirklichung der Freiheit hat, graduell außerordentlich verschieden, aber prinzipiell hat er sie. Und daß wir nun als einen neuen Inhalt der persönlichen Hilfe verstehen würden, daß wir in seiner sehr behutsamen, wachen Weise diesen Aspekt der Freiheit ständig vor Augen haben, indem der Helfer sich zurücknimmt unter ständiger Selbstkontrolle und den Anderen – sagen wir – aufkommen läßt, sich erweitern läßt, ihm erst einmal freien Raum gebend. Es ist ein sehr hohes Ziel, aber es kann im Grundkonzept in jedem Augenblick unseres Tuns als Sozialarbeiter drin sein. Als Grundlage – Voraussetzung ist natürlich ein sehr viel umfangreicheres Wissen vom Menschen und allerdings auch – hier kann man uns Ideologie vorwerfen – der Glaube, daß der Mensch veränderbar ist. Aber wir haben schon ein Stückchen Erfahrung darin, wir fühlen uns bestätigt in diesem Glauben, es ist nicht mehr alles Hypothese, sondern es ist schon ein Stück Erfahrung, wenn man einmal angefangen hat, so mit Menschen umzugehen. Wir sollten keine allzugroßen Veränderungen beim Menschen erwarten, sondern die kleinen Schritte sehen in Richtung auf die Entwicklung der Freiheit und zur Selbständigkeit hin und uns ermutigen lassen durch diese Erfolge, die man da, wenn man etwas genauer hinsieht, doch sehen kann. Die Voraussetzung wäre allerdings beim Helfer, daß er die Möglichkeit der inneren Freiheit bei sich selbst erlebt hat, und dazu, wurde gesagt aus unserem Kreis, die Demut vor Gott und den Menschen.
[V11:54] Erika Lange
[V11:55] Da ist ein Punkt, der mir einfach zu kurz gekommen ist hier: die Auseinandersetzung mit der Frage, wie helfen wir denen, die Verhaltensmuster brauchen, die einen Rahmen brauchen, der ihnen in etwa vorschreibt: so tut man, so tut man nicht? Mir scheint, daß wir darüber noch wenig gesagt haben. Eine andere Tatsache: in unserer Arbeitsgruppe wurde darauf hingewiesen, viele, unendlich viele werden ja damit fertig, mit dieser Situation; die kommen so durch und scheinen gar nicht unglücklich. Haben wir uns schon einmal genügend bemüht, herauszubekommen, wie die das eigentlich machen?
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[V11:56] Rosemarie Schloo
[V11:57] Ich glaube, daß ich auch für manche meiner jüngeren Kollegen spreche, daß wir wohl noch ein bißchen Zeit brauchen werden, um das zu verarbeiten, wisin diesen Tagen an uns herangetragen ist. Es ist viel. Ich denke da an das, was auf der einen Seite Leute wie Frau Müller-Zadow sagten, was Herr von Mann sagte øund an das, was uns auf der anderen Seite Herr Mollenhauer in seinem Referat sagte, was wir wohl seit längerer Zeit schon empfunden haben, ohne es uns doch klar ins Bewußtsein zu heben und diese Vielfältigkeit der Erscheinungen nun vor uns selbst richtig zusammenzusetzen und für unsere Arbeit, bzw. zunächst einmal für uns selbst zu verwerten. Das wird zunächst einmal noch eine ziemliche Zeit in Anspruch nehmen, und ich glaube, da müssen Sie als Ältere noch allerlei Geduld mit uns haben. Mir hat besonders imponiert, was Herr Eyferth gestern sagte im Bezug auf das Aushalten in der Situation, in die uns die Fragen dieser Zeit gestellt haben. Ich glaube, daß es darauf ankommt, daß wir uns da nicht vorzeitig drücken, sondern uns Zeit lassen und eventuell zu ganz neuen Verhaltensweisen kommen. Ich ziehe für mich insoweit das Fazit, vorläufig jedenfalls stillzuhalten, mich im Zustand der Standpunktlosigkeit zu bewegen und zu sehen, was dabei herauskommt.
[V11:58] Heinz Corves
[V11:59] Ich finde, man kann nicht vorbeigehen an der Tatsache, daß die, die nach Verhaltensmustern leben, mit Unterschieden aber doch wirksam angesprochen werden können auf ihre Verantwortung hin. Es kommt darauf an, wo man ansetzt.
[V11:60] Aber ich glaube, es ist wichtig, daß wir uns klar machen, daß wir am Wendepunkt einer geistigen Haltung stehen. Die ganze abendländische Geschichte hat sich bis jetzt vollzogen darin, daß es Gebundenheiten gab, Autoritäten gab, und daß darin der Mensch gelebt hat. Wir fangen eben an, zu begreifen, daß wir auf einmal im sozialen Bereich in einer Situation stehen, wo diese Autoritäten als Allgemeinverbindliches nicht mehr da sind. Es ist doch einfach nicht zu erwarten, daß wir nun schon wüßten, was wir zu tun hätten. Wenn das so stimmt, dann ist doch einfach zu erwarten, daß das durch eine Reihe von Generationen hindurch chaotisch bleibt, bis da etwas Neues wirklich werden kann. Könnte es nicht doch sinnvoll sein, an dem zu arbeiten, was genannt wurde Freiheit, Ansprechen auf Verantwortung für die Anderen, Gewissen. Auch wenn so viele Fragen dahinter noch stecken, könnte es nicht sein, daß in jedem Menschen, auch im einfältigsten, soviel Bewußtsein für Verantwortung, Gewissen, Freiheit, Entscheidungsfähigkeit entwickelt wird, daß nun nicht mehr von außen |a 16|tradierbare Allgemeinverbindlichkeit, sondern von innen her als ein gemeinsames Bewußtsein für Verantwortung doch wieder etwas entsteht: die Ordnung, allerdings in einem ganz anderen Sinne als früher?
[V11:61] Albert Bickel
[V11:62] Es ist keineswegs so, daß wir als Christen und ich insbesondere als Katholik in der ruhigen Sicherheit stehen könnten. Gerade in dieser Tagung habe ich dankbar bemerkt, was alles an einen herantritt an Fragen, die sicherlich noch lange Zeit brauchen werden, bis sie gelöst sind. Aber was ich sicher auch ganz dankbar mitnehme, ist der Mut zur Wahrheit, den wir als Christen genau so haben müssen, gerade in dieser Zeit, die etwas Neues von uns verlangt. Aber etwas ist mir da beängstigend: Geben wir nicht in dem Moment, wo wir neue Werte aufstellen, alte Werte auf, die unter Umstnäden wert wären, wieder gefunden zu werden? Und sollten wir nicht einen Teil der Kraft, die wir dazu verwenden, uns durchzuringen wisdazu verwenden, diese alten Werte wieder sichtbar zu machen? Ich denke also auch, daß wir wieder zu dem Glauben an die Schöpfung zurückkommen. Daß wir ja selber die Schöpfung sind, die wir den Auftrag haben, diese Welt irgendwie dem Schöpfer wieder zurückzugeben und für ihn wieder einzuholen. Denn er hat uns geschaffen nach seinem Ebenbild. Ich glaube, daß wir eben aufgerufen sind, gerade als Christen, uns ganz stark dieser Wahrheit zu stellen, und diese Fragen, die an uns herantreten in einer Zeit, die so erdbesessen ist, dem Wissenschaftsrausch irgendwo verfällt, wobei ich nicht sagen möchte, daß wir die Wissenschaft nicht brauchen. Diese Erdbesessenheit sollte nicht dazu führen, daß wir den Blick für das Wesentliche verlieren, und damit vielleicht doch in etwas hineinschliddern, was wieder neue Ideologien sind.
[V11:63] Olga Voss
[V11:64] Die Verhaltensweisen liegen im Vorfeld der menschlichen Beziehungen und sind erlernbar. Aber was wir wirklich lernen müssen, das ist behutsamer sein im Umgang mit den Menschen, daß wir ihnen nichts aufstülpen, was für uns selbst ein Wertbewußtsein hat. Also ich muß es ihnen einfach am Beispiel sagen. Wenn zu mir ein 18jähriges, völlig unentwickeltes Mädchen kommt und sagt:
Das Kind will ich aber nicht haben, was ich kriege
, dann sage ich ihr nichts von meiner Einstellung zu der Abtreibung; ich sage nicht, das ist Sünde. Ich habe noch eine so altmodische Vorstellung von Sünde, wenn man keimendes Leben unterbricht, und von einem Abgrund, der uns von Gott trennt, wenn wir ein Geschöpf, was schon ins Leben gerufen ist, vernichten. Ich sage diesem Mädchen |a 17|aber nichts von meiner altmodischen Vorstellung, sondern versuche nur herauszukriegen, wo denn nun dieser Mensch irgendeine Geborgenheit hat, und wenn sie ganz zart im Ansatz ist; und ich versuche lediglich, diese Quellen, die bei ihm selber ganz schwach fließen, freizulegen, daß er immer mehr zu sich selber kommt. Und ich setze nichts hinzu, insofern bin ich mit Klaus Mollenhauer einig, von den eigenen Werten. Es könnte nur einmal sein, daß irgendwo etwas durchleuchtet, weil man sich selber nicht verleugnen kann. Aber ich übermittele es niemals missionarisch oder in der Grobheit, in der wir es früher gesagt haben, das darfst du, das darfst du nicht! Weil wir damit den Menschen nicht frei machen zu sich selber.