Die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Jugendverbände im Blickfeld der Erziehungswissenschaft [Textfassung a]
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Die Bildungs- und Erziehungsarbeit der Jugendverbände im Blickfeld der Erziehungswissenschaft

[010:1] Dem Andenken Erich Wenigers
[010:2] Die Erziehungswissenschaft hat – von den Arbeiten Herman Nohls, Aloys Fischers und Erich Wenigers abgesehen – kaum nennenswerte Notiz von den Jugendverbänden und ihrer Erziehungsarbeit genommen. Die Ursachen dafür sind nicht nur bei der Erziehungswissenschaft zu suchen, sondern auch bei den Jugendverbänden selbst, die sich lange Zeit ausdrücklich als ein außerpädagogisches Feld der Lebenswirklichkeit des jungen Menschen verstanden und sich – freilich verständlicherweise – gegen den Zugriff durch die Pädagogik wehrten, die ihnen als Repräsentant der Erwachsenengeneration erschien.
[010:3] Die Pädagogik aber als Wissenschaft von der Erziehung war einerseits vollauf – jedenfalls bis 1933 – damit beschäftigt, die Fülle neuer geschichtlicher Daten, |a 350|Einrichtungen, Methoden, Theorien, Meinungen, die die pädagogische Reformbewegung hervorgebracht hatte, zur Kenntnis zu nehmen und zu ordnen; das pädagogische Gesamtwerk Herman Nohls ist dafür vielleicht das eindrucksvollste Beispiel; andererseits war sie so vorwiegend an der Schule orientiert, daß alles andere als Randproblem erscheinen mußte. Schließlich verdankt sie ja auch den Problemen des Unterrichts und der Konsolidierung des Lehrerstandes weitgehend ihre Entwicklung zur Wissenschaft. Deshalb blieben die außerschulischen pädagogischen Probleme in der Regel auch außerhalb der Erziehungswissenschaft, als Erfahrungsberichte, Programme, Versuche, Meinungen, soweit sich nicht andere Wissenschaften ihrer annahmen. Merkwürdig ist, daß die große Bedeutung, die der Jugendbewegung in der pädagogischen Geschichtsschreibung eingeräumt wird, ohne Folgen für das aktuelle Verhältnis der Erziehungswissenschaft zu ihren Nachfahren geblieben ist.
[010:4] Es wäre nun – so scheint mir – wenig interessant, die verstreuten Ansätze von Berührungspunkten und erziehungswissenschaftlichen Reflexionen über die Bildungsarbeit der Jugendverbände von Schleiermacher bis in unsere Gegenwart zusammenzutragen. Ich will statt dessen versuchen, einige Grundprobleme und Grundbegriffe einer pädagogischen Theorie der Jugendverbandsarbeit zu erörtern und in dieser Absicht die folgenden Themen behandeln.

Der erziehungswissenschaftliche Ort der Jugendverbandsarbeit

[010:5] Eine wissenschaftliche Theorie der Jugendverbandsarbeit existiert nicht. Diese, zunächst vielleicht allzu ausschließlich klingende Formulierung wird verständlich, wenn wir die Aussagen betrachten, die hier in Frage kämen. Solche Aussagen finden sich heute im Bereich der Soziologie und der aus der Arbeit der Jugendverbände selbst stammenden Reflexionen und Materialsammlungen. Sehen wir von der Untersuchung Wurzbachers über die Christliche Pfadfinderschaft Deutschlands ab, so besteht der Beitrag der Soziologie im wesentlichen darin, eine Reihe von bedingenden Faktoren der Jugendverbandsarbeit ins Bewußtsein gehoben zu haben, ohne dabei die Sache selbst theoretisch zugänglich zu machen. Dabei ist nicht einmal eine so entscheidende Frage, wie die nach der Bedürfnislage der jungen Generation heute, zureichend geklärt. Blättert man andererseits die Jahrgänge der Zeitschrift
deutsche jugend
durch, so ergibt sich zwar eine Fülle von Aspekten, Anregungen und Materialien, der Leser findet sich im ganzen aber vor einer eigentümlichen Schwierigkeit: Alle Aussagen zum Thema lassen sich nämlich in drei Klassen zusammenfassen. Die eine Klasse befaßt sich mit gruppentheoretischen Problemen und versucht, die in der Soziologie und der Sozialpsychologie erarbeiteten Erklärungsmodelle auf die Jugendverbandsarbeit zu übertragen. Die zweite Klasse nimmt die modernen jugendkundlichen Untersuchungen zum Ausgangspunkt einer Erörterung der Bedürfnislage der jungen Generation und versucht auch hier, eine verbandspädagogische Anwendbarkeit nachzuweisen oder durch Transposition herzustellen. Die dritte Gruppe schließlich bemüht sich um das die Verbandsarbeit charakterisierende Engagement, um die sogenannte
gei|a 351|stige Mitte
, um die verbindlichen Bildungsgehalte also, die nun aber nicht als das partikulare gesellschaftliche Interesse eines Verbandes, sondern gleichsam als die prima causa der Erziehungs- und Bildungsarbeit eines Jugendverbandes behauptet werden. Bezeichnenderweise setzt kaum eine der Aussagen-Klassen bei der Erziehungswirklichkeit selbst ein, sondern versucht Begründungen, Rechtfertigungen oder klärende Analysen gleichsam von den Rändern her, von der Gruppentheorie, der Jugendkunde, den
Weltanschauungen
. Nahezu alle Aussagen dieser drei Klassen sind nicht spezifisch für eine Pädagogik der Jugendverbandsarbeit; sie sind allgemeiner Natur und können in jedem pädagogischen Zusammenhang auftauchen. Damit zeigt sich, in dem Dilemma der theoretischen Selbstklärung der Jugendverbandsarbeit, was auch von der Erziehungswissenschaft her zu konstatieren wäre: Nicht nur gibt es keine Theorie der Jugendverbandsarbeit, sondern es kann offenbar sinnvollerweise gar keine geben; sie ist überdies auch nicht wünschenswert, da sie notwendig entweder ein Kompendium theoretischer Anleihen aus verschiedenen Gebieten oder eine nur scheinbar erziehungswissenschaftliche Formulierung partikularer Verbandsinteressen sein würde. Glücklicherweise nun zeigt sich in den vorliegenden theoretischen Versuchen – und das kommt dem Anliegen der Erziehungswissenschaft sehr entgegen – eine in den Formulierungen implizierte Tendenz, über die Grenzen einer Jugendverbandspädagogik hinauszugehen. Diese Tendenz wird nun bisweilen auch als Absicht deutlich, was um so nachdrücklicher zum Bewußtsein bringt, daß es sich hier nicht um die Willkür der Autoren, sondern um ein von der Sache her gefordertes Prinzip handelt.
[010:6] Meine erste These lautet daher: Eine Theorie der Jugendverbände kann nicht separat konzipiert werden, sondern sie gehört in den Zusammenhang der sozialpädagogischen Theorie, Jugendverbandsarbeit als Praxis gehört in den Zusammenhang der außerschulischen Jugendbildung, der Jugendhilfe.
[010:7] Indessen: Die Erziehungswissenschaft hat nicht nach dieser These verfahren, jedenfalls dort nicht, wo sie den hier in Frage stehenden Bereich jugendlichen Lebens nur pädagogisch negativ bestimmte, in dem Begriff des
erziehungsfreien Raumes
. Diese Formulierung legt nahe, daß es sich hier um ein Randgebiet handelt, das der erziehungswissenschaftlichen Erörterung nur mit Zurückhaltung bedarf, daß es sich um einen Gegenstand handelt, für den – weil nicht mehr von Erwachsenen mit gesellschaftlich-ansprüchlichem Erziehungsauftrag strukturiert – die Erziehungswissenschaft nicht eigentlich mehr zuständig ist. Diese Meinung der Erziehungswissenschaft ist bodenlos geworden, seit die Jugendverbände in den Thesen von St. Martin eine Eigendeutung vorlegten, mit der sie sich ganz entschieden selbst als einen Gegenstand der Erziehungswissenschaft hervorgebracht haben.

Begriff von Erziehung

[010:8] Das so lange ausgebliebene Gespräch zwischen Jugendverbänden und Erziehungswissenschaft hat – so scheint mir – einen entscheidenden Grund, der an dieser Stelle zu nennen ist. Als die Erziehungswissenschaft sich zu formulieren begann, bahnte sich schon eine Praxis des gesteuerten Heranwachsens der jungen Generation |a 352|an, die mit dem Erziehungsbegriff, den die Erziehungswissenschaft voraussetzte nicht in Einklang zu bringen war. Die Erziehungswissenschaft verengte – infolge dieses Erziehungsbegriffs – ihre Aufmerksamkeit auf die intentionalen persönlichen Akte von Erwachsenen. Was nicht in den Rahmen dieser Charakterisierung paßte, war entweder nicht pädagogisch oder blieb als funktionale Erziehung einer recht vagen Beschreibung unter der Leitung eines unglücklich gewählten Begriffs vorbehalten. Das war der tiefere Grund dafür, daß als erziehungswissenschaftliche Gegenstände nur Familie und Schule, allenfalls noch Maßnahmen der Verwahrlosten- und Kriminalpädagogik in Betracht kamen.
[010:9] Meine zweite These lautet daher: Im Bereich der außerschulischen Jugendbildung (Jugendarbeit) und darüber hinaus im gesamten Bereich der Jugendhilfe hat die Praxis einen neuen Begriff der Erziehung hervorgebracht, der die Erziehungswissenschaft zwingt, ihr Kategoriengefüge zu erweitern und zu verändern. Danach stimmt es weder, wenn die Jugendverbände von sich behaupten, keine Pädagogik zu betreiben, noch stimmt die Meinung der Erziehungswissenschaft, diese Arbeit geschehe in einem erziehungsfreien Raum, nur weil pädagogisches Verhalten eines bestimmten Typs in ihm nicht anzutreffen ist. Von dem Begriff der Erziehung hängt es also ab, wie weit die Erziehungswissenschaft imstande ist, das pädagogische Feld der Jugendarbeit mit Gewinn zu behandeln.
[010:10] Infolgedessen sollten mit dem Begriff Erziehung alle die Veränderung der Person betreffenden Wirkungen, soweit diese Veränderung beabsichtigt war, bezeichnet werden. Das ist keine willkürliche Setzung der Theorie, sondern die nachträgliche Formulierung einer bereits wirklichen gesellschaftlichen Praxis, der Begriff der Sache.
[010:11] Die Praxis dieses Erziehungsbegriffs zeigt sich an den verschiedenen Stellen der Erziehungswirklichkeit. Für unseren Zusammenhang ist es besonders interessant, daß er schon frühzeitig in der Arbeit der Jugendverbände und Jugendbünde zum Vorschein kam. Die These, Jugend solle von Jugend geführt werden, ist unter diesem Aspekt so unsinnig nicht, wie es heute manchen Theoretikern und Praktikern erscheinen mag. Sie ist die polemische Formulierung, in der sich – freilich kaum reflektiert – der neue Erziehungsbegriff ankündigte. Im Sinne dieses Begriffs nämlich formieren die Jugendverbände ein pädagogisches, d. h. auf Veränderung der jugendlichen Personen gerichtetes Erziehungsfeld, von dem man mit Recht annehmen kann, daß es durch seine Struktur den jungen Menschen erzieht, in der der Erwachsene als einzelner zunächst überhaupt keine, und heute auch nur eine eher zurückhaltende Rolle zu spielen hat. Denn das ist – selbst wenn die Gültigkeit des Postulats, Jugend solle durch Jugend geführt werden, verworfen wird – eine Eigentümlichkeit moderner Jugendarbeit, daß in ihr der Erwachsene als unmittelbarer Erzieher kaum hervortritt. Seine pädagogische Leistung scheint mir im wesentlichen darin zu bestehen, die pädagogische Fruchtbarkeit des Arrangements, den Wirkungsgrad des Feldes zu kontrollieren; seine unmittelbare pädagogische Tätigkeit ist vom Typ der Beratung, eine Form von Erziehungs|a 353|tätigkeit, in der sich der neue Erziehungsbegriff bereits als Methode niedergeschlagen hat.
[010:12] Es lohnte sich, an dieser Stelle ins einzelne zu gehen und die Realität des Begriffs nachzuweisen, etwa in der Pädagogik der
Offenen Tür
, der Gruppenpädagogik, der Einrichtung von Kinderspielplätzen, der pädagogischen Theorie der Geselligkeit usw. Besonders in der letzten, das sei noch angefügt, zeigt sich zugleich ein größerer geschichtlicher Zusammenhang. Zu der Zeit nämlich, als die deutsche Erziehungstheorie sich anschickte, demokratische Elemente in sich aufzunehmen und die gesellschaftliche Mündigkeit des emanzipierten Bürgers auch im Erziehungsgang vom Dogmatismus zu befreien, in der Bildungstheorie Humboldts und Schleiermachers, spielte die Geselligkeit eine besondere pädagogische Beachtung, wie – in Verbindung damit – die Selbsterziehung. Humboldts Theorie geht sogar ziemlich rein von dieser aus, während Schleiermacher, vielleicht realistischer, in das pädagogische System zum ersten Male die freie Jugendbildung ausdrücklich mit aufnahm. Es ist gewiß nicht zufällig, daß diese Ansätze in der deutschen Geschichte kaum zum Zuge kamen.

Der Rahmen einer Theorie der Jugendarbeit

[010:13] Ich sagte, daß theoretische Äußerungen zum Problem der Jugendverbandsarbeit in den Zusammenhang einer Theorie der allgemeinen Jugendarbeit gehörten und nur dort sinnvoll seien. Um diese These verständlich zu machen, möchte ich einen Umriß der Theorie der Jugendarbeit versuchen, in dem ich allerdings nicht mehr als einige versuchsweise ordnende Begriffe bieten und die Problemlage skizzieren kann.
[010:14] Man kann konstatieren: Es gibt außer Familie, Schule und Beruf ein weiteres institutionell gegliedertes Erziehungsfeld: die Jugendarbeit oder, wie Schleiermacher mit einem glücklicher gewählten Wort sagen würde: die freie Jugendbildung.
[010:15] Stellt man sich die Jugendarbeit, oder auch im engeren Sinne die Jugendverbandsarbeit, auf einer Skala aller sozialpädagogischen Erziehungsfelder und Institutionen eingetragen vor, und denkt man sich die Verbandsarbeit in der Mitte eingetragen, dann lassen sich zwei Extreme nennen, zwischen denen sie geschieht. In der einen Richtung (nach links) verfliegt die erzieherische Strenge des Feldes etwa im Sinne informeller Strukturen bis hin zu ungebundenen Gesellungen und freien Tätigkeiten, ohne Träger und Institutionen. In der anderen Richtung (nach rechts) wären diejenigen Erziehungsfelder einzutragen, in denen sich das Interesse der Gesellschaft an integrierten Bürgern zunehmend nachdrücklicher dokumentiert; am Ende dieser Reihe könnte zum Beispiel der Jugendstrafvollzug stehen. (Ich gestehe, daß mir die politischen Assoziationen, die vielleicht bei dieser Skala auftauchen, nicht unsympathisch sind.) Aus dieser Anordnung folgt – oder besser: in ihr ist vorausgesetzt –, daß der Bildungssinn der Jugendarbeit sich aus ihrer Stellung |a 354|zwischen den Extremen und aus ihrer Tendenz zu den
informellen
Feldern ergibt.
[010:16] Dieser Sinn besteht – wenn ich recht sehe – darin, daß alle Maßnahmen der Jugendarbeit auf die gesellschaftliche Praxis eines mündigen Menschen in einer aufgeklärten, demokratischen Gesellschaft hin geordnet sind. Dieser Sinn verflüchtigt sich zum Konturlosen in Richtung auf die ungebundenen Formen des Jugendlebens; er wird reduziert und eingeschränkt in Richtung auf die rechtlich sanktionierten Maßnahmen der Jugendfürsorge und der Kriminalpädagogik. In der Jugendarbeit kann er sich voll entfalten. Allerdings ist er nichts der Jugendarbeit allein Eigentümliches. Mindestens der Bildungsauftrag der Schulen wird auch von ihm konstituiert. Indessen kann er dort – das jedenfalls ist meine skeptische Vermutung – nur in eingeschränktem Maße realisiert werden: Die in die Schule investierten Integrations-Interessen der Gesellschaft sind zu mächtig und ihr didaktischer Auftrag zu dominant, als daß eine Praxis kritischer Subjekte in entscheidendem Umfang verwirklicht werden könnte. Das aber ist in einer Jugendarbeit als freier Jugendbildung der Fall, und nur darin zeigt sich ihre spezifische Leistung: das Experimentieren mit der Mündigkeit eines kritisch-demokratischen Bürgers. Ihr Bildungssinn ist deshalb auch fundamental politisch.
[010:17] Es müssen nun Begriffe gefunden werden, die das Feld, in dem dieser Bildungssinn realisiert wird oder realisiert werden soll, ordnen, es erziehungswissenschaftlich aufschließen und damit detaillierte Analysen ermöglichen. Wir können zu dem Zweck auf die vielen vorliegenden Studien zurückgreifen, ohne sie hier im einzelnen zu nennen.
[010:18] Die folgenden Aspekte der Jugendarbeit scheinen sich bisher als strukturbestimmend erwiesen zu haben:
  1. 1.
    [010:19] Angesichts der hohen Anforderungen, die in unserer Gesellschaft an die Soziabilität ihrer Mitglieder gestellt werden, begreift und praktiziert die Jugendarbeit ihre Tätigkeit als freie und vielseitige Kommunikation (Wolfgang Müller).
  2. 2.
    [010:20] Die Kommunikation bleibt nicht formal, sondern wird mit Inhalten aus unserer Welt wie auch mit den subjektiven Inhalten aus der Erfahrungswelt der jungen Menschen angereichert: Jugendarbeit ist Information.
  3. 3.
    [010:21] Die Information, dadurch daß sie einerseits im kommunikativen Prozeß bewegt und reflektiert wird und andererseits Information zur unmittelbaren Lebenspraxis ist, wird zur Analyse, zur Aufklärung des jungen Menschen über die Bedingungen seiner gesellschaftlichen Existenz (Helmut Kentler).
  4. 4.
    [010:22] Die allgemeinste formale Kategorie, mit der sich die erzieherischen Probleme in der Jugendarbeit fassen lassen, ist der Stil. Alle Einheiten der Jugendarbeit – Gruppen, Klubs, Freizeitheime, Gemeinschaftswerke, Verbände usw. – sind nicht nur organisatorische, sondern – mit erziehungswissenschaftlichem Interesse betrachtet – immer auch stilistische Einheiten. Mögen in den bestimmten Stil einer Gruppe auch politische, weltanschauliche, religiöse Entscheidungen eingegangen |a 355|sein: zunächst stellt er sich immer als eine bestimmte Form des bestehenden Kommunikationsgesetzes dar, die für sich selbst Jugendliche anzieht oder fernhält, bestimmte Erziehungswirkungen befördert, andere verhindert, beweglich oder starr, guter oder schlechter Stil ist. Über dieses für die Jugendarbeit entscheidende Phänomen wissen wir leider noch so gut wie nichts.
[010:23] Im Anschluß an diese Skizze der strukturbestimmenden Grundkategorien wäre nun das anzuschließen, was schon verschiedentlich unter der Überschrift
Faktoren-Analyse der Jugendarbeit
versucht wurde. Statt dessen will ich noch einiges zum Methodenproblem sagen. Für alle Methodenfragen ist ausschlaggebend, daß Jugendarbeit einerseits im Medium der Geselligkeit geschieht, andererseits ausschließlich mit der Freiwilligkeit der Teilnehmer rechnen muß. Beide Merkmale gelten – wenn ich es recht sehe – in unserem Erziehungssystem ausschließlich für die Jugendarbeit; sie sind in einer Theorie der Jugendarbeit deshalb in besonderer Weise zu beachten. Alle methodischen Fragen werden im Hinblick auf diese beiden Phänomene beantwort, oder aber man wird sich, wo das möglicherweise noch nicht geschieht, auf sie einstellen müssen, wenn Jugendarbeit das bleiben soll, als was sie konzipiert wurde.
[010:24] Durch die fundamentale Funktion, die der Freiwilligkeit eingeräumt werden muß, gewinnen einige Probleme eine besondere Bedeutung, die in anderen Erziehungsbereichen nur taktische Berücksichtigung zu finden brauchen, während sie in der Jugendarbeit grundlegend für die pädagogische Strategie sind: Bedürfnisse und Interessen. Soll die Jugendarbeit bei den Bedürfnissen oder bei den Interessen ihrer Teilnehmer einsetzen? Soll sie Interesse wecken für einen Kanon vorgegebener Inhalte, oder soll sie sich lediglich an das halten, was die Jugendlichen an eigenem Interesse einbringen, bzw. was im geselligen Prozeß der Kommunikation sich allmählich als Interesse in Worten formuliert, artikuliert? Soll sie auf die Bedürfnisse Rücksicht nehmen, die konstatierbaren Bedürfnisse befriedigen? Gibt es unter den Bedürfnissen eine sinnvolle Rangreihe? Gibt es sogenannte eigentliche und uneigentliche Bedürfnisse? Wie sind die sekundären, durch den zivilisatorischen Lebensstil hervorgebrachten Bedürfnisse zu behandeln? Ich deute hier nur die Fragen an, um zu zeigen, wie grundlegend ihre Beantwortung für die Jugendarbeit sein müßte und wie weit wir noch von ihrer Beantwortung entfernt sind. Eine pädagogische Bedürfnis- und Interessenforschung gibt es meines Wissens noch nicht.
[010:25] Nach der Erörterung der Phänomene Bedürfnis und Interesse deutet sich ein dritter Problemkreis einer Theorie der Jugendarbeit an: die Didaktik. Didaktik wird gewöhnlich als ein Reservat der Schule betrachtet; jedenfalls gibt es bisher nur schulbezogene didaktische Theorien. Über die Gründe dafür brauche ich hier nichts zu sagen. Didaktik ist die Theorie von den Bildungsinhalten. So wie es keinen Erziehungsvorgang gibt, in dem nicht Inhalte eine entscheidende Rolle spielen, so kann es auch keine Theorie der Jugendarbeit geben, ohne daß in ihr didaktische Überlegungen einen wichtigen Platz einnähmen. Im Vergleich mit der Schule fällt aber sogleich eines auf: Die auf den Schulunterricht bezogene Didaktik hat es unter |a 356|anderem mit der Herstellung eines Kanons von Wissensgegenständen zu tun und mit den Kriterien zur Herstellung dieses Kanons. Das scheint in der Jugendarbeit prinzipiell anders zu sein (über die besonderen didaktischen Probleme inhaltlich festgelegter Jugendverbände werde ich noch einiges sagen). Hier entstehen die didaktischen Probleme gerade dadurch, daß ein verbindlich zu erlernender Kanon fehlt. Die Inhalte sind nicht vorgegeben, um dann an den Jugendlichen herangetragen zu werden, deren Interesse dafür zu gewinnen ist. Jedenfalls scheiden sich an der Beantwortung dieser Frage zwei prinzipiell anders geartete Konzeptionen. Vielmehr entstehen die Inhalte erst im Prozeß der freien Geselligkeit, oder sie werden in diesem Prozeß durch das Miteinander der Jugendlichen artikuliert. Die Jugendarbeit bringt ihre Bildungsinhalte im Bildungsprozeß – der hier ein Gesellungsprozeß ist – erst hervor. Es liegt auf der Hand, daß dies für den Jugendleiter eine Reihe schwieriger Anforderungen bedeutet, und ich bin, nicht zuletzt aus diesem Grund, der Meinung, daß der hauptamtliche Jugendleiter (Jugendpfleger) oder wie man ihn nennen will, erstens unersetzlich ist und zweitens eine dem Lehrer gleichzustellende Erziehungsaufgabe zu lösen hat.
[010:26] Die kurze Skizze eines Umrisses der Theorie der Jugendarbeit breche ich hiermit ab. Jugendverbandsarbeit – das war meine Ausgangsthese – müßte sich dieser Skizze einordnen lassen, das heißt alle Probleme der Jugendverbandsarbeit müßten hier also aufgehoben werden können. Das besondere Profil dieser Arbeit aber verlangt, daß ich mich noch bei einer charakteristischen Frage aufhalte:

Zur pädagogischen Funktion der Jugendgruppe

[010:27] Aus dem bisher Gesagten wird man nicht folgern wollen, daß ich die Bedeutung der Gruppe gering einschätze, selbst wenn sie als Kategorie in dem theoretischen Umriß nicht aufgetaucht ist. Sie scheint in dem ganzen Komplex der Jugendarbeit der stabilste Faktor zu sein, denn seit ihren Anfängen hat es wohl nie Jugendarbeit ohne Gruppen gegeben. Wenn nun seit einiger Zeit – teils durch die Entwicklung der Praxis außerhalb der Jugendverbände, teils durch die Theorien der Soziologie und Sozialpsychologie – viel von Unterscheidungen die Rede ist, besonders jener von formellen und informellen Gruppen, so muß doch wohl gesagt werden, daß sowohl die ältere Tradition der formellen wie die neue Praxis der informellen Gruppen im Hinblick auf ihre präzisierbaren pädagogischen Wirkungen wenig mehr für sich haben als die Plausibilität. Tatsächlich wissen wir über die pädagogische Relevanz von Gruppen und Gruppenprozessen weniger, als es den Anschein hat. Die in theoretischer Absicht entwickelten Gruppentheorien geben für die Erziehungspraxis – bisher jedenfalls – wohl Ordnungsgesichtspunkte, aber nur wenige Argumente her. Mir sind kaum Untersuchungen bekannt, in denen irgendeine pädagogische Effektivität nachgewiesen wäre – dergestalt, daß irgend jemand mit wissenschaftlichem Recht etwa den besonderen pädagogischen Wert der geschlossenen, formellen Jugendgruppe behaupten könnte.
[010:28] Einige Zitate aus den Thesen von St. Martin mögen meine Skepsis noch konkretisieren. Dort steht:
Das pädagogische Wirken der Jugendverbände wird vor allem |a 357|dadurch gekennzeichnet, daß in diesen ihren Gemeinschaften durch und auf Gegenseitigkeit hin erzogen wird.
Dieser Satz ist rein beschreibend, er enthält erkennbar keine Wertung, in ihm ist nur gesagt, auf welche Weise – eben auf Gegenseitigkeit – etwas abläuft, was wir Erziehung nennen. Ob wir diese Verlaufsstruktur für sinnvoll halten oder nicht, ob ein gewünschtes Ergebnis damit erzielt wird oder nicht, bleibt offen. Das ist exakt und wird von meiner Skepsis nicht berührt. Anders steht es indessen mit den folgenden Sätzen:
In diesen Gruppen (der Jugendverbände) werden menschliche Tugenden und Wertvorstellungen vermittelt. Darüber hinaus trägt schon die Bildungsarbeit der kleinen Gemeinschaften dazu bei, den Aufbau der Großgesellschaft überschaubar zu machen
; ferner:
Die Gruppe, soweit sie nicht romantisch, emotional oder ideologisch verstanden wird, hat sich als überschaubare, auf längere Sicht bindende soziologische (gemeint ist wohl
soziale
) Einheit in den Jugendverbänden erhalten und bewährt. Sie ermöglicht am relativ aussichtsreichsten den Erfolg der Erziehungs- und Bildungsarbeit.
Es seien mir dazu einige kritische Fragen gestattet. Freilich vermitteln auch Jugendgruppen, wie alle sozialen Beziehungen, Tugenden und Wertvorstellungen. Dieses Faktum selbst ist pädagogisch wenig interessant, es ist ein soziologischer Gemeinplatz. Oder soll in dem Satz mehr gesagt werden, als in ihm formuliert ist, etwa: In Jugendgruppen werden Tugenden und Wertvorstellungen wirksamer als andernorts vermittelt? Dann bliebe, selbst bei positiver Beantwortung dieser Frage, immerhin noch offen, welcher Art diese Tugenden und Wertvorstellungen sind, welchen Bezug sie zur ganzen Lebenswirklichkeit des jungen Menschen haben, wie dauerhaft sie sich im Urteilen und Verhalten des einzelnen niederschlagen und wie sie sich im weiteren gesellschaftlichen Lebenszusammenhang bewähren. – Weiter: Wie die Bildungsarbeit in kleinen Gemeinschaften dazu beitragen soll, den großgesellschaftlichen Zusammenhang überschaubar zu machen, vermag ich nicht einzusehen. Beruht dieser Satz auf Erfahrung, dann hätte ich gern gewußt, auf welcher. Drückt er aber nur eine Vermutung aus, dann sollte das kenntlich gemacht und gesagt werden, welche Erfahrungen diese Vermutung nahelegen. Die Thesen von St. Martin sind freilich nicht die richtige Adresse meiner Kritik; in ihnen konnte und brauchte eine solche Differenzierung nicht geleistet werden. Die kritisierten Sätze sind aber symptomatisch. Mir scheint, daß die Untersuchung Wurzbachers über die Christliche Pfadfinderschaft hier viel Verwirrung gestiftet hat, nicht ohne eigene Schuld. Die Untersuchung wurde erklärtermaßen in theoretischer Absicht zur Überprüfung eines bestimmten Begriffssystems bzw. zur Einführung eines neuen, differenzierteren, vorgenommen. Die Untersuchung beweist nichts (und will, trotz der mißverständlichen Thesen am Schluß des Buches, nichts beweisen) über die erzieherische Effektivität einer Jugendverbandsarbeit. Wenn aber wissenschaftliche Vermutungen, die zum Zwecke der Überprüfung formuliert werden, in den praxisbezogenen Äußerungen als Aussagen über wirkliche Sachverhalte wieder auftauchen, dann beweist das unter Umständen das Bedürfnis nach Ideologiebildung bei denen, die so formulieren.
[010:29] Ferner: Was heißt es, wenn gesagt wird, die Gruppe habe sich bewährt? Daß sie sich als wesentlicher Bestandteil der Jugendverbandsarbeit erhalten hat, ist histo|a 358|risch unschwer festzustellen und nicht zu bestreiten. In welcher Hinsicht aber hat sich die Gruppe bewährt? Bewährung schlechthin ist eine Leerstelle. Konkret ist sie nur denkbar im Hinblick auf bestimmte Aufgaben. Wie hat man also die Bewährung der Gruppen gemessen, und welche Bewährung ist gemeint?
[010:30] Schließlich scheint mir der Satz, die Gruppe ermögliche am relativ aussichtsreichsten den Erfolg der Erziehungs- und Bildungsarbeit, völlig inhaltsleer zu sein. Hier wird im Grunde nichts gesagt, aber doch der Anschein erweckt, als werde das Entscheidende gesagt. Abgesehen davon, daß ich nicht weiß, was hier miteinander verglichen wird – die Jugendgruppe mit der Schülergruppe (Klasse), die formelle mit der informellen Gruppe; Gruppen überhaupt mit pädagogischen Verfahren, die ich auf das Zweierverhältnis Erzieher – Zögling beschränke, Gleichaltrigen-Gruppen mit familiären Gruppen? –, muß man fragen, was denn hier als
Erfolg
der Erziehungs- und Bildungsarbeit angesehen werden soll.
[010:31] Mit dieser Polemik soll nun nicht gemeint sein, daß im Hinblick auf die pädagogische Leistungsfähigkeit von Gruppen schlechthin nichts ausgemacht sei, sie soll nur zeigen, daß es der wissenschaftlichen Situation besser entspräche, wenn man in dieser Hinsicht Fragen statt Ergebnisse formulieren würde. Vor allem scheint mir, daß im Hinblick auf die Rolle der Gruppe sowohl in der Jugendverbandsarbeit aus auch in der Pädagogik allgemein genauer differenziert werden müßte. So ist etwa durchaus zuzugeben, daß aus dem Bereich der Gruppenpädagogik oder der
social group work
halbwegs verläßliche Erfahrungen vorliegen, allerdings Erfahrungen mit einem bestimmten Gruppentyp, einem bestimmten Gruppenklima und einem bestimmten Führungsstil. Nur in so eingeschränkter Weise sollten in pädagogischem Zusammenhang Aussagen über die Effektivität von Gruppenerziehung gemacht werden.
[010:32] Bei näherer Betrachtung zeigt sich nun aber, daß der Begriff pädagogischer Effektivität oder auch des pädagogischen Erfolges nicht ohne Schwierigkeiten ist. Die Meßbarkeit des Erfolges einer Methode, eines Stils oder einer Einrichtung ist höchst fragwürdig: der Vielheit kaum zu kontrollierender Faktoren wegen. Der Pädagoge ist gezwungen, unter erfahrungswissenschaftlich relativ ungesicherten Bedingungen zu arbeiten. Unter diesen Umständen ist es sinnvoll, einen Gesichtspunkt ins Feld zu führen, der seit Rousseau und Schleiermacher immer wieder als pädagogisches Kriterium auftaucht und auch in den Bemühungen um eine Theorie der Jugendarbeit diskutiert wird: die Freude am Gegenwärtigen, der erfüllte, der freie glückliche Augenblick. Mir scheint, daß das Recht des Heranwachsenden auf Erziehung das Recht einschließt, ein Leben in solchen glücklichen Momenten zu führen, ohne daß dieses freie Glück einer unmittelbaren Rechtfertigung vor den Resultaten, der Zukunft, dem gesellschaftlichen Lebensernst bedürfte. So gesehen, bedürfte die Gruppe für ihre pädagogische Dignität keine andere Legitimation als die Erfahrung, daß junge Menschen in ihrem Zusammenhang glücklicher sind als ohne sie. Allerdings gilt auch hier meine gerade erhobene Forderung nach Spezifizierung.
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[010:33] Das alles kann nun nicht heißen, daß die Gruppenforschung erziehungswissenschaftlich und praktisch-pädagogisch unerheblich wäre, im Gegenteil: hier ist die Erziehungswissenschaft verpflichtet, durch ihre Forschungen der Praxis zu helfen. Aber auch ohne eine solche erfahrungswissenschaftliche Kontrolle und Hilfe gibt es einen guten Grund, an der Gruppe als pädagogischem Medium festzuhalten: den Wert nämlich, den wir auf die Herstellung von demokratischen Gruppenprozessen legen, weil sie Ausdruck und Realisierung einer bestimmten sozialen Gesinnung sind. Diese in dem Vorhandensein von Gruppen manifestierte Erziehungsabsicht zwingt uns, sie genau zu erforschen, insbesondere wenn es stimmt, daß die Jugendarbeit auf dogmatische oder kanonische Inhalte verzichtet und das didaktische Problem erst im Gruppenprozeß durch die gleichsam prozessuale Artikulierung der Inhalte entsteht.

Zum Problem der
geistigen Mitte
der Jugendverbände

[010:34] Interpretiere ich das Selbstverständnis der Jugendverbände recht, dann müssen die bisherigen Erörterungen für Repräsentanten von Jugendverbänden unbefriedigend geblieben sein. Bei einer bedeutenden Anzahl der Verbände handelt es sich ja nicht darum, die Inhalte ihrer Arbeit im Gruppenprozeß erst zu finden. Vielmehr sind diese durchaus vorgegeben als je bestimmte Deutungen der Stellung des Menschen in der Welt und in der Gesellschaft. Diese Eigentümlichkeit teilen die Jugendverbände mit den verschiedenen Erwachsenenverbänden und Institutionen unserer Gesellschaft, eine Eigentümlichkeit, die darin besteht, daß unterschiedliche Deutungen solcher Art formuliert werden und einen sozial-institutionellen Niederschlag finden.
[010:35] Als pädagogische Aussagen treten diese Deutungen aber in merkwürdigen Gewändern auf. Da wird gesagt, daß pädagogische Arbeit nicht sinnvoll geschehen könne in einer Scheingemeinschaft (was ist das?), der das pädagogische Profil und die Möglichkeit zu integrieren fehlen müsse, daß der Wesenskern des Menschen (was ist das?) angesprochen werden müsse; daß man der pädagogischen Aufgabe nur gerecht werden könne, wenn man auf ein umfassendes Menschenbild hin erziehe; daß infolgedessen Jugendverbandsarbeit nur legitimiert sei durch
Erkenntnis ihrer pädagogischen Aufgabe, durch ihr geistiges Konzept und durch das Bild vom Menschen, das sie anstrebt
; daß politische Bildung keine Jugendpflege, sondern nur ein Teilaspekt sei, daß die Selbstwerdung des jungen Menschen notwendigerweise verknüpft sei mit religiösen, philosophischen und anthropologischen Leitbildvorstellungen, ein Sachverhalt, der von der existenzialistischen Mode verschleiert werde usw.
[010:36] In solchen Formulierungen geschieht etwas Merkwürdiges, wenn auch Verständliches: Aus dem totalen Anspruch von Deutungen der menschlichen Existenz werden pädagogisch angeblich allgemein geltende Konsequenzen deduziert. Das ist ein ideologiekritisch zwar erklärbarer Akt, nur hat er leider mit der pädagogischen Realität wenig zu tun. Zwar ist es legitim, daß einzelne Gruppen innerhalb unserer Gesellschaft ihre Deutung zur entscheidenden Grundlage auch ihrer Erziehung in |a 360|allen diesen Bereichen wählen. Die entsprechenden Aussagen müssen dann aber auch gleichsam system-immanent bleiben; tun sie das nicht, werden sie ideologisch im strengen Sinne dieses Wortes: Sie verschleiern – vielleicht den Autoren unbewußt –, daß ein gesellschaftlich partikulares Interesse nicht nur mit dem subjektiven Anspruch auf Ausbreitung ihrer Aussagen in Richtung einer allgemeinen Geltung auftritt – dagegen ist nichts einzuwenden –, sondern diese als fraglos objektiv geltend pseudowissenschaftlich formuliert.
[010:37] So haben die den Verbänden vorgegebenen Inhalte in der Regel zweierlei Sinn: 1. Sie artikulieren das partikulare gesellschaftliche Interesse eines Verbandes, einer Kirche, einer Partei; 2. Sie artikulieren den vermeintlichen Bildungssinn ebendieser Interessen, als einer Interpretation dessen, was als menschenwürdiges Dasein gelten soll.
[010:38] Ich behaupte nun, daß die pädagogische Legitimation eines Jugendverbandes nicht auf dem zweiten Sinn seiner Inhalte beruhen kann, obwohl seine Vertreter subjektiv dieses Gefühl durchaus haben mögen (wahrscheinlich müssen sie es haben, wenn ihr pädagogisches Selbstwertgefühl daran hängt). Mit anderen Worten: die sogenannte
geistige Mitte
eines Jugendverbandes und der Jugendarbeit überhaupt ist entbehrlich, sofern sie über das hinausgeht, was ich den aufgeklärten, kritischen und darin mündigen Bürger nennen möchte. Die Jugendverbandsarbeit braucht deshalb keinen pädagogisch-weltanschaulichen Totalanspruch an ihre Mitglieder und in ihrer Arbeit zu machen, mit dem sie ohnehin – wenn ich dieses kritische Bild verwenden darf – so aussieht wie ein Kind, das auf den Schultern seines Vaters auf seine Größe stolz ist. Auch die Schule ist nicht durch einen solchen Anspruch legitimiert, auch in ihr geht es, den Präambeln mancher Bildungspläne zum Trotz, nicht um
Wesenskerne
der jungen Generation, sondern um gesellschaftlich vorformulierte Aufgaben, um die Vorbereitung auf präzisierbare soziale Leistungen, wie Kenntnis von Wort und Schrift, tradierbares Wissen, Kenntnis der Hauptdaten unserer Welt, geht es um das Lernen. Ebenso liegt die Rechtfertigung der Jugendarbeit in bestimmbaren Erziehungsaufgaben, deren Bewältigung unsere Gesellschaft einem menschenwürdigen Heranwachsen schuldig ist: die Ermöglichung einer jugendgemäßen Praxis der Selbstbestimmung, eine Einführung in die kritischen Praktiken moderner Sozialgestaltung, ein erziehender Umgang mit den Informationsmassen und -medien moderner Öffentlichkeit, Selbstaufklärung, Mitbestimmung, soziales Lernen.

Die Bildungschance der Jugendverbandsarbeit

[010:39] Wäre dies das letzte Wort, dann wären die Jugendverbände in der Tat nichts anderes als Organisatoren von Jugendarbeit. Die Tatsache, daß es außer der behördlichen auch private Jugendarbeit gibt, wäre dann gleichsam zufällig. Das aber würde weder mit dem Selbstverständnis der Jugendverbände zu vereinbaren noch zutreffend sein. Denn: das Engagement macht die Eigentümlichkeit der Jugendverbandsarbeit aus; daß es in ihr stark binnenkonsolidierte Gruppen geben |a 361|müsse, ist demgegenüber ein sekundäres Merkmal. Dieses Engagement nun enthält, wie mir scheint, eine spezifische Bildungschance, sofern dieses Engagement als partikulares gesellschaftliches Interesse, als politische oder religiöse Entscheidung erkennbar bleibt. Nirgends sonst als im Jugendverband haben die Jugendlichen die Möglichkeit, in einer ihnen anschaulichen und übersehbaren Weise aktiv am Streit der Parteiungen teilzunehmen, den Sinn entschiedener Positionen zu erfahren, die Leistungsfähigkeit der Identifizierung mit gesellschaftlich relevanten Gruppen zu erproben.
[010:40] Darin scheint mir aber nicht nur die Bildungschance der Verbände zu liegen, sondern auch ihre besondere Funktion im Ganzen der Jugendarbeit. Es würde eine Verkürzung ihres Bildungsauftrages bedeuten, wenn sie sich dem weiteren Feld der Jugendarbeit fernhielten, da gerade sie imstande sind, ihr jene spannungsreiche pluralistische Struktur zu geben, die als Medium der Bildung heute unerläßlich ist. Je größer allerdings ihre Mitgliederzahlen werden, um so mehr ist zu vermuten, daß sie im Bewußtsein der jungen Menschen als konkret parteinehmende Instanzen verschwinden und sich dort als totale Erziehungsinstanzen etablieren, also genau in jene pädagogische Ideologiebildung verfallen, die ich zu kritisieren versuchte.
[010:41] Aus diesem Grunde scheint mir die wesentlichste Aufgabe der Jugendverbände darin zu bestehen, Träger allgemeiner Jugendarbeit zu sein, also gerade nicht die Kultivierung der in-group, sondern die Unterhaltung von Einrichtungen, in denen – weil alle sie unverbindlich benutzen können – der Verband sich als in besonderer Weise engagiert darstellen kann. Der pädagogische Sinn, der darin läge, würde verspielt, wenn solche Arbeit hauptsächlich als
Vorraum vor dem Gruppenleben
, der
den Zugang zu den Gruppen mit größerer Bindungsdichte
erleichtert
(St. Martin
), betrachtet würde. Erst die ständige Bewährung in der Selbstdarstellung und die dauerhaft kritische Auseinandersetzung in dem beweglichen Feld solcher Einrichtungen pädagogischer Geselligkeit würde den Bildungssinn der Jugendverbandsarbeit glaubhaft offenbaren können. Das vorgefundene Feld der Jugendarbeit würde von den Verbänden wirklich durchsetzt und strukturiert. Ihre Zahl würde vermutlich abnehmen, die Arbeit mancher Verbände würde sich vielleicht nur unwesentlich von der behördlichen Jugendarbeit unterscheiden.
[010:42] Ihre pädagogische Aufgabe würde damit zweifellos schwieriger sein, aber es wäre eine radikale Probe auf die pädagogische Tragfähigkeit dieses Selbstverständnisses. Das von mir angesprochene didaktische Problem der Jugendarbeit würde sich dialektisch zuspitzen: Die verbandsspezifischen Inhalte müßten vermittelt werden mit denen, die sich aus der Interessenlage der Jugendlichen und dem Gesellungsprozeß ergeben, sie müßten als Angebot in den leitenden Teams repräsentiert werden, und erst dadurch, daß sie beständiger Kritik standhalten, würden sie glaubhaft werden. Das erfordert Jugendleiter und Helfer, die sich nicht nur durch ihren Glauben, ihre Weltanschauung, ihre politische Parteinahme, sondern auch durch pädagogische Qualifikation profiliert auszeichnen müßten, es erforderte die |a 362|einsichtige Darstellung einer Möglichkeit, in unserer Welt menschenwürdig zu existieren.
[010:43] Ich fasse zusammen: Nicht der pädagogische Bezug von einem Erzieher zu einem zu Erziehenden ist der Kern der Jugendverbandsarbeit, sondern die wohlüberlegte pädagogische Struktur, die ihr gegeben wird; neben der Jugendgruppe ist es vor allem der Jugendverband als Institution, als Interessenverband, von dem zu vermuten ist, daß ihm in unserer gesellschaftlichen Lage entscheidende Bildungswirkungen innewohnen; nicht
Führungsbegabung
,
Führungsberufung
und persönliches Charisma sollten den Jugendleiter auszeichnen, sondern entschiedenes politisches oder konfessionelles Engagement und kritische Rationalität im Hinblick auf seine Position, seine Funktion und seine Wirkungsmöglichkeiten; die Chance, ein relativ eigenständiger Faktor in unserem Bildungswesen zu sein, liegt nicht darin, daß die Jugendverbände eine
staatstragende Gesellungskraft
entwickeln, sondern darin, daß sie ein kritisches Potential sein können; infolgedessen liegt ihr Wert für die Bildung nicht darin, daß in ihnen die Pflege von Erlebnisformen einen entscheidenden Platz innehat, sondern darin, daß sie rationale Formen der Auseinandersetzung junger Menschen mit sich selbst und mit ihrer gesellschaftlichen Lage pflegen können.
[010:44] Damit wird die Jugendverbandsarbeit zu einem Moment in der pluralen, vielsinnigen Struktur moderner Jugendarbeit. Mehr noch: Der Jugendverband als Träger von Jugendarbeit würde durch sein Engagement einerseits und die vorbehaltlose Offenheit seiner Institutionen – offen auch für den, der sich nicht engagieren will – andererseits die dialektische Bewegung wachhalten. Jeder Versuch, diese Dialektik zugunsten einer einsinnig konzipierten Erziehungsarbeit zu vernichten, würde die Erziehungsarbeit der Jugendverbände auf die Dauer zu einem für die Bildung irrelevanten pädagogischen Artefakt machen. Integration mag dann freilich noch gelingen. Alles, was aber doch geleistet werden sollte, die Bildung der jungen Menschen, mißlingt im Prozeß ideologischer und sozialer Anpassung, der den gesellschaftlichen Zwang noch erhöht, gegen die die Jugendverbände ursprünglich angetreten sind. Deshalb möchte ich formulieren: Nicht Integration ist die wesentliche Aufgabe der Jugendverbände, sondern: in der Jugendarbeit ein spannungs- und konfliktreiches Erziehungsfeld hervorzubringen und zu erhalten, das durch seine Struktur die heranwachsende Generation zu distanzierter Kritik und entschiedenem Engagement ermuntert und sie darin anleitet; das den jungen Menschen als einen entläßt, der imstande ist, in den Prozeß gesellschaftlicher Veränderung selbst einzugreifen; das in diesem Sinne nicht nur Erziehungsarbeitet leistet, sondern auch Bildung ermöglicht.