|a 349|
Die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Jugendverbände im Blickfeld der
Erziehungswissenschaft
[010:1] Dem Andenken Erich Wenigers
[010:2] Die Erziehungswissenschaft hat – von den Arbeiten Herman Nohls, Aloys Fischers und Erich Wenigers abgesehen – kaum
nennenswerte Notiz von den Jugendverbänden und ihrer Erziehungsarbeit
genommen. Die Ursachen dafür sind nicht nur bei der Erziehungswissenschaft
zu suchen, sondern auch bei den Jugendverbänden selbst, die sich lange Zeit
ausdrücklich als ein außerpädagogisches Feld der Lebenswirklichkeit des
jungen Menschen verstanden und sich – freilich verständlicherweise – gegen
den Zugriff durch die Pädagogik wehrten, die ihnen als Repräsentant der
Erwachsenengeneration erschien.
[010:3] Die Pädagogik aber als Wissenschaft von der Erziehung war
einerseits vollauf – jedenfalls bis 1933 – damit beschäftigt, die Fülle
neuer geschichtlicher Daten, |a 350|Einrichtungen,
Methoden, Theorien, Meinungen, die die pädagogische Reformbewegung
hervorgebracht hatte, zur Kenntnis zu nehmen und zu ordnen; das pädagogische
Gesamtwerk Herman Nohls ist
dafür vielleicht das eindrucksvollste Beispiel; andererseits war sie so
vorwiegend an der Schule orientiert, daß alles andere als Randproblem
erscheinen mußte. Schließlich verdankt sie ja auch den Problemen des
Unterrichts und der Konsolidierung des Lehrerstandes weitgehend ihre
Entwicklung zur Wissenschaft. Deshalb blieben die außerschulischen pädagogischen Probleme in der Regel auch außerhalb
der Erziehungswissenschaft, als Erfahrungsberichte, Programme, Versuche,
Meinungen, soweit sich nicht andere Wissenschaften ihrer annahmen.
Merkwürdig ist, daß die große Bedeutung, die der Jugendbewegung in der
pädagogischen Geschichtsschreibung eingeräumt wird, ohne Folgen für das
aktuelle Verhältnis der Erziehungswissenschaft zu ihren Nachfahren geblieben
ist.
[010:4] Es wäre nun – so scheint mir – wenig interessant, die verstreuten
Ansätze von Berührungspunkten und erziehungswissenschaftlichen Reflexionen
über die Bildungsarbeit der Jugendverbände von Schleiermacher bis in unsere Gegenwart
zusammenzutragen. Ich will statt dessen versuchen, einige Grundprobleme und
Grundbegriffe einer pädagogischen Theorie der Jugendverbandsarbeit zu
erörtern und in dieser Absicht die folgenden Themen behandeln.
Der erziehungswissenschaftliche Ort der Jugendverbandsarbeit
[010:5] Eine wissenschaftliche Theorie der Jugendverbandsarbeit existiert
nicht. Diese, zunächst vielleicht allzu ausschließlich klingende
Formulierung wird verständlich, wenn wir die Aussagen betrachten, die hier
in Frage kämen. Solche Aussagen finden sich heute im Bereich der Soziologie
und der aus der Arbeit der Jugendverbände selbst stammenden Reflexionen und
Materialsammlungen. Sehen wir von der Untersuchung
Wurzbachers über die Christliche Pfadfinderschaft
Deutschlands ab, so besteht der Beitrag der Soziologie im
wesentlichen darin, eine Reihe von bedingenden Faktoren der
Jugendverbandsarbeit ins Bewußtsein gehoben zu haben, ohne dabei die Sache
selbst theoretisch zugänglich zu machen. Dabei ist nicht einmal eine so
entscheidende Frage, wie die nach der Bedürfnislage der jungen Generation
heute, zureichend geklärt. Blättert man andererseits die Jahrgänge der
Zeitschrift
„deutsche jugend“
durch, so ergibt sich zwar eine Fülle
von Aspekten, Anregungen und Materialien, der Leser findet sich im ganzen
aber vor einer eigentümlichen Schwierigkeit: Alle Aussagen zum Thema lassen
sich nämlich in drei Klassen zusammenfassen. Die eine Klasse befaßt sich mit
gruppentheoretischen Problemen und versucht, die in der Soziologie und der
Sozialpsychologie erarbeiteten Erklärungsmodelle auf die
Jugendverbandsarbeit zu übertragen. Die zweite Klasse nimmt die modernen
jugendkundlichen Untersuchungen zum Ausgangspunkt einer Erörterung der
Bedürfnislage der jungen Generation und versucht auch hier, eine
verbandspädagogische Anwendbarkeit nachzuweisen oder durch Transposition
herzustellen. Die dritte Gruppe schließlich bemüht sich um das die
Verbandsarbeit charakterisierende Engagement, um die sogenannte
„gei|a 351|stige Mitte“
, um die verbindlichen
Bildungsgehalte also, die nun aber nicht als das partikulare
gesellschaftliche Interesse eines Verbandes, sondern gleichsam als die
prima causa der Erziehungs- und
Bildungsarbeit eines Jugendverbandes behauptet werden. Bezeichnenderweise
setzt kaum eine der Aussagen-Klassen bei der Erziehungswirklichkeit selbst
ein, sondern versucht Begründungen, Rechtfertigungen oder klärende Analysen
gleichsam von den Rändern her, von der Gruppentheorie, der Jugendkunde, den
„Weltanschauungen“
. Nahezu alle Aussagen dieser drei
Klassen sind nicht spezifisch für eine Pädagogik der Jugendverbandsarbeit;
sie sind allgemeiner Natur und können in jedem pädagogischen Zusammenhang
auftauchen. Damit zeigt sich, in dem Dilemma der theoretischen Selbstklärung
der Jugendverbandsarbeit, was auch von der
Erziehungswissenschaft her zu konstatieren wäre: Nicht nur gibt es keine
Theorie der Jugendverbandsarbeit, sondern es kann offenbar sinnvollerweise
gar keine geben; sie ist überdies auch nicht wünschenswert, da sie notwendig
entweder ein Kompendium theoretischer Anleihen aus verschiedenen Gebieten
oder eine nur scheinbar erziehungswissenschaftliche Formulierung
partikularer Verbandsinteressen sein würde. Glücklicherweise nun zeigt sich
in den vorliegenden theoretischen Versuchen – und das kommt dem Anliegen der
Erziehungswissenschaft sehr entgegen – eine in den Formulierungen
implizierte Tendenz, über die Grenzen einer Jugendverbandspädagogik
hinauszugehen. Diese Tendenz wird nun bisweilen auch als Absicht deutlich,
was um so nachdrücklicher zum Bewußtsein bringt, daß es sich hier nicht um
die Willkür der Autoren, sondern um ein von der Sache her gefordertes
Prinzip handelt.
[010:6] Meine erste These lautet daher: Eine Theorie der Jugendverbände
kann nicht separat konzipiert werden, sondern sie gehört in den Zusammenhang
der sozialpädagogischen Theorie, Jugendverbandsarbeit als Praxis gehört in
den Zusammenhang der außerschulischen Jugendbildung, der Jugendhilfe.
[010:7] Indessen: Die Erziehungswissenschaft hat nicht nach dieser These
verfahren, jedenfalls dort nicht, wo sie den hier in Frage stehenden Bereich
jugendlichen Lebens nur pädagogisch negativ bestimmte, in dem Begriff des
„erziehungsfreien Raumes“
. Diese Formulierung legt nahe,
daß es sich hier um ein Randgebiet handelt, das der
erziehungswissenschaftlichen Erörterung nur mit Zurückhaltung bedarf, daß es
sich um einen Gegenstand handelt, für den – weil nicht mehr von Erwachsenen
mit gesellschaftlich-ansprüchlichem Erziehungsauftrag strukturiert – die
Erziehungswissenschaft nicht eigentlich mehr zuständig ist. Diese Meinung
der Erziehungswissenschaft ist bodenlos geworden, seit die Jugendverbände in
den Thesen von St.
Martin eine Eigendeutung vorlegten, mit der sie sich ganz
entschieden selbst als einen Gegenstand der Erziehungswissenschaft
hervorgebracht haben.
Begriff von Erziehung
[010:8] Das so lange ausgebliebene Gespräch zwischen Jugendverbänden und
Erziehungswissenschaft hat – so scheint mir – einen entscheidenden Grund,
der an dieser Stelle zu nennen ist. Als die Erziehungswissenschaft sich zu
formulieren begann, bahnte sich schon eine Praxis des gesteuerten
Heranwachsens der jungen Generation |a 352|an, die mit dem
Erziehungsbegriff, den die Erziehungswissenschaft voraussetzte nicht in Einklang zu bringen war. Die Erziehungswissenschaft verengte –
infolge dieses Erziehungsbegriffs – ihre Aufmerksamkeit auf die
intentionalen persönlichen Akte von Erwachsenen. Was nicht in den Rahmen
dieser Charakterisierung paßte, war entweder nicht pädagogisch oder blieb
als funktionale Erziehung einer recht vagen Beschreibung unter der Leitung
eines unglücklich gewählten Begriffs vorbehalten. Das war der tiefere Grund
dafür, daß als erziehungswissenschaftliche Gegenstände nur Familie und
Schule, allenfalls noch Maßnahmen der Verwahrlosten- und Kriminalpädagogik
in Betracht kamen.
[010:9] Meine zweite These lautet daher: Im Bereich der außerschulischen
Jugendbildung (Jugendarbeit) und darüber hinaus im gesamten Bereich der
Jugendhilfe hat die Praxis einen neuen Begriff der Erziehung hervorgebracht,
der die Erziehungswissenschaft zwingt, ihr
Kategoriengefüge zu erweitern und zu verändern. Danach stimmt es weder, wenn
die Jugendverbände von sich behaupten, keine Pädagogik zu betreiben, noch
stimmt die Meinung der Erziehungswissenschaft, diese Arbeit geschehe in
einem erziehungsfreien Raum, nur weil pädagogisches Verhalten eines
bestimmten Typs in ihm nicht anzutreffen ist. Von dem Begriff der Erziehung
hängt es also ab, wie weit die Erziehungswissenschaft imstande ist, das
pädagogische Feld der Jugendarbeit mit Gewinn zu behandeln.
[010:10] Infolgedessen sollten mit dem Begriff Erziehung alle die
Veränderung der Person betreffenden Wirkungen, soweit diese Veränderung
beabsichtigt war, bezeichnet werden. Das ist keine willkürliche Setzung der
Theorie, sondern die nachträgliche Formulierung einer bereits wirklichen
gesellschaftlichen Praxis, der Begriff der Sache.
[010:11] Die Praxis dieses Erziehungsbegriffs zeigt sich an den
verschiedenen Stellen der Erziehungswirklichkeit. Für unseren Zusammenhang
ist es besonders interessant, daß er schon frühzeitig in der Arbeit der
Jugendverbände und Jugendbünde zum Vorschein kam. Die These, Jugend solle
von Jugend geführt werden, ist unter diesem Aspekt so unsinnig nicht, wie es
heute manchen Theoretikern und Praktikern erscheinen mag. Sie ist die
polemische Formulierung, in der sich – freilich kaum reflektiert – der neue
Erziehungsbegriff ankündigte. Im Sinne dieses Begriffs nämlich formieren die
Jugendverbände ein pädagogisches, d. h. auf Veränderung der jugendlichen
Personen gerichtetes Erziehungsfeld, von dem man mit Recht annehmen kann,
daß es durch seine Struktur den jungen Menschen erzieht, in der der
Erwachsene als einzelner zunächst überhaupt keine, und heute auch nur eine
eher zurückhaltende Rolle zu spielen hat. Denn das ist – selbst wenn die
Gültigkeit des Postulats, Jugend solle durch Jugend geführt werden,
verworfen wird – eine Eigentümlichkeit moderner Jugendarbeit, daß in ihr der
Erwachsene als unmittelbarer Erzieher kaum hervortritt. Seine pädagogische
Leistung scheint mir im wesentlichen darin zu bestehen, die pädagogische
Fruchtbarkeit des Arrangements, den Wirkungsgrad des Feldes zu
kontrollieren; seine unmittelbare pädagogische Tätigkeit ist vom Typ der
Beratung, eine Form von Erziehungs|a 353|tätigkeit, in der
sich der neue Erziehungsbegriff bereits als Methode niedergeschlagen
hat.
[010:12] Es lohnte sich, an dieser Stelle ins einzelne zu gehen und die
Realität des Begriffs nachzuweisen, etwa in der Pädagogik der
„Offenen Tür“
, der Gruppenpädagogik, der Einrichtung von
Kinderspielplätzen, der pädagogischen Theorie der Geselligkeit usw.
Besonders in der letzten, das sei noch angefügt, zeigt sich zugleich ein
größerer geschichtlicher Zusammenhang. Zu der Zeit nämlich, als die deutsche
Erziehungstheorie sich anschickte, demokratische Elemente in sich
aufzunehmen und die gesellschaftliche Mündigkeit des emanzipierten Bürgers
auch im Erziehungsgang vom Dogmatismus zu befreien, in der Bildungstheorie
Humboldts und Schleiermachers, spielte die Geselligkeit eine besondere
pädagogische Beachtung, wie – in Verbindung damit – die Selbsterziehung.
Humboldts Theorie geht
sogar ziemlich rein von dieser aus, während Schleiermacher, vielleicht realistischer, in das
pädagogische System zum ersten Male die freie Jugendbildung ausdrücklich mit
aufnahm. Es ist gewiß nicht zufällig, daß diese Ansätze in der deutschen
Geschichte kaum zum Zuge kamen.
Der Rahmen einer Theorie der Jugendarbeit
[010:13] Ich sagte, daß theoretische Äußerungen zum Problem der
Jugendverbandsarbeit in den Zusammenhang einer Theorie der allgemeinen
Jugendarbeit gehörten und nur dort sinnvoll seien. Um diese These
verständlich zu machen, möchte ich einen Umriß der Theorie der Jugendarbeit
versuchen, in dem ich allerdings nicht mehr als einige versuchsweise
ordnende Begriffe bieten und die Problemlage skizzieren kann.
[010:14] Man kann konstatieren: Es gibt außer Familie, Schule und Beruf ein
weiteres institutionell gegliedertes Erziehungsfeld: die Jugendarbeit oder,
wie Schleiermacher mit einem glücklicher gewählten Wort sagen würde: die freie Jugendbildung.
[010:15] Stellt man sich die Jugendarbeit, oder auch im engeren Sinne die
Jugendverbandsarbeit, auf einer Skala aller sozialpädagogischen
Erziehungsfelder und Institutionen eingetragen vor, und denkt man sich die
Verbandsarbeit in der Mitte eingetragen, dann lassen sich zwei Extreme
nennen, zwischen denen sie geschieht. In der einen Richtung (nach links)
verfliegt die erzieherische Strenge des Feldes etwa im Sinne informeller
Strukturen bis hin zu ungebundenen Gesellungen und freien Tätigkeiten, ohne
Träger und Institutionen. In der anderen Richtung (nach rechts) wären
diejenigen Erziehungsfelder einzutragen, in denen sich das Interesse der
Gesellschaft an integrierten Bürgern zunehmend nachdrücklicher dokumentiert;
am Ende dieser Reihe könnte zum Beispiel der Jugendstrafvollzug stehen. (Ich
gestehe, daß mir die politischen Assoziationen, die vielleicht bei dieser
Skala auftauchen, nicht unsympathisch sind.) Aus dieser Anordnung folgt –
oder besser: in ihr ist vorausgesetzt –, daß der Bildungssinn der
Jugendarbeit sich aus ihrer Stellung |a 354|zwischen den
Extremen und aus ihrer Tendenz zu den
„informellen“
Feldern ergibt.
[010:16] Dieser Sinn besteht – wenn ich recht sehe – darin, daß alle
Maßnahmen der Jugendarbeit auf die gesellschaftliche Praxis eines mündigen
Menschen in einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft hin geordnet
sind. Dieser Sinn verflüchtigt sich zum Konturlosen in Richtung auf die
ungebundenen Formen des Jugendlebens; er wird reduziert und eingeschränkt in
Richtung auf die rechtlich sanktionierten Maßnahmen der Jugendfürsorge und
der Kriminalpädagogik. In der Jugendarbeit kann er sich voll entfalten.
Allerdings ist er nichts der Jugendarbeit allein Eigentümliches. Mindestens
der Bildungsauftrag der Schulen wird auch von ihm konstituiert. Indessen
kann er dort – das jedenfalls ist meine skeptische Vermutung – nur in
eingeschränktem Maße realisiert werden: Die in die Schule investierten
Integrations-Interessen der Gesellschaft sind zu mächtig und ihr
didaktischer Auftrag zu dominant, als daß eine Praxis kritischer Subjekte in
entscheidendem Umfang verwirklicht werden könnte. Das aber ist in einer
Jugendarbeit als freier Jugendbildung der Fall, und nur darin zeigt sich
ihre spezifische Leistung: das Experimentieren mit der Mündigkeit eines
kritisch-demokratischen Bürgers. Ihr Bildungssinn ist deshalb auch
fundamental politisch.
[010:17] Es müssen nun Begriffe gefunden werden, die das Feld, in dem
dieser Bildungssinn realisiert wird oder realisiert werden soll, ordnen, es
erziehungswissenschaftlich aufschließen und damit detaillierte Analysen
ermöglichen. Wir können zu dem Zweck auf die vielen
vorliegenden Studien zurückgreifen, ohne sie hier im einzelnen zu
nennen.
[010:18] Die folgenden Aspekte der Jugendarbeit scheinen sich bisher als strukturbestimmend erwiesen zu haben:
-
1.
[010:19] Angesichts der hohen Anforderungen, die in unserer
Gesellschaft an die Soziabilität ihrer Mitglieder gestellt werden,
begreift und praktiziert die Jugendarbeit ihre Tätigkeit als freie und
vielseitige Kommunikation (Wolfgang Müller).
-
2.
[010:20] Die Kommunikation bleibt nicht formal, sondern wird mit
Inhalten aus unserer Welt wie auch mit den subjektiven Inhalten aus der
Erfahrungswelt der jungen Menschen angereichert: Jugendarbeit ist Information.
-
3.
[010:21] Die Information, dadurch daß sie einerseits im
kommunikativen Prozeß bewegt und reflektiert wird und andererseits
Information zur unmittelbaren Lebenspraxis ist, wird zur Analyse, zur
Aufklärung des jungen Menschen über die
Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz (Helmut Kentler).
-
4.
[010:22] Die allgemeinste formale Kategorie, mit der sich die
erzieherischen Probleme in der Jugendarbeit fassen lassen, ist der Stil. Alle Einheiten der Jugendarbeit – Gruppen,
Klubs, Freizeitheime, Gemeinschaftswerke, Verbände usw. – sind nicht nur
organisatorische, sondern – mit erziehungswissenschaftlichem Interesse
betrachtet – immer auch stilistische Einheiten. Mögen in den bestimmten
Stil einer Gruppe auch politische, weltanschauliche, religiöse
Entscheidungen eingegangen |a 355|sein: zunächst stellt
er sich immer als eine bestimmte Form des bestehenden
Kommunikationsgesetzes dar, die für sich selbst Jugendliche anzieht oder
fernhält, bestimmte Erziehungswirkungen befördert, andere verhindert,
beweglich oder starr, guter oder schlechter Stil ist. Über dieses für
die Jugendarbeit entscheidende Phänomen wissen wir leider noch so gut
wie nichts.
[010:23] Im Anschluß an diese Skizze der strukturbestimmenden
Grundkategorien wäre nun das anzuschließen, was schon verschiedentlich unter
der Überschrift
„Faktoren-Analyse der Jugendarbeit“
versucht wurde. Statt dessen will ich noch einiges zum Methodenproblem
sagen. Für alle Methodenfragen ist ausschlaggebend, daß Jugendarbeit
einerseits im Medium der Geselligkeit geschieht,
andererseits ausschließlich mit der Freiwilligkeit
der Teilnehmer rechnen muß. Beide Merkmale gelten – wenn ich es recht sehe –
in unserem Erziehungssystem ausschließlich für die Jugendarbeit; sie sind in
einer Theorie der Jugendarbeit deshalb in besonderer Weise zu beachten. Alle
methodischen Fragen werden im Hinblick auf diese beiden Phänomene beantwort, oder aber man wird sich, wo das möglicherweise noch nicht
geschieht, auf sie einstellen müssen, wenn Jugendarbeit das bleiben soll,
als was sie konzipiert wurde.
[010:24] Durch die fundamentale Funktion, die der Freiwilligkeit eingeräumt
werden muß, gewinnen einige Probleme eine besondere Bedeutung, die in
anderen Erziehungsbereichen nur taktische Berücksichtigung zu finden
brauchen, während sie in der Jugendarbeit grundlegend für die pädagogische
Strategie sind: Bedürfnisse und Interessen. Soll die Jugendarbeit bei den Bedürfnissen oder bei
den Interessen ihrer Teilnehmer einsetzen? Soll sie Interesse wecken für
einen Kanon vorgegebener Inhalte, oder soll sie sich lediglich an das
halten, was die Jugendlichen an eigenem Interesse einbringen, bzw. was im
geselligen Prozeß der Kommunikation sich allmählich
als Interesse in Worten formuliert, artikuliert? Soll sie auf die
Bedürfnisse Rücksicht nehmen, die konstatierbaren Bedürfnisse befriedigen?
Gibt es unter den Bedürfnissen eine sinnvolle Rangreihe? Gibt es sogenannte
eigentliche und uneigentliche Bedürfnisse? Wie sind die sekundären, durch
den zivilisatorischen Lebensstil hervorgebrachten Bedürfnisse zu behandeln?
Ich deute hier nur die Fragen an, um zu zeigen, wie grundlegend ihre
Beantwortung für die Jugendarbeit sein müßte und wie weit wir noch von ihrer
Beantwortung entfernt sind. Eine pädagogische Bedürfnis- und
Interessenforschung gibt es meines Wissens noch nicht.
[010:25] Nach der Erörterung der Phänomene Bedürfnis und Interesse deutet
sich ein dritter Problemkreis einer Theorie der Jugendarbeit an: die Didaktik. Didaktik wird gewöhnlich als ein Reservat
der Schule betrachtet; jedenfalls gibt es bisher nur schulbezogene
didaktische Theorien. Über die Gründe dafür brauche ich hier nichts zu
sagen. Didaktik ist die Theorie von den Bildungsinhalten. So wie es keinen
Erziehungsvorgang gibt, in dem nicht Inhalte eine entscheidende Rolle
spielen, so kann es auch keine Theorie der Jugendarbeit geben, ohne daß in
ihr didaktische Überlegungen einen wichtigen Platz einnähmen. Im Vergleich
mit der Schule fällt aber sogleich eines auf: Die auf den Schulunterricht
bezogene Didaktik hat es unter |a 356|anderem mit der
Herstellung eines Kanons von Wissensgegenständen zu tun und mit den
Kriterien zur Herstellung dieses Kanons. Das scheint in der Jugendarbeit
prinzipiell anders zu sein (über die besonderen didaktischen Probleme
inhaltlich festgelegter Jugendverbände werde ich noch einiges sagen). Hier
entstehen die didaktischen Probleme gerade dadurch, daß ein verbindlich zu
erlernender Kanon fehlt. Die Inhalte sind nicht vorgegeben, um dann an den Jugendlichen herangetragen zu werden, deren Interesse dafür zu
gewinnen ist. Jedenfalls scheiden sich an der Beantwortung dieser Frage zwei
prinzipiell anders geartete Konzeptionen. Vielmehr entstehen die Inhalte
erst im Prozeß der freien Geselligkeit, oder sie werden in diesem Prozeß
durch das Miteinander der Jugendlichen artikuliert. Die Jugendarbeit bringt
ihre Bildungsinhalte im Bildungsprozeß – der hier ein Gesellungsprozeß ist –
erst hervor. Es liegt auf der Hand, daß dies für den Jugendleiter eine Reihe
schwieriger Anforderungen bedeutet, und ich bin, nicht zuletzt aus diesem
Grund, der Meinung, daß der hauptamtliche Jugendleiter (Jugendpfleger) oder
wie man ihn nennen will, erstens unersetzlich ist und zweitens eine dem
Lehrer gleichzustellende Erziehungsaufgabe zu lösen hat.
[010:26] Die kurze Skizze eines Umrisses der Theorie der Jugendarbeit
breche ich hiermit ab. Jugendverbandsarbeit – das war meine Ausgangsthese –
müßte sich dieser Skizze einordnen lassen, das heißt alle Probleme der
Jugendverbandsarbeit müßten hier also aufgehoben werden können. Das
besondere Profil dieser Arbeit aber verlangt, daß ich mich noch bei einer
charakteristischen Frage aufhalte:
Zur pädagogischen Funktion der Jugendgruppe
[010:27] Aus dem bisher Gesagten wird man nicht folgern wollen, daß ich die
Bedeutung der Gruppe gering einschätze, selbst wenn sie als Kategorie in dem
theoretischen Umriß nicht aufgetaucht ist. Sie scheint in dem ganzen Komplex
der Jugendarbeit der stabilste Faktor zu sein, denn seit ihren Anfängen hat
es wohl nie Jugendarbeit ohne Gruppen gegeben. Wenn nun seit einiger Zeit –
teils durch die Entwicklung der Praxis außerhalb der Jugendverbände, teils
durch die Theorien der Soziologie und
Sozialpsychologie – viel von Unterscheidungen die Rede ist, besonders jener
von formellen und informellen Gruppen, so muß doch wohl gesagt werden, daß
sowohl die ältere Tradition der formellen wie die neue Praxis der
informellen Gruppen im Hinblick auf ihre präzisierbaren pädagogischen
Wirkungen wenig mehr für sich haben als die Plausibilität. Tatsächlich
wissen wir über die pädagogische Relevanz von Gruppen und Gruppenprozessen
weniger, als es den Anschein hat. Die in theoretischer Absicht entwickelten
Gruppentheorien geben für die Erziehungspraxis – bisher jedenfalls – wohl
Ordnungsgesichtspunkte, aber nur wenige Argumente her. Mir sind kaum
Untersuchungen bekannt, in denen irgendeine pädagogische Effektivität
nachgewiesen wäre – dergestalt, daß irgend jemand mit wissenschaftlichem
Recht etwa den besonderen pädagogischen Wert der geschlossenen, formellen
Jugendgruppe behaupten könnte.
[010:28] Einige Zitate aus den Thesen von St. Martin mögen meine Skepsis noch
konkretisieren. Dort steht:
„Das pädagogische Wirken der Jugendverbände wird vor
allem |a 357|dadurch gekennzeichnet, daß in diesen
ihren Gemeinschaften durch und auf Gegenseitigkeit hin erzogen
wird.“
Dieser Satz ist rein beschreibend, er enthält erkennbar keine
Wertung, in ihm ist nur gesagt, auf welche Weise – eben auf Gegenseitigkeit
– etwas abläuft, was wir Erziehung nennen. Ob wir diese Verlaufsstruktur für
sinnvoll halten oder nicht, ob ein gewünschtes Ergebnis damit erzielt wird
oder nicht, bleibt offen. Das ist exakt und wird von meiner Skepsis nicht
berührt. Anders steht es indessen mit den folgenden Sätzen:
„In diesen Gruppen (der Jugendverbände) werden menschliche Tugenden und
Wertvorstellungen vermittelt. Darüber hinaus trägt schon die
Bildungsarbeit der kleinen Gemeinschaften dazu bei, den Aufbau der
Großgesellschaft überschaubar zu machen“
; ferner:
„
Die Gruppe, soweit sie nicht romantisch, emotional
oder ideologisch verstanden wird, hat sich als überschaubare, auf
längere Sicht bindende soziologische (gemeint ist wohl
„soziale“
)
Einheit in den Jugendverbänden erhalten und
bewährt. Sie ermöglicht am relativ aussichtsreichsten den Erfolg der
Erziehungs- und Bildungsarbeit.“
Es seien mir dazu einige kritische Fragen gestattet. Freilich
vermitteln auch Jugendgruppen, wie alle sozialen Beziehungen, Tugenden und
Wertvorstellungen. Dieses Faktum selbst ist pädagogisch wenig interessant,
es ist ein soziologischer Gemeinplatz. Oder soll in dem Satz mehr gesagt
werden, als in ihm formuliert ist, etwa: In Jugendgruppen werden Tugenden
und Wertvorstellungen wirksamer als andernorts vermittelt? Dann bliebe,
selbst bei positiver Beantwortung dieser Frage, immerhin noch offen, welcher
Art diese Tugenden und Wertvorstellungen sind, welchen Bezug sie zur ganzen
Lebenswirklichkeit des jungen Menschen haben, wie dauerhaft sie sich im
Urteilen und Verhalten des einzelnen niederschlagen und wie sie sich im weiteren gesellschaftlichen Lebenszusammenhang
bewähren. – Weiter: Wie die Bildungsarbeit in kleinen Gemeinschaften dazu
beitragen soll, den großgesellschaftlichen Zusammenhang überschaubar zu
machen, vermag ich nicht einzusehen. Beruht dieser Satz auf Erfahrung, dann
hätte ich gern gewußt, auf welcher. Drückt er aber nur eine Vermutung aus,
dann sollte das kenntlich gemacht und gesagt werden, welche Erfahrungen
diese Vermutung nahelegen. Die Thesen von St. Martin sind freilich nicht die richtige
Adresse meiner Kritik; in ihnen konnte und brauchte eine solche
Differenzierung nicht geleistet werden. Die kritisierten Sätze sind aber symptomatisch. Mir scheint, daß
die Untersuchung
Wurzbachers über die Christliche Pfadfinderschaft hier viel
Verwirrung gestiftet hat, nicht ohne eigene
Schuld. Die Untersuchung wurde erklärtermaßen in theoretischer Absicht zur
Überprüfung eines bestimmten Begriffssystems bzw. zur Einführung eines
neuen, differenzierteren, vorgenommen. Die Untersuchung beweist nichts (und
will, trotz der mißverständlichen Thesen am Schluß des Buches, nichts
beweisen) über die erzieherische Effektivität einer Jugendverbandsarbeit.
Wenn aber wissenschaftliche Vermutungen, die zum Zwecke der Überprüfung
formuliert werden, in den praxisbezogenen Äußerungen als Aussagen über
wirkliche Sachverhalte wieder auftauchen, dann beweist das unter Umständen
das Bedürfnis nach Ideologiebildung bei denen, die so formulieren.
[010:29] Ferner: Was
heißt es, wenn gesagt wird, die Gruppe habe sich bewährt? Daß sie sich als
wesentlicher Bestandteil der Jugendverbandsarbeit erhalten hat, ist histo|a 358|risch unschwer festzustellen und nicht zu
bestreiten. In welcher Hinsicht aber hat sich die Gruppe bewährt? Bewährung
schlechthin ist eine Leerstelle. Konkret ist sie nur denkbar im Hinblick auf
bestimmte Aufgaben. Wie hat man also die Bewährung der Gruppen gemessen, und
welche Bewährung ist gemeint?
[010:30] Schließlich scheint mir der Satz, die Gruppe ermögliche am relativ
aussichtsreichsten den Erfolg der Erziehungs- und Bildungsarbeit, völlig
inhaltsleer zu sein. Hier wird im Grunde nichts gesagt, aber doch der
Anschein erweckt, als werde das Entscheidende gesagt. Abgesehen davon, daß
ich nicht weiß, was hier miteinander verglichen wird – die Jugendgruppe mit
der Schülergruppe (Klasse), die formelle mit der informellen Gruppe; Gruppen
überhaupt mit pädagogischen Verfahren, die ich auf das Zweierverhältnis
Erzieher – Zögling beschränke, Gleichaltrigen-Gruppen mit familiären
Gruppen? –, muß man fragen, was denn hier als
„Erfolg“
der Erziehungs- und Bildungsarbeit angesehen werden soll.
[010:31] Mit dieser Polemik soll nun nicht gemeint sein, daß im Hinblick
auf die pädagogische Leistungsfähigkeit von Gruppen schlechthin nichts
ausgemacht sei, sie soll nur zeigen, daß es der wissenschaftlichen Situation
besser entspräche, wenn man in dieser Hinsicht Fragen statt Ergebnisse
formulieren würde. Vor allem scheint mir, daß im Hinblick auf die Rolle der
Gruppe sowohl in der Jugendverbandsarbeit aus auch in der Pädagogik allgemein genauer differenziert werden
müßte. So ist etwa durchaus zuzugeben, daß aus dem Bereich der
Gruppenpädagogik oder der
„social group
work“
halbwegs verläßliche Erfahrungen vorliegen, allerdings
Erfahrungen mit einem bestimmten Gruppentyp, einem bestimmten Gruppenklima
und einem bestimmten Führungsstil. Nur in so eingeschränkter Weise sollten
in pädagogischem Zusammenhang Aussagen über die Effektivität von
Gruppenerziehung gemacht werden.
[010:32] Bei näherer Betrachtung zeigt sich nun aber, daß der Begriff
pädagogischer Effektivität oder auch des pädagogischen Erfolges nicht ohne
Schwierigkeiten ist. Die Meßbarkeit des Erfolges einer Methode, eines Stils
oder einer Einrichtung ist höchst fragwürdig: der Vielheit kaum zu
kontrollierender Faktoren wegen. Der Pädagoge ist gezwungen, unter
erfahrungswissenschaftlich relativ ungesicherten Bedingungen zu arbeiten.
Unter diesen Umständen ist es sinnvoll, einen Gesichtspunkt ins Feld zu
führen, der seit Rousseau und
Schleiermacher immer wieder als pädagogisches Kriterium auftaucht und auch in den Bemühungen um eine Theorie der Jugendarbeit diskutiert wird: die Freude am Gegenwärtigen, der erfüllte, der freie glückliche Augenblick. Mir scheint, daß
das Recht des Heranwachsenden auf Erziehung das
Recht einschließt, ein Leben in solchen glücklichen Momenten zu führen, ohne
daß dieses freie Glück einer unmittelbaren Rechtfertigung vor den
Resultaten, der Zukunft, dem gesellschaftlichen Lebensernst bedürfte. So
gesehen, bedürfte die Gruppe für ihre pädagogische Dignität keine andere
Legitimation als die Erfahrung, daß junge Menschen in ihrem Zusammenhang
glücklicher sind als ohne sie. Allerdings gilt auch hier meine gerade
erhobene Forderung nach Spezifizierung.
|a 359|
[010:33] Das alles kann nun nicht heißen, daß die Gruppenforschung
erziehungswissenschaftlich und praktisch-pädagogisch unerheblich wäre, im
Gegenteil: hier ist die Erziehungswissenschaft verpflichtet, durch ihre
Forschungen der Praxis zu helfen. Aber auch ohne eine solche
erfahrungswissenschaftliche Kontrolle und Hilfe gibt es einen guten Grund,
an der Gruppe als pädagogischem Medium festzuhalten: den Wert nämlich, den
wir auf die Herstellung von demokratischen Gruppenprozessen legen, weil sie
Ausdruck und Realisierung einer bestimmten sozialen Gesinnung sind. Diese in
dem Vorhandensein von Gruppen manifestierte Erziehungsabsicht zwingt uns,
sie genau zu erforschen, insbesondere wenn es stimmt, daß die Jugendarbeit
auf dogmatische oder kanonische Inhalte verzichtet und das didaktische
Problem erst im Gruppenprozeß durch die gleichsam prozessuale Artikulierung
der Inhalte entsteht.
Zum Problem der
„geistigen Mitte“
der
Jugendverbände
[010:34] Interpretiere ich das Selbstverständnis der Jugendverbände recht,
dann müssen die bisherigen Erörterungen für Repräsentanten von
Jugendverbänden unbefriedigend geblieben sein. Bei einer bedeutenden Anzahl
der Verbände handelt es sich ja nicht darum, die Inhalte ihrer Arbeit im
Gruppenprozeß erst zu finden. Vielmehr sind diese durchaus vorgegeben als je
bestimmte Deutungen der Stellung des Menschen in der Welt und in der
Gesellschaft. Diese Eigentümlichkeit teilen die Jugendverbände mit den
verschiedenen Erwachsenenverbänden und Institutionen unserer Gesellschaft,
eine Eigentümlichkeit, die darin besteht, daß unterschiedliche Deutungen
solcher Art formuliert werden und einen sozial-institutionellen Niederschlag
finden.
[010:35] Als pädagogische Aussagen treten diese Deutungen aber in
merkwürdigen Gewändern auf. Da wird gesagt, daß pädagogische Arbeit nicht
sinnvoll geschehen könne in einer Scheingemeinschaft (was ist das?), der das
pädagogische Profil und die Möglichkeit zu integrieren fehlen müsse, daß der
Wesenskern des Menschen (was ist das?) angesprochen werden müsse; daß man
der pädagogischen Aufgabe nur gerecht werden könne, wenn man auf ein
umfassendes Menschenbild hin erziehe; daß infolgedessen Jugendverbandsarbeit
nur legitimiert sei durch
„Erkenntnis ihrer pädagogischen
Aufgabe, durch ihr geistiges Konzept und durch das Bild vom Menschen,
das sie anstrebt“
; daß politische Bildung keine Jugendpflege, sondern nur ein Teilaspekt sei, daß die Selbstwerdung des jungen Menschen notwendigerweise verknüpft sei mit religiösen, philosophischen und anthropologischen Leitbildvorstellungen, ein Sachverhalt, der von der existenzialistischen Mode verschleiert werde usw.
[010:36] In solchen Formulierungen geschieht etwas Merkwürdiges, wenn auch
Verständliches: Aus dem totalen Anspruch von Deutungen der menschlichen
Existenz werden pädagogisch angeblich allgemein
geltende Konsequenzen deduziert. Das ist ein ideologiekritisch zwar
erklärbarer Akt, nur hat er leider mit der pädagogischen Realität wenig zu
tun. Zwar ist es legitim, daß einzelne Gruppen innerhalb unserer
Gesellschaft ihre Deutung zur entscheidenden Grundlage auch ihrer Erziehung
in |a 360|allen diesen Bereichen wählen. Die entsprechenden
Aussagen müssen dann aber auch gleichsam system-immanent bleiben; tun sie
das nicht, werden sie ideologisch im strengen Sinne dieses Wortes: Sie
verschleiern – vielleicht den Autoren unbewußt –, daß ein gesellschaftlich
partikulares Interesse nicht nur mit dem subjektiven Anspruch auf Ausbreitung ihrer Aussagen in Richtung einer
allgemeinen Geltung auftritt – dagegen ist nichts einzuwenden –, sondern
diese als fraglos objektiv geltend pseudowissenschaftlich formuliert.
[010:37] So haben die den Verbänden vorgegebenen Inhalte in der Regel
zweierlei Sinn: 1. Sie artikulieren das partikulare gesellschaftliche
Interesse eines Verbandes, einer Kirche, einer Partei; 2. Sie artikulieren den vermeintlichen Bildungssinn ebendieser
Interessen, als einer Interpretation dessen, was als menschenwürdiges Dasein
gelten soll.
[010:38] Ich behaupte nun, daß die pädagogische Legitimation eines
Jugendverbandes nicht auf dem zweiten Sinn seiner Inhalte beruhen kann,
obwohl seine Vertreter subjektiv dieses Gefühl durchaus haben mögen
(wahrscheinlich müssen sie es haben, wenn ihr pädagogisches Selbstwertgefühl
daran hängt). Mit anderen Worten: die sogenannte
„geistige
Mitte“
eines Jugendverbandes und der Jugendarbeit überhaupt ist
entbehrlich, sofern sie über das hinausgeht, was ich den aufgeklärten,
kritischen und darin mündigen Bürger nennen möchte. Die Jugendverbandsarbeit
braucht deshalb keinen pädagogisch-weltanschaulichen Totalanspruch an ihre
Mitglieder und in ihrer Arbeit zu machen, mit dem sie ohnehin – wenn ich
dieses kritische Bild verwenden darf – so aussieht wie ein Kind, das auf den
Schultern seines Vaters auf seine Größe stolz ist. Auch die Schule ist nicht
durch einen solchen Anspruch legitimiert, auch in ihr geht es, den Präambeln
mancher Bildungspläne zum Trotz, nicht um
„Wesenskerne“
der jungen Generation, sondern um gesellschaftlich vorformulierte Aufgaben,
um die Vorbereitung auf präzisierbare soziale Leistungen, wie Kenntnis von Wort und Schrift, tradierbares Wissen, Kenntnis
der Hauptdaten unserer Welt, geht es um das Lernen. Ebenso liegt die
Rechtfertigung der Jugendarbeit in bestimmbaren Erziehungsaufgaben, deren
Bewältigung unsere Gesellschaft einem menschenwürdigen Heranwachsen schuldig
ist: die Ermöglichung einer jugendgemäßen Praxis der Selbstbestimmung, eine
Einführung in die kritischen Praktiken moderner Sozialgestaltung, ein
erziehender Umgang mit den Informationsmassen und -medien moderner
Öffentlichkeit, Selbstaufklärung, Mitbestimmung, soziales Lernen.
Die Bildungschance der Jugendverbandsarbeit
[010:39] Wäre dies das letzte Wort, dann wären die Jugendverbände in der
Tat nichts anderes als Organisatoren von Jugendarbeit. Die Tatsache, daß es
außer der behördlichen auch private Jugendarbeit gibt, wäre dann gleichsam
zufällig. Das aber würde weder mit dem Selbstverständnis der Jugendverbände
zu vereinbaren noch zutreffend sein. Denn: das Engagement macht die
Eigentümlichkeit der Jugendverbandsarbeit aus; daß
es in ihr stark binnenkonsolidierte Gruppen geben |a 361|müsse, ist demgegenüber ein sekundäres Merkmal. Dieses Engagement nun
enthält, wie mir scheint, eine spezifische Bildungschance, sofern dieses
Engagement als partikulares gesellschaftliches Interesse, als politische
oder religiöse Entscheidung erkennbar bleibt. Nirgends sonst als im
Jugendverband haben die Jugendlichen die Möglichkeit, in einer ihnen
anschaulichen und übersehbaren Weise aktiv am Streit der Parteiungen
teilzunehmen, den Sinn entschiedener Positionen zu erfahren, die
Leistungsfähigkeit der Identifizierung mit gesellschaftlich relevanten
Gruppen zu erproben.
[010:40] Darin scheint mir aber nicht nur die Bildungschance der Verbände
zu liegen, sondern auch ihre besondere Funktion im Ganzen der Jugendarbeit.
Es würde eine Verkürzung ihres Bildungsauftrages bedeuten, wenn sie sich dem
weiteren Feld der Jugendarbeit fernhielten, da gerade sie imstande sind, ihr
jene spannungsreiche pluralistische Struktur zu geben, die als Medium der
Bildung heute unerläßlich ist. Je größer allerdings ihre Mitgliederzahlen
werden, um so mehr ist zu vermuten, daß sie im Bewußtsein der jungen
Menschen als konkret parteinehmende Instanzen verschwinden und sich dort als
totale Erziehungsinstanzen etablieren, also genau in jene pädagogische
Ideologiebildung verfallen, die ich zu kritisieren versuchte.
[010:41] Aus diesem Grunde scheint mir die wesentlichste Aufgabe der
Jugendverbände darin zu bestehen, Träger allgemeiner Jugendarbeit zu sein,
also gerade nicht die Kultivierung der in-group, sondern die Unterhaltung von Einrichtungen, in
denen – weil alle sie unverbindlich benutzen können – der Verband sich als
in besonderer Weise engagiert darstellen kann. Der pädagogische Sinn, der
darin läge, würde verspielt, wenn solche Arbeit hauptsächlich als
„Vorraum vor dem Gruppenleben“
, der
„den Zugang zu den Gruppen mit größerer
Bindungsdichte“
erleichtert
(St. Martin
), betrachtet würde. Erst die ständige Bewährung in der
Selbstdarstellung und die dauerhaft kritische Auseinandersetzung in dem
beweglichen Feld solcher Einrichtungen pädagogischer Geselligkeit würde den
Bildungssinn der Jugendverbandsarbeit glaubhaft offenbaren können. Das
vorgefundene Feld der Jugendarbeit würde von den Verbänden wirklich
durchsetzt und strukturiert. Ihre Zahl würde vermutlich abnehmen, die Arbeit
mancher Verbände würde sich vielleicht nur unwesentlich von der behördlichen
Jugendarbeit unterscheiden.
[010:42] Ihre pädagogische Aufgabe würde damit zweifellos schwieriger sein,
aber es wäre eine radikale Probe auf die pädagogische Tragfähigkeit dieses
Selbstverständnisses. Das von mir angesprochene didaktische Problem der
Jugendarbeit würde sich dialektisch zuspitzen: Die verbandsspezifischen
Inhalte müßten vermittelt werden mit denen, die sich aus der Interessenlage
der Jugendlichen und dem Gesellungsprozeß ergeben, sie müßten als Angebot in
den leitenden Teams repräsentiert werden, und erst dadurch, daß sie
beständiger Kritik standhalten, würden sie glaubhaft werden. Das erfordert
Jugendleiter und Helfer, die sich nicht nur durch ihren Glauben, ihre
Weltanschauung, ihre politische Parteinahme, sondern auch durch pädagogische
Qualifikation profiliert auszeichnen müßten, es erforderte die |a 362|einsichtige Darstellung einer Möglichkeit, in
unserer Welt menschenwürdig zu existieren.
[010:43] Ich fasse zusammen: Nicht der pädagogische Bezug von einem
Erzieher zu einem zu Erziehenden ist der Kern der Jugendverbandsarbeit,
sondern die wohlüberlegte pädagogische Struktur, die
ihr gegeben wird; neben der Jugendgruppe ist es vor allem der Jugendverband
als Institution, als Interessenverband, von dem zu vermuten ist, daß ihm in unserer
gesellschaftlichen Lage entscheidende Bildungswirkungen innewohnen; nicht
„Führungsbegabung“
,
„Führungsberufung“
und persönliches Charisma sollten den Jugendleiter
auszeichnen, sondern entschiedenes politisches oder konfessionelles
Engagement und kritische Rationalität im Hinblick
auf seine Position, seine Funktion und seine Wirkungsmöglichkeiten; die
Chance, ein relativ eigenständiger Faktor in unserem Bildungswesen zu sein,
liegt nicht darin, daß die Jugendverbände eine
„staatstragende Gesellungskraft“
entwickeln, sondern darin, daß sie
ein kritisches Potential sein können; infolgedessen
liegt ihr Wert für die Bildung nicht darin, daß in ihnen die Pflege von
Erlebnisformen einen entscheidenden Platz innehat, sondern darin, daß sie
rationale Formen der Auseinandersetzung junger
Menschen mit sich selbst und mit ihrer gesellschaftlichen Lage pflegen
können.
[010:44] Damit wird die Jugendverbandsarbeit zu einem Moment in der
pluralen, vielsinnigen Struktur moderner Jugendarbeit. Mehr noch: Der
Jugendverband als Träger von Jugendarbeit würde durch sein Engagement
einerseits und die vorbehaltlose Offenheit seiner Institutionen – offen auch
für den, der sich nicht engagieren will – andererseits die dialektische
Bewegung wachhalten. Jeder Versuch, diese Dialektik zugunsten einer
einsinnig konzipierten Erziehungsarbeit zu vernichten, würde die
Erziehungsarbeit der Jugendverbände auf die Dauer zu einem für die Bildung
irrelevanten pädagogischen Artefakt machen. Integration mag dann freilich
noch gelingen. Alles, was aber doch geleistet werden sollte, die Bildung der
jungen Menschen, mißlingt im Prozeß ideologischer und sozialer Anpassung,
der den gesellschaftlichen Zwang noch erhöht, gegen die die Jugendverbände
ursprünglich angetreten sind. Deshalb möchte ich formulieren: Nicht
Integration ist die wesentliche Aufgabe der Jugendverbände, sondern: in der
Jugendarbeit ein spannungs- und konfliktreiches Erziehungsfeld
hervorzubringen und zu erhalten, das durch seine Struktur die heranwachsende
Generation zu distanzierter Kritik und entschiedenem Engagement ermuntert
und sie darin anleitet; das den jungen Menschen als einen entläßt, der
imstande ist, in den Prozeß gesellschaftlicher Veränderung selbst
einzugreifen; das in diesem Sinne nicht nur Erziehungsarbeitet leistet, sondern auch Bildung ermöglicht.