[006:1] Die Lösung von Problemen bedeutet nicht nur, daß sie damit
bewältigt sind, das Thema abgeschlossen ist und man nun zu einem neuen,
anders gearteten übergehen könne, sondern es bedeutet immer auch, daß damit
eine neue Frage gestellt ist; nur insoweit, möchte ich sagen, handelt es
sich überhaupt um eine Lösung, als durch sie ein Problem neu formuliert oder
der Blick auf eine Reihe neuer Probleme frei wird. Entläßt uns eine
Erörterung – jedenfalls in unserem Bereich – problemlos, können wir sicher
sein, daß wir Fehler gemacht haben. An der Stirnseite der Entwicklungen
liegen keine Antworten, sondern Fragen. Deshalb scheint es mir berechtigt,
die letzte Tagung einmal auf solche nun neu zu formulierenden Probleme hin
anzuschauen, jedenfalls soweit diese sich einem einzelnen Tagungsteilnehmer,
eben mir, zeigen.
Sprache
[006:2] Wir sind zu den letzten Tagungen mit einer gewissen Naivität
gefahren. Diese Naivität bestand darin, daß wir der Meinung waren, die
Sache, die wir erörtern wollten, sei irgendwie da, unabhängig von uns; man
brauche sie nur mitzuteilen, um sie allen bekannt zu machen; und dann, so
meinten wir, käme es nur noch darauf an, eine Stellung zu diesen Tatsachen
einzunehmen, eine begründete Meinung im Hin und Wider der vielen
Stellungnahmen zu bilden. So kam der Praktiker mit den Tatsachen seiner
Erfahrung, der Wissenschaftler mit den Tatsachen, den Ergebnissen der
Forschung. Wenn man sich beispielsweise über die Anwendungsmöglichkeiten
tiefenpsychologischer Erkenntnisse in der Sozialen Arbeit unterhalten will,
muß es – was das Verhältnis zu den Tatsachen betrifft – zu keinen besonderen
Schwierigkeiten kommen. Das war – wie mir scheint – während der letzten
Tagungen anders.
[006:3] Was wir da erlebten (vielleicht übertreibe ich!) war, daß wir uns
in eine Verwirrung hineinmanövriert fanden, die gerade deshalb so verwirrend
war, weil uns zunächst unklar blieb, wodurch sie
entstand und was uns verwirrte. Wir waren nicht ganz
sicher, ob die Schwierigkeiten notwendig in der Sache lagen, oder ob sie nur
durch vermeidbare Übertreibungen und Mißverständnisse erzeugt wurden, bis
sich dann allmählich herausstellte oder doch wenigstens vermuten ließ, daß
es Verständnisschwierigkeiten waren, begründet durch die eigene Wahl der
Worte, der Terminologie jedes Praktikers und Theoretikers, des Jüngeren und
des Älteren, des Psychologen und des Pädagogen, kurz: durch
standortgebundene Spracheigenheiten. Und nun ergab sich, mindestens für die
letzte Tagung, diese große Nebenaufgabe: diese |a 4|Hindernisse aus dem Wege zu räumen. Darin liegt, wie ich meine, ein sehr
wesentliches, wenn auch unbeabsichtigtes Ergebnis dieser Tagung. Man müßte
sich das aber noch etwas genauer ins Bewußtsein heben, denn es ist nicht
ganz so trivial, wie es klingt. Es würde auch den Aufwand dieser Zeilen
nicht lohnen (hoffentlich lohnt er überhaupt!), wenn es nur darum ginge, daß
wir uns nun instand zu setzen hätten, ganz genau, in treffenden Worten, zu
sagen, was wir meinen. Ich bin so optimistisch anzunehmen, daß wir das
weitgehend getan haben, und ich bin so pessimistisch anzunehmen, daß, wenn
es uns auch vollkommen geglückt wäre, diese Schwierigkeit damit noch nicht
behoben wäre. Worin bestand also, genau gesagt, die Schwierigkeit? Ich will
versuchen, es an einem Beispiel klar zu machen.
[006:4] Die Worte, die wir in unseren Diskussionen verwendeten, waren keine
wissenschaftlichen Termini – oder doch nur zu geringem Teil und insoweit
auch kaum Anlaß zur Verwirrung – sondern Worte, mit denen jeweils mehr
gemeint war als die Bezeichnung einer von uns, vom Sprechenden, unabhängigen
Sache. Dasø was diese Worte bedeuten (etwa
„Reparatur von
Verhaltenspannen“
oder
„Pädagogischer Bezug“
)
können wir nicht ohne Worte einfach vorzeigen (wie
„Reifenpannen“
oder
„Kettenglieder“
). Diese Worte
bezeichnen keine Gegenstände, sondern formulieren eine persönliche
Erfahrung; und möglicherweise sind die Erfahrungen einer größeren
Menschengruppe sich so ähnlich, daß sie alle der Meinung sein können, in dem
Wort
„Pädagogischer Bezug“
sei ihre Erfahrung formuliert.
Es scheint dann, als handele es sich da um einen klaren gemeinsamen
Terminus. Aber es scheint nur so. Das erweist sich nämlich darin, daß nun
andere versuchen, diesen Begriff und die in seiner Nähe liegenden durch
andere Worte zu ersetzen, in diesem Fall durch eine technologisch klingende
Sprache zu ersetzen, um auf diese Weise diejenigen Erfahrungen
auszuklammern, die ihnen nicht mehr zugänglich sind, und ihre eigenen
Erfahrungen ins Spiel zu bringen.
[006:5] Was geschieht? Man ersetzt die nach Lebensfülle klingenden Worte
durch gleichsam technische Bezeichnungen: Reparatur, Verhaltenspanne,
Diagnose, Therapie etc. Die Intention geht auf Versachlichung,
Rationalisierung, in der Meinung, diese Worte bezeichnen eine Sache, die
sich auch ohne Worte vorzeigen läßt (
„Ich meine dies
da...“
) und weiter in der Meinung, dies sei mit den alten Begriffen
nicht möglich, sie hätten immer einen nicht in dieser Weise vorzeigbaren
irrationalen Gehalt, einen ideologischen Gehalt. Genau dies wäre dann der
Unterschied zwischen einer Formulierung wie etwa
„liebend
verstehendes Helfen“
und
„Reparatur von
Verhaltenspannen“
. Wäre es wirklich soø wie ich gerade beschrieben habe, dann könnte es eigentlich keine
ungewöhnlichen Schwierigkeiten geben; es wäre dann der zweite Begriff
lediglich der engere, er bezeichnete dann nur die eine, sichtbare Seite der
Sache, während der erste Begriff das ganze Drum und Dran von Emotionen,
Engagement, schwer beschreibbaren inneren Vorgängen mitumfaßte.
[006:6] Aber so ist es nicht, denn über das von mir bisher Beschriebene
hinaus wird außerdem behauptet, daß die Sache sich
verändert habe, daß also nicht das eine der weitere, das andere der engere
Begriff sei, sondern daß
„liebend verstehendes |a 5|Helfen“
etwas durchaus anders sei als
„Reparatur von Verhaltenspannen“
. Das liegt auch schon
in der Tatsache, daß beiden Formulierungen je verschiedene Erfahrungen
zugrunde liegen. Wäre es so, dann wäre nicht die eine Formulierung
ideologisch, die andere technisch, sondern dann wären beide Formulierungen
von der gleichen Art: der Begriff nämlich für eine bestimmte Erfahrung, ein
Aspekt auf die Wirklichkeit; und da in beiden Fällen eine je besondere
Erfahrung mit der Wirklichkeit vorliegt, wären die verschiedenen
Formulierungen ganz natürlich. Beide Formulierungen wären ideologisch,
insofern als jede Erfahrung, die wir mit der Wirklichkeit machen, von
unserem persönlichen Erfahren-Können abhängig, an unseren Aspekt gebunden
ist. Es gibt dann aber nicht mehr die Möglichkeit – das muß man eingestehen
– zu sagen, der eine habe recht, der andere unrecht, da jeder mit seiner
Formulierung ja einen besonderen Sachverhalt meint, eben den seiner
Erfahrung.
[006:7] Ich meine, daß es sich genau so verhält. Und das bedeutet für uns,
daß wir die von Bondy
geforderte Bewußtmachung auch und ausdrücklich auf unsere eigene
Begrifflichkeit ausdehnen müssen, daß die Selbstreflexion sich besonders auf
die Sprache richten muß, auf die in ihr enthaltenen Erfahrungen und
unkontrollierten Voraussetzungen, mit anderen Worten: Wir müssen uns
nachdrücklich bewußt machen, was wir mit den Worten, die wir verwenden,
meinen, auf welche Wirklichkeit sie sich beziehen.
[006:8] Ein Zusatz ist aber noch zu machen. Jede der beiden Formulierungen
enthält auch eine Übertreibung, dadurch, daß in ihnen absichtlich Akzente
gesetzt sind. Diese Akzente sind um der Entwicklung willen notwendig,
insofern auch richtig. So war die Formulierung (und die in ihr akzentuierte
Erfahrung)
„liebend verstehendes Helfen“
oder auch
„Pädagogischer Bezug“
notwendig, um einen bestimmten
Schritt in unserer Entwicklung, in der Erziehung und sozialen Arbeit, machen
zu können. Das Gleiche gilt aber auch für die
„Reparatur“
u. ä.; auch in dieser Formulierung steckt eine Absicht. Diese Absicht nun
ist allerdings für uns sehr bemerkenswert. Mir scheint nämlich, daß diese
und alle ihr ähnlichen, uns zunächst so unangemessen anmutenden
Formulierungen erst entstanden sind nach Erfahrungen
mit Verständnisschwierigkeiten unserer Art, nach der Erfahrung, daß für
viele heute in den älteren Formulierungen ein – weil eine andere Erfahrung
formulierend – unverständlicher Rest bleibt. Die Absicht nun, die ein
Begriff wie
„Reparatur“
(unter anderm freilich) enthält,
ist die, solche Unverständlichkeiten oder Verständnisschwierigkeiten zu
vermeiden, indem man nur noch über den Teil der Sache spricht, der der
Erfahrung aller zugänglich ist, indem man nur das
sagt, was sich klar sagen läßt. Das ist die rationalistische oder
positivistische Tendenz solcher Begriffe; und diese Tendenz ist insofern zu
begrüßen, als sie Diskussionen nur über bestimmte, rational zu fassende
Sachverhalte zuläßt. In dieser Hinsicht sind wir auf der letzten Tagung
wirklich an eine Grenze gekommen. Die Erfahrung der
Verständnisschwierigkeit, die wir dabei machten, war aber offenbar
notwendig, um – ich möchte sagen: in gemeinsamer Diskussionspraxis zu diesen
Einsichten zu gelangen.
|a 6|
[006:9] Mir scheint, daß sich daraus noch eine zweite Aufgabe ergibt:
Ausklammerung der verständniserschwerenden Faktoren, d. h. die bewußte
Anstrengung, nicht nur unsere Begriffe aufzuhellen, sondern alle rational
nicht faßbaren Inhalte aus den Diskussionen auszuscheiden.
[006:10] Während der Tagung habe ich die Beobachtung gemacht, daß die sonst
in der Gilde üblichen, häufigen
und für alle Teilnehmer wesentlichen Berufungen auf praktische Erfahrungen,
die Konfrontierung der Thesen mit Beispielen aus der Praxis in der
Diskussion erheblich vermindert waren. Lag das nicht u. a. daran, daß uns
allen mehr oder weniger deutlich wurde: wir sprechen nicht mehr vorwiegend
über die Tatsachen der täglichen Praxis, sondern über die Bedeutungen
unserer Worte, über die Bedeutungszusammenhänge, in denen wir die Tatsachen
sehen wollen? Wir befanden uns in dem Moment, der durch die Formel
„Erzieher ohne Eigenschaften“
bezeichnet werden sollte: im Moment der
Reflexion. Dieser Moment kann nicht beliebig ausgedehnt werden; das meine
ich auch mit der oben erwähnten
„Grenze“
, an die wir
gekommen sind. Aber die auf dieser Tagung einmal erlangte – wenn ich so
sagen darf – Höhe der Reflexion dürfte nicht mehr verloren gehen, auch wenn
die Subjektivität unserer eigenen Erfahrungen nicht mehr so deutlich in das
Thema einer jeden künftigen Tagung hineingezogen wird.
„Kulturelle Selbstverständlichkeiten“
[006:11] Die Tagung hatte eine offenbar sehr beruhigende Pointe: die
„kulturellen Selbstverständlichkeiten“
. Sie wirkte umso
intensiver, als sie sich gleichsam nach dem Nullpunkt ergab und wir uns
bescheinigen können, daß es kein Kurzschluß war. Denn sie war eine Antwort,
die sich auf die am weitesten vorgetriebene Skepsis einstellte, nach der
Formulierung, die die Resignation für einen Moment zur Norm zu erheben
schien, nach der Wendung
„Der Erzieher ohne
Eigenschaften“
. Das schien doch zunächst zu heißen: Resignation vor
all dem, was bisher das pädagogische Selbstbewußtsein ausgemacht hat: vor
der Aufgabe der Überlieferung des Gültigen, Repräsentation des Sittlichen,
Formung des Individuellen unter dem Anspruch von Normen, eben Bildung von
Eigenschaften durch einen, der selbst kraft seiner Eigenschaften
Individualität ist. Das alles also sollte nicht mehr gelten.
[006:12] Wenn man mutlos ist, weil die Mittel nicht mehr ausreichen, so
läßt sich das beheben, wie Bondy in seinem Referat gezeigt hat: man kann dann und muß die
Ausbildung verbessern, die Methoden erweitern und verfeinern, die immer noch
geltenden sittlichen Werte ins Bewußtsein heben usw. Aber wenn man
„ohne Eigenschaften“
, ohne an sich selbst verwirklichte
Werte sein soll, was dann? (Ganz so war es indessen nicht gemeint, so schien
es nur zunächst, denn die Eigenschaftslosigkeit sollte nicht die Person des
Erziehenden sondern nur diese Person in der Funktion des Erziehens
charakterisieren.) Und dann stieg – es erscheint mir jetzt nachträglich sehr
dramatisch – aus der Asche der Phoenix: die
„kulturellen
Selbstverständlichkeiten“
; der Schlußakkord brachte vertraute Klänge: Zitate aus der Tagung von 1947.
|a 7|
[006:13] Es liegt damit doch – so scheint es mir – ein Mißverständnis nahe:
Die ganze Resignationstheorie, soweit sie sich auf das Moralische bezog, sei
blinder Alarm gewesen; es sei alles im Grunde halb so schlimm; wir hätten es
eben nur noch nicht so genau gewußt wie jetzt. Das Letzte ist vermutlich
richtig. Im Übrigen aber ist daran doch noch einiges zu überlegen. Denn: was
sind nun eigentlich diese
„kulturellen
Selbstverständlichkeiten“
? Ist schon genug gesagt, wenn wir darauf
hinweisen, daß es ein zwar zusammengeschrumpfter, aber dennoch verbindlicher
Bestand von Werten ist, der sich von den
„integrierenden
Leitbildern“
, die Klaus
Eyferth zitierte, nur durch den geringeren Umfang unterscheidet?
Wir müssen ja wissen, was wir mit solchem konstatierten Wertminimum meinen,
wenn wir uns auf es berufen wollen als Garantie erzieherischer Kontinuität,
als geringste Quelle pädagogischer Sicherheit.
[006:14] Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, daß hier noch eine Reihe von
Fragen verborgen ist. Zunächst stellt sich da heraus, daß wir den Komplex
selbstverständlicher Normen, die Voraussetzungen unseres kulturellen
Bestandes, differenzieren müssen. Offensichtlich gehören dazu so
unterschiedliche Dinge wie die Fähigkeit, mit Messer und Gabel zu essen,
Aggressivität in Gesten und Worten – und nicht in Messerstichen –
auszudrücken, das Eigentum anderer zu achten, überhaupt Eigentum als solches
für wichtig zu halten, zusammenarbeiten zu können, Fremde verstehen zu
wollen usw.
[006:15] Das alles sind Selbstverständlichkeiten sehr unterschiedlicher
Art. Der Erzieher kann sie bedenkenlos fordern, und wir meinen, daß er es
sogar muß. Sehr schwierig aber ist es, gerade wenn man zu differenzieren
beginnt, die Grenze zu finden. Wo beginnen die
„variablen
Werte“
? Ebenso groß wie die Gefahr, in die der
„Entmutigte“
geraten ist, nämlich das Kind mit dem Bade
auszuschütten, ist die Versuchung, den Bereich der Selbstverständlichkeiten
soweit auszudehnen, wie es mir und meiner Ideologie, bezw. der meiner Gruppe, gerade paßt. Läßt sich diese Grenze heute
schon beschreiben? Läßt sie sich überhaupt genau angeben oder ist sie
lediglich Sache des pädagogischen Takts? Jedenfalls kommt doch wohl auf die
Bestimmung dieser Grenze sehr viel an. Wohin gehören Werte wie Fleiß,
Keuschheit, Pünktlichkeit, Ordnungsliebe, Sparsamkeit? Kann ich sie ebenso
naiv fordern wie Achtung vor dem Eigentum anderer oder hört hier schon die
Naivität, d. h. die naive Erziehung auf? In einer Gesellschaft, in der alle
Wege in den wesentlichen Punkten vorgezeichnet und Abweichungen kaum möglich
sind, hört die Naivität in einem gewissen Sinne freilich nie auf. Aber das
ist nicht die Gesellschaft, die wir wollen und auch nicht – ohne damit allzu
optimistisch zu sein – die Gesellschaft, in der wir leben. Kann man soweit
gehen zu sagen, daß wir diesen Raum der variablen Werte dringend brauchen,
den Raum, in dem die Selbstverständlichkeit derjenigen Erziehung, deren
Prototyp das Verhältnis von Mutter und Kind ist, auf ein Minimum reduziert
ist um der Rationalität willen, um der Freiheit willen, um der Aufgaben
willen, denen die Menschen unserer Gesellschaft gewachsen sein sollen?
Erzieherische Kraft
[006:16] Mir scheint nun aber, daß wir auf der Tagung nicht nur die
„kulturellen Selbstverständlichkeiten“
(mit allen eben
gemachten Fragezeichen) gewonnen haben, sondern auch noch etwas anderes, das
den großen Bereich der Variablen gleichsam ertragen hilft und die mit ihm
gegebene Belastung und Verantwortung des Sozialarbeiters erleichtert. Das
hängt, wie ich meine, mit Klaus
Eyferths Hinweis auf die Demokratie als einen festzuhaltenden Grund
zusammen. Damit ist zwar kein Wertsystem gesetzt wie etwa in der
mittelalterlichen, der absolutistischen, der modern totalitären
Gesellschaft, denn in der Demokratie konkurrieren ja gerade verschiedene
Wertsysteme oder Ideologien; aber es ist doch eine Reihe von Fähigkeiten
gefordert.
[006:17] Wenn es keine Vorbilder mehr geben kann, durch deren Nachahmung
der Heranwachsende lebenstüchtig, der Desorientierte wieder
gesellschaftsfähig wird, dann muß anstelle dieser ehemaligen erzieherischen
Funktion etwas anderes treten, (Die Nachahmung ist ja nur sinnvoll, wenn der Erzieher oder das
Vorbild die verbindlichen Werte repräsentiertø die mehr sind als nur
„kulturelle
Selbstverständlichkeiten“
in unserem Sinne). Die
„erzieherische Kraft“
, die Bondy zitierte und die
wiederzugewinnen sein Anliegen war, ergab sich ehemals daraus, daß der
Erzieher die Sittlichkeit repräsentierte oder doch genau wußte, wie man zu
sein, wie man sich zu verhalten hatte. Je mehr dieses Wissen schwindet (und
das geschieht heute), je mehr schwindet auch die erzieherische Kraft, wenn
nicht eben an diese Stelle etwas anderes tritt. Dieses andere suchte Klaus Eyferth – wie mir
scheint – in der Formel
„Demokratie“
zusammenzufassen.
Was ist dieses andere? Das zu wissen, wäre durchaus notwendig, denn die
erzieherische Kraft, will der Erzieher mehr als nur Funktionär oder
Vermittler der kulturellen Selbstverständlichkeiten sein, ist von diesem
Anderen abhängig. Es hängt, wie ich vermute, wiederum mit jenem zusammen,
das auf der Tagung in der Formel
„Widerstand und
Anpassung“
zum Ausdruck kam.
[006:18] Anpassung ist verwandt mit Nachahmung. Wo ich nachahme, passe ich
mich zugleich dem Nachgeahmten an. Ich lerne das Angepaßtsein durch
Nachahmung. Für den Bereich der variablen Werte aber taugt dieser Vorgang
nicht, denn es ist ja nichts verbindend Verbindliches da, dem ich mich
anzupassen hätte. Dennoch muß ich fähig sein, mich in diesem Bereich zu
bewegen. Es muß also einige Fähigkeiten geben, die zu lernen lebensnotwendig
sind und die (in unserer Gellschaft) zu haben den Erzieher erst zum Erzieher machen.
[006:19] In der alten sozialpädagogischen Formel
„Hilfe zur
Selbsthilfe“
ist das schon andeutungsweise enthalten, obwohl wir erst
jetzt immer deutlicher sehen, was sie alles bedeuten kann. So bedeutet sie
doch etwa oder kann doch bedeuten, daß der Klient, der Heranwachsende usw.
fähig werden soll, eigene Wertentscheidungen zu treffen, sich auch, wenn er
es für möglich hält, gegen die Meinung der großen Zahl zu entscheiden,
produktiv zu sein, Phantasie zu entwickeln und damit gerade mehr als nur ein
Angepaßter zu sein. Der Sozialarbeiter ist nicht nur der gegebenen Situation
verpflichtet, sondern ebenso der offenen Entwicklung. Solange er selbst |a 9|abhängig, nur angepaßt ist, kann er mit seiner Hilfe
kaum mehr als wiederum Abhängige und Angepaßte hervorbringen. Und insofern
repräsentiert auch er – allerdings kein geschlossenes Wertsystem, sondern
die Fähigkeiten des Menschen unserer Gesellschaft zu
werten und Stellung zu nehmen, dort noch oder schon wieder Möglichkeiten zu
sehen, wo sich andere u. U. von der Gesellschaft unerbittliche
Verhaltensmuster oder Entwicklungstrends vorschreiben lassen.
[006:20] Die Aufgabe, die nun bleibt, ist, diese Fähigkeiten zu
beschreiben, sie ins Bewußtsein zu heben, die Erziehung so einzurichten, daß
sie sich auf sie richtet, die Mittel und Wege zu finden, sie im Menschen
hervorzubringen. Vielleicht liegt dann in dieser Richtung auch das, was neu
zur Autorität und Strafe zu sagen ist. Wenn der Erzieher nicht mehr ein
sittliches Wertsystem repräsentiert, scheint zunächst auch die Legitimation
zu strafen verloren zu sein. Auch hier scheint es zwei Konsequenzen zu
geben: der tyrannisch ideologisch verhärtete Erzieher und der, der vor der
Aufgabe zu strafen resigniert. Aber sind diese Konsequenzen notwendig oder
ergeben sich auf Grund der Einsichten der letzten Tagung auch hier ganz neue
Möglichkeiten?