Pädagogik und Rationalität [Textfassung a]
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Pädagogik und Rationalität

[016:1] Die Erziehung ist ein Vorgang, von dem man der Meinung sein könnte, er stelle sich in der instinktähnlichen pflegenden und liebenden Zuwendung der Mutter zu ihrem Kind in reiner oder – wie man mit Vorliebe sagt – ursprünglicher Form dar. Was an diesem
Urphänomen
nicht Natur sei, sei einerseits die spezifisch menschliche personale Liebe, die hier das Kind um seines Wohles willen liebt, andererseits durch humane Gesittung kulturell überformt und festgelegt, ein verläßlicher kultureller Bestand, durch den das Heranwachsen des Kindes gesichert werden müsse. Die darin sich zeigende pädagogische Struktur, so könnte man weiter der Meinung sein, sei ursprünglich nicht nur im genetischen, sondern zugleich im sachlichen Sinne des Wortes; in ihr zeige sich das
Eigentliche
der Erziehung, das nicht nur für das Erziehungsverhältnis zwischen Mutter und Kind, sondern allgemein gelte. Diese Meinung, da sie sich für Einsicht in das
Wesen
der Erziehung hält, formuliert damit nicht nur das angeblich Faktische, sondern zugleich eine für das Erziehungsgeschäft fundamentale Norm. Um recht erziehen zu können, bedarf es der Anschauung dieses Urphänomens und seiner Transposition in die familienfernen Erziehungsverhältnisse. Die Aufgabe der Erziehungswissenschaft wäre demnach die Explikation dieses Pädagogisch-Eigentlichen, das – nach dem Sprachgebrauch dieser Meinung –
sich verwirklicht
, in welchem Bildung
sich ereignet
: die Explikation der
zeitlosen, ewig gültigen Idee der Erziehung
. Jeder Versuch, neu auftretende Erziehungsprobleme zu lösen, geschieht dann nach Maßgabe der in der pädagogischen Ursituation vorgegebenen Struktur.
[016:2] Diese Meinung ist nicht nur in vielen ihrer Bestandteile falsch – das wäre innerhalb eines sich ständig selbst korrigierenden Systems wissenschaftlicher Aussagen zu verschmerzen –, sondern sie behindert Pädagogik als Wissenschaft und führt an ihrer Statt nicht selten zu einer mehr oder weniger geistreich vorgetragenen Rechtfertigungslehre. Rationalität als Element der Praxis wie als Medium der Wissenschaft läßt sie nur in einem eingeschränkten Sinne zu. Damit aber wird solche Meinung in fataler Weise aktuell. Rationalität, Kritik und Planung werden zwar als Zugeständnisse der modernen Gesellschaft gegenüber in der Erziehung und deren Wissenschaft zugelassen, haben hier indessen aber keine konstituierende Funktion. Während aber die Rationalität in der Form der Bewußtheit als Element der Erziehungspraxis nur einen besonderen historischen Typus charakterisiert und ebensowenig zum
Pädagogisch-Eigentlichen
gehört wie eine naiv verfahrende, man also sehr wohl – um welchen Preis auch immer – auf sie verzichten könnte, ist sie doch für die Wissenschaft der Lebensnerv. Dieser wende ich mich daher zunächst zu, um dann einige Entsprechungen in der Praxis aufzusuchen, die Präzisierung des Problems durch den Bildungsbegriff darzustellen und schließlich einige Hypothesen im Hinblick auf die Erziehungswirklichkeit zu wagen.

1.

[016:3] Der Streit um den Begründungszusammenhang der Erziehungswissenschaft ist von ihrem Anfang an bis auf unsere Tage nicht verstummt. Obwohl ein solcher Streit anders als im Medium strenger Rationalität gar nicht gedacht werden kann, schließt |a 666|er doch nicht aus, daß seine Lösung dadurch versucht wird, daß aus der Eigenart des spezifischen Gegenstandes dieser Wissenschaft gefolgert wird, ihre Rationalität müsse begrenzt sein, sie sei ihrem Gegenstand zuliebe gezwungen, von wissenschaftlich nicht weiter auflösbaren Entscheidungen und Wertungen auszugehen, sei genötigt, diese in ihrem Verfahren wie in ihren Sätzen ins Spiel zu bringen, Infolgedessen sei nur eine sich selbst beschränkende Rationalität in der Lage, die Erziehungsphänomene der wissenschaftlichen Analyse zugänglich zu machen. Diese Selbstbeschränkung der Rationalität scheint nun aber die Erziehungswissenschaft in die Gefahr gebracht zu haben, in ihrer Theorie an Begriffen und Sätzen festzuhalten, die nur angeblich im Interesse der Erkennbarkeit des Gegenstandes weiteren kritischen Analysen entzogen werden. Ja, es ist bisweilen nicht einmal die Erkennbarkeit, die auf diese Weise gesichert werden soll, sondern das angebliche Ergebnis eines vorgängigen Erkenntnisvorganges, von dem behauptet wird, daß er das pädagogisch Gültige, das Pädagogisch-Eigentliche, das Wesen der Erziehung zutage gefördert habe. So wird mit der Behauptung, Erziehung sei ein irrationales Phänomen, zugleich ein irrationales Moment in die Theorie, die das Phänomen beschreiben, verstehen und erklären soll, eingeführt.
[016:4] Besondere Schwierigkeiten bereitet hier die Rolle, die der Verantwortung in der Erziehungswissenschaft zugedacht wird. Es gehöre
zu der Denkweise der Pädagogik, wie es zu der Eigenart ihres Gegenstandes gehört, daß sie gewissermaßen allseits von Verantwortung umgriffen ist, daß es in ihr letztlich überhaupt keinen verantwortungsfreien Raum gibt
1
1
E. Lichtenstein, Zur Metaphysik der pädagogischen Verantwortung, in: Pädagogische Rundschau, 7. Jg. 1952/53, S. 50.
; oder: Voraussetzung der Erziehungswissenschaft sei
die Befangenheit des Theoretikers in der praktischen Aufgabe und an das pädagogische Tun. Er muß die Verantwortung der Praxis teilen, ihre Ziele bejahen, von der Verantwortung und von den Zielen aus denken ... erst die Befangenheit an die Sache ermöglicht die wahre wissenschaftliche Objektivität
2
2
E. Weniger, Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und Praxis, Weinheim (1952), S. 21.
. Diese Verantwortung gehöre also nicht etwa nur in den Entdeckungszusammenhang der Erziehungswissenschaft, insofern nämlich erst durch sie die für die Forschung relevanten Themen in den Blick kommen, sondern in deren Begründungszusammenhang; sie konstituiere das erziehungswissenschaftliche Denken. Sie sei darüber hinaus eine spezifisch erzieherische Verantwortung, die sich aus einem pädagogischen Ethos ergebe3
3Vgl. dazu besonders L. Froese Pädagogisches Ethos und gesellschaftlicher Auftrag, in: Zeitschrift für Pädagogik, 7. Jg. 1961. S. 11 ff.
. Hier nun wird die Schwierigkeit deutlich, in die die Erziehungswissenschaft auf diese Weise gerät: es wird kaum zu leugnen sein, daß der Erziehungstätigkeit immer eine im Hinblick auf die gefaßte Aufgabe besondere Art von Verantwortung korrespondiert; und ebenso, daß sich auf diese Weise im Bewußtsein des Erziehers ein dem Erziehungsprozeß zugehöriger Zusammenhang von Wertungen und Erfahrungen etabliert, der als spezifisch pädagogisch erscheint. Diese im Bewußtsein des Erziehers vor sich gehende Absonderung des Pädagogischen ist aber ein irrationaler Prozeß, der gerade durch das Fehlen von Rationalität und Kritik zustande kommt4
4Diese Absonderung des
Pädagogischen
war allenfalls noch in der pädagogischen Reformbewegung, in der Theorie Herman Nohls historisch
richtig
, da nur so es der Erziehungstheorie gelingen konnte, sich von der konfessionellen wie der positivistischen Überfremdung zu befreien. Heute noch an einer solchen Position festhalten bedeutet, die damalige Lage der erziehungstheoretischen Diskussion ideologisch reproduzieren.
. Das Bewußtsein, das sich und seine Positionen für rein pädagogisch hält, wird getäuscht, da es die Tatsache, selbst gesellschaftlich vermittelt zu sein, nicht reflektieren kann. Die Erziehungswissenschaft, statt dieses Phänomen zum Ausgangspunkt ihres kritisch-rationalen |a 667|Verfahrens zu machen, bleibt selbst in der irrationalen Partikularität befangen und verhindert damit jene Rationalität, die zu realisieren sie sich doch anheischig machen möchte.
[016:5] Dieses allgemeine Problem nimmt eine Reihe besonderer Formen an, von denen ich nur die auffallendsten nennen möchte. Die Frage nach dem Verhältnis der Erziehungswissenschaft zur Empirie ist so alt wie die Erziehungswissenschaft selbst, seit nämlich Schleiermacher fragte, ob das Verfahren der pädagogischen Wissenschaft empirisch oder spekulativ sein solle. Die von ihm geforderte Verschränkung beider Verfahrensweisen aber ist in der Wissenschaftsgeschichte unter der Hand zu einer Alternativ-Frage geworden: es ging schließlich nicht mehr um das Problem, wie zwei rationale Verfahren in einer Wissenschaft kombiniert werden könnten, sondern um die ausschließliche Gültigkeit des einen oder anderen Wissenschaftsbegriffs. Die zweifelhaften Begründungen ihrer Theorie, mit denen sich die Vertreter einer ausschließlich deskriptiv-empirisch verfahrenden Erziehungswissenschaft versahen, gaben ihren Kritikern scheinbar recht. Diese wiederum reproduzierten die Vorurteile gegen die Empirie und verhinderten die doch mögliche Kontrolle der eigenen Aussagen, die zwar in sich logisch stimmig sein mochten, in ihrem Erkenntniswert indessen sehr beschränkt blieben. So kam es, daß erst die Nachbardisziplinen, besonders Soziologie und Lernpsychologie, die Erziehungswissenschaft auf die ideologischen Bestandteile ihrer Theorie aufmerksam machen mußte. Hat die Nachbarschaft mit der Psychologie schon seit geraumer Zeit ergiebige Formen angenommen, so wird doch der Soziologie immer noch eine hartnäckige Abneigung entgegengebracht, und zwar vermutlich deshalb, weil von ihr am nachdrücklichsten die Eigenständigkeit jenes pädagogischen Ethos in Zweifel gezogen wird. Die Hartnäckigkeit ist verständlich, da erst eine die Vergesellschaftung des Menschen bis in die einzelnen Glieder des Erziehungsprozesses hinein verfolgende Reflexion den pädagogischen Irrationalismus ganz vernichtet, eine Reflexion, die sich anschickt, diesen Irrationalismus nicht als illegitim, unangemessen oder falsch zu qualifizieren, sondern ihn als gesellschaftliches Interesse zu entlarven.
[016:6] Ein weiterer Aspekt des Dilemmas zeigt sich in der Behandlung des Autoritätsproblems. Anstatt das Problem in empirisch gehaltvollen Aussagen einer rationalen Kritik und Kontrolle zugänglich zu machen, was in den benachbarten Sozialwissenschaften längst unternommen wird, wird es immer noch und immer wieder als metaphysische Bedingung des Erziehungsvorgangs dekretiert, als die sogenannte echte Autorität gerechtfertigt und damit, sicherlich gegen den Willen der Autoren, einer irrationalistischen Restauration als wirksames Argument in die Hände gespielt. Hier ließe sich besonders eindringlich zeigen, was es sowohl für die wissenschaftliche Erkenntnis wie auch für die Brauchbarkeit der Ergebnisse bedeutet, wenn die pädagogischen Probleme aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang gelöst werden, in dem sie doch überhaupt erst als wirkliche erscheinen5
5Gerade bei der Analyse pädagogischer Autorität zeigt sich nämlich, wie weitgehend in der Erziehung die in der Gesellschaft vorwaltenden Herrschaftsverhältnisse reproduziert werden. Dieser Zusammenhang wird in der Pädagogik immer noch ignoriert, von wenigen Ausnahmen abgesehen (W. Strzelewicz, P. Roeder, U. Walz).
.
[016:7] Schließlich ist die immer noch wirksame Vorliebe der Pädagogik für geschlossene Sozialsysteme zu erwähnen. Der Grund für diese Vorliebe scheint mir sowohl in der kulturkritischen Tradition der Erziehungstheorie wie in der Suggestion zu liegen, die von der Familie als dem angeblichen Ursprungsort des Erzieherischen ausgeht. |a 668|Man muß sich vor Augen halten, daß die pädagogische Theorie seit der späten Aufklärung – ob zu recht oder nicht, bleibe dahingestellt – sich in einem der Gesellschaft gegenüber kritischen Selbstverständnis etabliert hat und dieses in eine gleichsam pädagogische Rolle umzusetzen trachtete. Diese gegen die industrielle Gesellschaft und besonders deren Mobilität gerichtete Kritik assoziierte sich mit dem Wunsch nach sogenannten einfachen, elementaren, volkstümlichen Sozialformen, die ungeschichtlich gedacht wurden.
[016:8] So entstanden nicht nur die literarischen Konzeptionen pädagogischer Provinzen von Goethe und Fichte bis zu Hermann Hesse, sondern zugleich eine auf den pädagogischen Alltag hin entworfene Theorie, für die der Gedanke einer der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber abgeschlossenen heilen Welt pädagogischer Prozesse konstitutiv wurde. Durch den pädagogischen Alleingang Pestalozzis in Stans, durch Fröbel, die Heimerziehung, die Jugendbewegung, schließlich durch die Theorie Tönnies’ soziologisch unterstützt, gewann dieser Gedanke seine zweifelhafte Dignität auch für die Erziehungswissenschaft und entwickelte sich jene, allenfalls auf individuelle Erfahrungen sich stützende Option für den geschlossenen pädagogischen Raum, mit der die Hoffnung verbunden wird, der durch ihn hindurchgegangene junge Mensch sei damit imstande, die Menschlichkeit in einer widrigen Welt zu bewahren6
6Selbst bei einem auf empirisch kontrollierbare Argumentation so erpichten Autor wie W. Brezinka finden sich die folgenden Sätze:
Was (in der Schule und angesichts ihres säkularisierten Charakters) an Zielsetzungen übrigbleibt, ist blaß, inhaltsarm und viel zu unverbindlich, als daß es den Geist beschwingen könnte
(Erziehung als Lebenshilfe, Stuttgart 1961², S. 163)
; infolgedessen bedürfe es der
geschlossenen Gruppe als Ort der Charakterformung
(S. 250 ff.)
;
Solange der jugendliche Charakter noch plastisch bleibt, also bis zum Abschluß der Reifejahre, kann die Erziehung nicht darauf verzichten, daß möglichst in allen Gruppen, die auf ihn einwirken, die gleiche Rangordnung der Werte anerkannt wird
usw.
(S. 261)
.
. Nun kann kaum geleugnet werden, daß der Familie gerade ihrer Geschlosenheit wegen fundamentale und unverzichtbare Erziehungswirkungen eignen. Problematisch ist jedoch die Transposition dessen, was in diesem beschränkten Erziehungsraum gilt, in das pädagogische Feld überhaupt. Mit der Festlegung der Familie als der Institution des Pädagogisch-Eigentlichen, als des
schlechthin exemplarischen Musterbildes
der Erziehung7
7
H. Döpp-Vorwald, Pädagogie – Pädagogik – Erziehungswissenschaft, in: Pädagogische Rundschau, 17. Jg. 1963, S. 356
. Die frühen und einfachen Stufen pädagogischer Besinnung – wozu vermutlich auch die pädagogische Besinnung in jener musterbildlichen Familie gehört – seien zu verstehen
als immer gegenwärtige, zeitlose Schichten des pädagogischen Bewußtseins
(a. a. O., S. 357)
.
wird die Irrationalität der bürgerlichen Familie des 19. Jahrhunderts in die Erziehungswissenschaft eingeführt, ein Akt, dessen Konsequenzen bis in didaktische und schultheoretische Erörterungen hinein verfolgt werden kann.
[016:9] Auf diese Weise werden nicht nur die Grenzen zwischen wissenschaftlicher Aussage und Vorurteil bzw. bloßer Meinung ständig neu verwischt, sondern werden auch die ideologischen Bestandteile der Theorie immer wieder reproduziert. Die mangelhafte Rationalität der Theorie ermöglicht es, ungestraft über Erziehung und Bildung zu reden und solches Reden als in den Zusammenhang erziehungswissenschaftlicher Erörterung gehörende Aussagen zu deklarieren, sofern die Aussage sich nur als pädagogisch verantwortlich in dem gesellschaftlich partikularen Sinne des Wortes ausweist.
Pädagogisch ist unser Denken erst dann, wenn es von sich läßt und die Menschlichkeit dieses oder jenes heranwachsenden Menschen verantwortet.
8
8K. Schaller, Vom
Wesen
der Erziehung, Ratingen 1961, S. 16.
Schon die logische Grammatik dieses Satzes ist kaum noch verständlich. Wie soll das Denken
von sich lassen
? Soll in diesem Satz von der Praxis die Rede sein und gesagt werden, daß das Denken zugunsten des verantwortlichen Handelns nachlassen, das |a 669|theoretische dem praktischen Verhalten Raum geben solle, wird man mit einem vernünftigen Streit, über die Funktion der Rationalität in der Erziehungspraxis beginnen können. Indessen über die Erziehungswissenschaft ist offenbar – entgegen dem Anspruch dieses Satzes – nichts ausgesagt, denn sie kann das Denken schon ihrem Begriff als Wissenschaft nicht
von sich lassen
, ob man es nun pädagogisch nennen will oder nicht.

2.

[016:10] Theorie und Praxis der Erziehung zeigen eigentümlich gleichsinnige Tendenzen. Wissenssoziologisch betrachtet ist das kaum verwunderlich: die pädagogische Theorie hat sich immer in großer Nähe zur Praxis befunden, war ein Produkt wie auch ein Mittel pädagogischer Ausbildungszwecke, war – selbst noch als Hermeneutik der pädagogischen Praxis – nicht selten deren Rechtfertigung. Sie ist, wie wenige Wissenschaften sonst, seit Diesterwegs Zeiten ein Objekt standespolitischer Interessen gewesen, was ihrer wissenschaftlichen Autonomie ebensowenig bekam, wie die Tatsache, daß sie seit je eher als Lehre denn als Forschung betrieben wurde.
[016:11] Diese Gleichsinnigkeit zeigt sich am Problem der Autorität, das in der Praxis ein ähnliches Schicksal erleidet wie in der Theorie. Die Erziehungswirklichkeit ist immer noch im Wesentlichen hierarchisch geordnet; eine Hierarchie, in der die unteren Positionen von der Jugend, die oberen von der Erzieherschaft besetzt sind. Legitimiert wird diese Struktur durch die
pädagogische Autorität
, die dem Erzieher kraft seiner Überlegenheit und seines personalen Gewichtes zukommt. Es ist nicht Sache des Heranwachsenden, diese Autorität zu kritisieren. Er lernt weder das Einsetzen, noch das Absetzen von Autoritäten, sondern nur deren Anerkennung. Die pädagogische Autorität ist deshalb faktisch Herrschaftsautorität. Es charakterisiert diese Autoritätsform, daß sie sich der Rationalität verschließt, d. h. nicht kritisierbar, durch die
Empfänger
nicht änderbar ist. Lehrer, Eltern, Heimerzieher scheinen sich nahezu darin einig zu sein, daß es – aus Gründen der pädagogischen Verantwortung – unzulässig ist, die Zöglinge ernsthaft an der Kritik und Veränderung des pädagogischen Feldes zu beteiligen. Die Kritik und das Interesse der Heranwachsenden sind hier allenfalls ein Moment der pädagogischen Taktik; für die Strategie spielen sie keine Rolle9
9Diese Bemerkungen und die folgenden sind als zugespitzt formulierte Tendenzen der Erziehungspraxis zu betrachten.
.
[016:12] Eine konkrete Variante dieser Struktur findet sich in der politischen Bildung. Sie ist einerseits Kenntniserwerb und methodisch arrangierte Diskussion, deren Ergebnis indessen in den wesentlichen Zügen von vornherein festliegt; andererseits ist sie Einübung in eine als demokratisch bezeichnete Praxis des Umgangs von Menschen miteinander, Ordnung von Gruppenbeziehungen. Information und Einübung sind die Begriffe, mit denen sich der pädagogische Vorgang nahezu erschöpfend beschreiben ließe. Die politische Bildung reproduziert damit den kritiklosen politischen Stil, auf den unsere Gesellschaft sich zuzubewegen scheint. Jedenfalls sind Rationalität und Kritik in ihrer institutionellen Struktur kaum untergebracht. Bezeichnenderweise heißt es in einem neuen Kirchenlied, von einer Evangelischen Akademie preisgekrönt und vorwiegend mit Industriejugendlichen gesungen,
danke für meine Arbeitsstelle
, ohne daß der politische Quietismus und die Ironie bemerkt würde, die in einer Phase der Überbeschäftigung darin liegt. Arbeitsstellen werden von Unternehmern bzw. von denen gemacht, die gesellschaftliche Herrschaft ausüben.
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[016:13] Weniger offensichtlich, darum aber nicht minder wichtig, ist in diesem Zusammenhang die Rolle, die der Sprache im Erziehungsprozeß zugewiesen wird. Der Affekt gegen die Aufklärung, mit dem die deutsche klassische Pädagogik begann, ist immer noch wirksam. Das Postulat Pestalozzis,
mit den gefährlichen Zeichen des Guten und Bösen, mit den Wörtern
vorangegangenes Erleben und Handeln als sittliches zu benennen und zum Bewußtsein zu bringen, wird unverändert für gültig befunden, obwohl es sich hier gerade nicht um Reflexion, um kritische Analyse des Erlebten und Erfahrenen handelt, sondern um den Aufweis der Evidenz des angeblich allgemein Geltenden. Was den geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen und den Erziehungssituationen, die Pestalozzi im Auge hatte, angemessen gewesen sein mochte, das wird in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage durchaus fragwürdig. Der Lesebuchstil, dessen sich Volksschullehrer so gut wie Bundeskanzler bedienen und der den deutschen Aufsatz wie einen großen Teil der Protokolle und Referate von Studenten beherrscht, verrät eher die Bekanntschaft mit der Sprache als einem Instrument der Erbauung, nicht aber als Mittel rationaler Analyse.
[016:14] Eine besondere Bedeutung hat im letzten Jahrzehnt die Diskussion um die sogenannte Gefährdung der Jugend erlangt. Die dem pädagogischen Irrationalismus entsprechende Reaktion ist die Praxis der Isolierung vom Jugendschutz bis zu einer Freizeitpädagogik, die nur die nach Maßgabe eines bestimmten Begriffs von sozialer Gesundheit erzieherisch verläßlichen Gegenstände und Tätigkeiten an die Jugend herankommen lassen will. Als bester Schutz gegen die Gefährdung, vornehmlich durch die Massenmedien, wurde und wird die Einrichtung pädagogischer Schonräume empfohlen, die dem Heranwachsenden emotionalen Halt und Sicherheit in einsinnigen Sozialordnungen gewähren. Als Kriterium für den Bildungswert der in Frage kommenden Inhalte scheint weithin die Irrationalität des Gegenstandes zu gelten – so etwa in der musischen Bildung –, so, als müsse die Vernunft vor den sogenannten gefährdenden kulturellen Produkten resignieren. Wenn die Rede von der Gefährdung der Jugend durch die Massenmedien empirisch präzisierbare Wirkungen beträfe, wenn in der Tat die subjektive Vernünftigkeit des Kindes und Jugendlichen nachweisbar vor solchen Gegenständen prinzipiell versagen müßte und deshalb Verwahrlosung oder auch nur Verflachung eine notwendige Folge wäre, könnten hier kaum Vorwürfe gegen jenes Verfahren erhoben werden. Indessen befindet die Pädagogik sich in der mißlichen Lage, weitgehend etwas als der Fall seiend zu behaupten, das im wesentlichen doch nicht anders als in der Meinung solcher Pädagogen existiert, deren irrationalistisches Engagement allerdings diese Meinung als das entlarvt, was sie ist: die pessimistische Ideologie des Unpolitischen10
10Das gilt – jedenfalls in jüngster Zeit – weniger für die erziehungswissenschaftliche Literatur, als für die zwischen Wissenschaft und Feuilleton sich ansiedelnde Erbauungs-, Beratungs- und
Aufklärungs
-Literatur.
.
[016:15] Die Liste der im Hinblick auf die Rationalität problematischen Erscheinungen der Erziehungspraxis ließe sich noch vermehren. Indessen sollte hier nur das Problem exponiert werden. In der Entsprechung von Theorie und Praxis zeigt sich ein normativer Zirkel: durch die Beschreibung der Praxis wird diese gerechtfertigt. Da die Verantwortung des Theoretikers als die des Praktikers bestimmt wird, wiederholt sich in der Theorie die normative Befangenheit. Die Theorie bleibt ohne Erkenntniswert. Und umgekehrt ist die Tatsache, daß die Praxis der Theorie entspricht, kein Beweis für die Richtigkeit der Theorie; Theorie und Praxis
bedingen sich gegenseitig
, wie es heißt, und reproduzieren ihre Vorurteile.
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3.

[016:16] In den bisher vorgetragenen Bemerkungen wurde, da es sich um Kritik handelte, ein Kriterium angewandt. Dieses Kriterium soll nun expliziert und damit der Kern des im Begriff der Rationalität implizierten pädagogischen Problems bezeichnet werden.
[016:17] Seit der Zeit Herders und Humboldts hat die deutsche Pädagogik im Bildungsbegriff das Entscheidende ihres Wollens, zugleich aber auch das bis heute aktuell gebliebene Grundproblem formuliert. Der Begriff war beides: normativ und kritisch. Das kritische Moment hat – innerhalb der Geschichte des pädagogischen Denkens – seinen Ursprung bei Rousseau. Es geht auf die Erfahrung zurück, daß das vergesellschaftete Dasein immer schon ein defizienter Modus der Möglichkeiten des Menschen ist, daß die gesellschaftlichen Implikationen des Heranwachsens prinzipiell dasjenige reduzieren, was als Mündigkeit doch die erklärte Norm dieses Vorgangs sein sollte. In die Realität des preußischen Staates und der merkantilistischen Ausbeutung umgedacht, folgte daraus für Humboldt, daß – soll jene Norm der Mündigkeit nicht aufgegeben werden – Erziehung in kritischer Distanz zur Gesellschaft und zum Staat zu geschehen habe, weil nur so der die Unvernünftigkeit perennierende Druck der Herrschaftsverhältnisse und Vorurteile reduziert werden könne11
11Vgl. dazu H. Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus, Düsseldorf 1963.
. Bildung ist – im Unterschied zu Erziehung – Aufklärung über die Bedingungen der eigenen Existenz und Konkretisierung der Individualität in der unter solchen Bedingungen möglichen
Eigentümlichkeit
.
[016:18] Indessen enthielt der Bildungsbegriff noch eine andere Komponente: die Meinung nämlich, daß die Rationalität sich auf das Subjekt beschränken dürfe, daß es hinreichend sei, auf die Verwirklichung der Individualität als des
ursprünglichen Ich
zu dringen, daß durch die Kultivierung der vielen Einzelnen als Glieder eines Ganzen das Ganze auf die Dauer zur Vernünftigkeit umgeformt werde. Dieses privative Moment des Bildungsbegriffes und der Optimismus, daß die menschlichen
Verfassungen
– die Gesamtheit gesellschaftlicher und staatlicher Phänomene – vernünftiger und humaner würden durch Bildung als private Vervollkommnung der Individuen, war nicht aus der Luft gegriffen. Solche Humanisierung konnte als realisierbare Möglichkeit erscheinen, solange das Individuum
sich gegen die öffentliche Macht aufrechterhalten konnte, solange das private Dasein etwas Wirkliches darstellte, etwas, was der Einzelne sich wirklich wünschte und selbst formte
12
12
H. Marcuse, Eros und Kultur, Stuttgart 1957, S. 9
. Die Geschichte hat gezeigt, daß der Optimismus ungerechtfertigt war. Die Kombination von rationalem, gesellschaftskritischem Engagement und vorpolitischer Kultivierung der Individualität wurde widersprüchlich in einer gesellschaftlichen Situation, in der das zweite Moment nur zu retten war, wenn man auf die kritisch-rationale Bewältigung des Verhältnisses von Subjekt und Gesellschaft verzichtete, d. h. wenn man unpolitisch wurde und alle soziologischen Implikationen aus der Bildungstheorie entließ. Und eben dies trat ein. Der progressive Gehalt, der für die Konzeption der Bildungstheorie von Rousseau bis Schleiermacher konstitutiv war, verschwand oder verblaßte allenfalls zu allgemeinen Kategorien des Bildungsprozesses. Die ursprünglich in den Bildungsbegriff investierte Rationalität wurde aufgegeben zugunsten einer Assoziation mit konservativ-bürgerlichen Ideologien. Die Praxis flüchtete in die Geborgenheit der unpolitischen pädagogischen Provinz; die Theorie in eine Explikation des nun irrationalistischen Restbegriffs von Bildung.
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[016:19] Ich behaupte nun, daß für die Pädagogik in unserer gesellschaftlichen Situation das erste Moment des Bildungsbegriffs von entscheidender Bedeutung ist, will diese Pädagogik mehr sein als eine Rechtfertigungslehre dessen,
was ohnehin geschieht
. Stimmt es nämlich, daß diese Gesellschaft kein bloßes Repetitionsphänomen ist, d. h. daß die gesellschaftlichen Bedingungen in ihrem gegenwärtigen Zustand nicht nur zu erhalten und u. a. auch durch die Erziehung zu reproduzieren seien, dann fällt der Pädagogik als Praxis wie als Theorie die Aufgabe zu, in der heranwachsenden Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung hervorzubringen. Insofern Bildung sowohl die kritische Rationalität, d. h. Einblick in die Bedingungen der gesellschaftlichen Existenz enthält, als auch diese Rationalität im Namen einer objektiv geltenden Vernünftigkeit verfährt, enthält sie jenes Potential und schließt sie die Erziehungswissenschaft mit der Erziehungspraxis zusammen: der dem kritisch-rationalen Verfahren, deren sich die Wissenschaft beim Zustandekommen ihres Aussagensystems bedient, zugrunde liegende Begriff der Rationalität ist zugleich Kriterium für gelungene oder mißglückte Erziehung. Allein dieser Sachverhalt rechtfertigt und sichert das Vorhandensein einer Erziehungswissenschaft; er ist die gesellschaftliche Bedingung ihrer Möglichkeit.
[016:20] Daraus ergibt sich nachträglich, daß die Kritik am Zustand der pädagogischen Theorie letzten Endes nicht positivistisch sein kann. Geschichtlich-gesellschaftliche Gegenstände können mit den Mitteln empirischer Erfolgskontrolle allein nicht hinreichend analysiert werden. Andererseits aber bleibt die Gefahr der Ideologisierung auch so lange bestehen,
als Hermeneutik die Verhältnisse an dem allein mißt, wofür sie sich subjektiv halten
13
13
J. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik, in: Zeugnisse. Th. W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main 1963, S. 480. S. 9
. Analyse der empirisch nachprüfbaren Prozesse und Kritik der Zwecke, denen solche Prozesse wie auch die Analyse selbst unterstellt werden, sind zusammengenommen erst die unteilbare Aufgabe der Erziehungswissenschaft. Diese, als die institutionalisierte Rationalität der Erziehung, ist ihrem Anspruch nach seit der Aufklärung ein Instrument gegen Dogmatismus in jeder Form. Rationalität läßt sich deshalb nicht, ohne gegen sie selbst zu verstoßen, auf die Lösung pragmatischer Probleme beschränken; sie kritisiert prinzipiell jedes Dekret. Die Vernunft hat ein Interesse an Mündigkeit, Autonomie des Handelns und Befreiung von Dogmatismus. Sie ist, als wissenschaftliche Praxis, nicht nur ein faktisches Moment einer aufgeklärten Gesellschaft, sondern enthält auch zugleich den Willen zur Rationalität. Sie ist, wie Habermas formuliert, entschieden für Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Frieden, entschieden gegen Dogmatismus; sie ist
dezidierte Vernunft
14
14
J. Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963, S. 235.
.
[016:21] Die irrationalen Elemente der Erziehungswissenschaft können zwar durch konsequente Empirie reduziert werden. Würde die Erziehungswissenschaft aber solche Reduktion als ihre ausschließliche Aufgabe betrachten, dann würde sie dem Irrationalismus außerhalb ihres Verfahrens um so größeren Raum geben. Der Irrationalität ist nicht durch Empirie allein, sondern nur zusammen mit Hermeneutik beizukommen. Hermeneutik darf aber nicht nur verstehender Nachvollzug eines subjektiv so oder so Gemeinten, sondern sie muß zugleich und in diesem Verstehen Kritik sein. Das heißt, daß die immanente Interpretation pädagogischer Gegenstände prinzipiell hinter der hermeneutischen Aufgabe zurückbleibt. Zur Kritik und damit zu einem rationalen Verfahren in dem totalen Sinne des Wortes wird sie nur, wenn sie die |a 673|subjektive Vernünftigkeit der interpretierten Sache an dem mißt, was objektiv möglich war, wenn das pädagogische Phänomen als ein partikulares nicht nur gesehen, sondern auch im Zusammenhang der je aktuellen gesellschaftlichen Interessen, als ein Teil des Ganzen, bestimmt wird.
[016:22] Eine solche Bestimmung der je gemeinten Sache ist dadurch kritisch, daß sie sie in ihr je Wirkliches und Mögliches auflöst. Eine Erziehungstheorie, die entweder bei der Explikation dessen, was die Sache sein möchte – die Gefahr der traditionellen geisteswissenschaftlichen Pädagogik –, stehenbleibt oder sich mit der Analyse dessen, was sie ist – die Gefahr einer rein empirisch konzipierten Pädagogik –, begnügt, verfehlt damit den totalen Anspruch, den der Begriff der Rationalität enthält. Der Prozeß der Vergesellschaftung begrenzt und beschränkt zwar immer die Realisierung der Rationalität, aber er vernichtet nicht ihren Begriff. Solange dieser noch lebendig ist, enthält die Wirklichkeit auch jene Spannung des Wirklichen zum Möglichen, die zum Bewußtsein zu bringen die Aufgabe der erziehungswissenschaftlichen Theorie ist. Das gelingt aber nur, wenn eine rationale Analyse die Momente der Wirklichkeit, die Vernünftigkeit verhindern, in ihrer ganzen Komplexität kritisiert und als das bezeichnet, was sie sind: Unterdrückung, Verfälschung, Vorurteil, Ideologie.
[016:23] Insofern ist – und das läßt sich an der jüngsten erziehungswissenschaftlichen Forschung unschwer zeigen – Rationalität zunächst immer negativ. Ihre Kritik ist Verneinung der konstatierten Unfreiheit. Sie kritisiert zwar im Namen einer besseren Erziehung – und damit auch im Namen einer besser organisierten Gesellschaft –, tut dies aber dadurch, daß sie die Mangelhaftigkeit des Faktischen durch die Konfrontation mit dem Möglichen erweist. Das bedeutet nicht, daß es Aufgabe der Erziehungswissenschaft sei, inhaltlich detaillierte Entwürfe einer
besseren Erziehung
vorzulegen, da diese, wollen sie nicht utopisch sein, ihrerseits ein Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher Interessenlagen sein müßten, also von vornherein ein Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Kritik wären. Die Negation, da sie zugleich Aufdeckung eines Möglichen ist, eröffnet lediglich dem geschichtlichen Fortschritt, der Praxis der Vernunft, eine neue Chance. Indessen: Diese Chance der Willkür gesellschaftlicher Interessen zu überantworten, weil ihre Präzisierung mit einem puritanischen Wissenschaftsbegriff nicht mehr zu vereinbaren sei, hieße, die Wissenschaft in ihren Ergebnissen der zufälligen Normativität der Ideologien überlassen, hieße, die Rationalität an einer Stelle aufgeben, wo sie sich überhaupt erst zu bewähren hätte: die Verantwortung des Wissenschaftlers als Verantwortung für die Realisierung von Mündigkeit schließt die Verantwortung für die Praxis mit ein.
[016:24] Das bedeutet allerdings, daß Verantwortung nun doch ein konstitutives Element der Erziehungswissenschaft ist. Diese Verantwortung aber ist nichts der Erziehungswissenschaft Eigentümliches, es ist keine gesellschaftlich partikulare
pädagogische Verantwortung
, die in einem irrationalen Ethos gründet, sondern die Verantwortung für das kritische Potential einer Gesellschaft, die ohne rationale Kontrolle nicht das sein könnte, was sie ist bzw. was zu sein sie vorgibt15
15Entgegen anderen Auslegungen scheint mir E. Weniger diesen Sachverhalt durchaus intendiert zu haben, wenn er schreibt, der Theoretiker müsse
von der Verantwortung und von den Zielen aus denken
. Wenn es dann weiter heißt, er müsse
die pädagogische Haltung besitzen und das pädagogische Ethos in seinem Denken verwirklichen
, dann bleibt diese Formulierung nur vertretbar, solange
pädagogisch
hier soviel bedeutet wie
im Hinblick auf das Mündigwerden des jungen Menschen
(E. Weniger, a. a. O., S. 21)
.
In diesem Sinne ist die pädagogische Wissenschaft durchaus reflexion engagée. Ein verantwortliches Denken, das eine geistige Entscheidung bei sich hat, klärt sich auf, versteht sich aus seinen Voraussetzungen und prüft sich in diesem seinem Wollen und seinem Glauben. Es ist aber keineswegs voraussetzungslos, und objektiv nur im Sinne der Sachtreue und inneren Wahr|a 674|haftigkeit – aber nicht im Sinne eines standpunktlosen, uninteressierten Betrachters, der ein Objekt rein vor sich hat, als wolle er nichts von ihm
(W. Flitner, Das Selbstverständnis der Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, Heidelberg 1957)
. Diese Sätze könnten ganz im Sinne jener entschiedenen Vernunft verstanden werden, wenn in ihnen nicht offenbliebe, welcher Art denn diese
geistige Entscheidung
ist.
.
|a 674|

4.

[016:25] Die so oft mit Recht geschmähte Kulturkritik der Pädagogen bekommt damit ihren Sinn. Erziehungswissenschaft kritisiert im Namen der vorenthaltenen Rationalität, d. h. im Namen eines Prinzips, das in der Wissenschaft zwar besonders exponiert ist, aber doch in der gesamten gesellschaftlichen Praxis gilt und im Bereich der Erziehung und Bildung als
Mündigkeit
zu einem Normbegriff verdichtet wurde. Die praktische Frage, zu deren Beantwortung die Erziehungswissenschaft beizutragen hat, lautet daher: Wie ist das pädagogische Feld zu strukturieren, damit die Vernünftigkeit der zu erziehenden Subjekte nicht verhindert, sondern gefördert werde? Deshalb möchte ich abschließend einige Hypothesen für die Erziehungspraxis andeuten, deren Überprüfung mir sowohl im Hinblick auf die gegenwärtige Praxis wie auch auf den Zustand der gegenwärtigen Theorie sinnvoll zu sein scheint.
[016:26] 1. Aufklärung als ein rationales, im Medium des Wortes sich abspielendes Verfahren wird kaum hinreichend sein, das Erhoffte – die Mündigkeit – hervorzubringen. Das scheint mir schon allein deshalb der Fall zu sein, weil es unwahrscheinlich ist, daß die ganze Breite der heranwachsenden Generation von ihr in einem ernst zu nehmenden und Folgen zeitigenden Ausmaß erreicht wird. Es wäre daher zu prüfen, wie weit das pädagogische Arrangement heterogener Erfahrungen möglich und hier ein sinnvolles Mittel ist. Das traditionelle pädagogische Feld wird so aufgebaut, daß in ihm möglichst Gleichsinnigkeit aller Momente herrscht. An der Geschichte der so genannten Freizeitpädagogik hat sich das im letzten Jahrzehnt deutlich gezeigt: ihr Prinzip war (und ist), nach Maßgabe eines bestimmten Begriffs von gesundem Heranwachsen die Diskrepanzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, da man sie schon aus dieser nicht eliminieren kann, in die Pädagogik nicht eindringen zu lassen, um in bruchlos sich aneinanderreihenden ähnlichen Erfahrungen – in diesem Fall einer bestimmten Auswahl musisch-kultureller Tätigkeiten – dasjenige aufzubauen, was man sich als die integre Persönlichkeit des jungen Menschen vorstellt. Stattdessen ist ein pädagogisches Feld denkbar, das zwar nicht die außerpädagogische gesellschaftliche Wirklichkeit abbildet, aber doch diejenigen ihrer Dichotomien, die Rationalität erfordern oder evozieren können, in sich aufnimmt.
[016:27] 2. Damit hängt die Frage nach der pädagogischen Funktion von Konflikten zusammen. Bezeichnenderweise spielen Konflikte weder in der Erziehungspraxis noch in der pädagogischen Theorie irgendeine nennenswerte positive Rolle. Es wäre zu prüfen, ob und in welcher Weise Konflikte in den pädagogischen Prozeß hineingenommen werden können, denn es scheint mir sinnvoll zu sein, zu vermuten, daß ihnen in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage ein spezifischer Bildungssinn innewohnt. Die moderne demokratische Gesellschaft wurde von Dahrendorf als eine solche charakterisiert, für die die Regelung von Konflikten statt ihrer Unterdrückung kennzeichnend ist16
16Vgl. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961; ferner K. Mollenhauer, Einführung in die Sozialpädagogik, Weinheim 1964, S. 83 ff.
. Man muß aber wohl Dahrendorf entgegenhalten, daß sich mit mindestens dem gleichen Recht behaupten ließe, daß Konflikte von einem bestimmten Typ eben nicht geregelt, sondern eher beschwichtigt oder verdeckt werden. So gelangt etwa der fundamentale Konflikt des Jugendlichen in der industriellen Arbeitssituation kaum nach außen, sondern setzt sich als unformuliertes |a 675|Unbehagen, als Mißvergnügen, Unzufriedenheit und das Gefühl subjektiven Unglücks im Heranwachsenden fest. Gesetzt, diese Aussagen treffen wirklich die Sachverhalte, gäbe es mindestens zwei pädagogische Konsequenzen: die Einführung von Konfliktsituationen und die Einführung einer Praxis ihrer Regelung in das pädagogische Feld einerseits; andererseits die Formulierung, Aufklärung und Reflexion latenter Konflikte.
[016:28] 3. Auch die im Erziehungsprozeß auftretenden Sprachphänomene haben noch nicht die Beachtung gefunden, die ihnen in diesem Zusammenhang gebührt. Obwohl die Behauptung von der positiven Korrelation von Sprache und Bildung zum klassischen Bestand der deutschen Bildungstheorie gehört, ist sie von nennenswerter Bedeutung jedoch nur als Rechtfertigungshypothese für den altsprachlichen Unterricht und als didaktische Begründung für muttersprachliche Bildung geworden. Daß kritisches Vermögen nicht anders als im Medium der Sprache gedacht werden kann, Sprache deshalb im Hinblick auf Bildung fundamentale Bedeutung hat, darf eigentlich nicht ohne pädagogische Konsequenzen bleiben. Mir scheint, daß solche Konsequenzen nicht nur für die Höhere Schule oder nur für die Altersklasse der Jugendlichen zu ziehen wären, sondern daß unter diesem Gesichtspunkt der gesamte Prozeß des Heranwachsens betrachtet werden muß.
[016:29] 4. Zu prüfen wäre ferner, wie weit es möglich ist, in die alltägliche Erziehung, auch in die Schule, Situationen oder Vorgänge mit Ernstcharakter einzubauen – ein Problem, das die Erzieher immer wieder beschäftigt hat. Zwei Beispiele mögen das Problem zuspitzen: Die Schülermitverwaltung würde erst dann mehr als soziale Einübung oder Spielerei in einem von der Schulleitung zugelassenen Maß, wenn sie Interessenvertretung würde, d. h. selbst eine politische Situation nicht nur mit untauglichen Mitteln nachzuahmen versuchte, sondern produzierte. Das klingt freilich für die Lehrerschaft erschreckend und würde in der Tat den traditionellen Vorstellungen von Erziehung widersprechen. Mir scheint aber, daß es weder dem Begriff von Bildung noch den didaktischen und psychologischen Bedingungen der Erziehung entgegensteht. Mit dem Fernsehen verhält es sich ähnlich. Abgesehen von den Antipathien, die sich seiner Einführung in die
Pädagogische Provinz
widersetzen, befaßt sich die pädagogische Diskussion im Augenblick mit den Fragen der Programmgestaltung. Diese Diskussion führt möglicherweise im Prinzip zu nichts anderem als dem, was wir unter dem Namen des Lehrfilms bereits kennen, jetzt nur mit größeren Möglichkeiten, größeren inhaltlichen Varianten, methodisch geschickter. Eine besondere pädagogische Chance des Fernsehens aber liegt vielleicht in der Life-Sendung. Sie schafft eine Situation, auf die sich der Erzieher ebensowenig vorbereiten kann wie der Heranwachsende. Gerade dies aber wird – eine freilich anfechtbare Vermutung – das mehr oder weniger verdeckte Hauptargument gegen den pädagogischen Wert der Life-Sendung sein. Ich indessen meine, daß es das entscheidende Argument für sie ist: der Erzieher ist gezwungen, in spontaner Auseinandersetzung mit dem gegebenen Stoff die Praxis seines eigenen kritischen Bewußtseins zu demonstrieren. Allerdings verlangt das eine gebildete und wissenschaftlich ausgebildete Erzieherschaft, die selbst realisiert, was sie in den Präambeln der Bildungspläne von ihren Schülern erwartet.
[016:30] 5. Schließlich wäre zu fragen, ob eine Bildung zu kritischer Rationalität nicht dadurch gefördert würde, daß die pädagogischen Institutionen beweglich gehalten |a 676|würden, durch eine möglichst weitgehende Mobilität des pädagogischen Feldes. Dem scheint freilich die faktische Macht und Schwerfälligkeit, z. B. der Schule, entgegenzustehen. Um so größere Möglichkeiten enthält indessen in dieser Hinsicht die Jugendarbeit. Schon das Prinzip der Freiwilligkeit und die Vielzahl der verschiedenen Einrichtungen geben der Jugendarbeit eine mobilere Struktur. Zudem können die Heranwachsenden an den Einrichtungen selbst und ihrer Veränderung in weit wirksamerer Weise beteiligt werden, als das der Schule im Augenblick möglich ist. Insofern nun diese Mobilität nur für eine begrenzte Gruppe von Institutionen typisch ist oder sein kann, entstehen damit zugleich zwei voneinander abweichende Begriffe von Pädagogik. Diese Differenz ist ein Widerspruch, der allerdings nur dann fruchtbar und ein Moment gesellschaftlichen Fortschreitens, hier der Erziehungspraxis im Ganzen, wird, wenn die pädagogischen Institutionen vom Typus der Mobilität die widersprechende Funktion ihres Begriffs von Pädagogik gesellschaftlich-praktisch realisieren und sich nicht ihrerseits als pädagogische Provinzen etablieren.
[016:31] Mit der Institutionalisierung der Wissenschaft dokumentiert die Gesellschaft, daß sie die Kritik an sich selbst nicht nur zuläßt, sondern diese als ein konstituierendes Moment des ihr entsprechenden Bewußtseins verlangt. Die Einschränkung solchen kritischen Vermögens widerstreitet ihrem eigenen Begriff insofern und nur insofern, als sie sich für veränderungswürdig und veränderungsfähig hält. Veränderung ist als eine Veränderung durch die Subjekte nur möglich, solange noch ein Widerspruch gegen die Faktizität der gegebenen Lage erfolgt, solange ein Vernünftigeres als sie nicht nur denkbar ist, sondern auch ausgesprochen wird und als eine neue Praxis in ihren Zusammenhang eintritt. Der Erziehung fällt in diesem Zusammenhang zu, die subjektiven Bedingungen solcher Veränderbarkeit mindestens nicht zu verschütten, im Grunde aber sie hervorzubringen.