[016:1] Die Erziehung ist ein Vorgang, von dem man der Meinung sein könnte,
er stelle sich in der instinktähnlichen pflegenden und liebenden Zuwendung
der Mutter zu ihrem Kind in reiner oder – wie man mit Vorliebe sagt –
ursprünglicher Form dar. Was an diesem
„Urphänomen“
nicht
Natur sei, sei einerseits die spezifisch menschliche personale Liebe, die
hier das Kind um seines Wohles willen liebt, andererseits durch humane
Gesittung kulturell überformt und festgelegt, ein verläßlicher kultureller
Bestand, durch den das Heranwachsen des Kindes gesichert werden müsse. Die
darin sich zeigende pädagogische Struktur, so könnte man weiter der Meinung
sein, sei ursprünglich nicht nur im genetischen, sondern zugleich im
sachlichen Sinne des Wortes; in ihr zeige sich das
„Eigentliche“
der Erziehung, das nicht nur für das
Erziehungsverhältnis zwischen Mutter und Kind, sondern allgemein gelte.
Diese Meinung, da sie sich für Einsicht in das
„Wesen“
der Erziehung hält, formuliert damit nicht nur das angeblich Faktische,
sondern zugleich eine für das Erziehungsgeschäft fundamentale Norm. Um recht
erziehen zu können, bedarf es der Anschauung dieses Urphänomens und seiner
Transposition in die familienfernen Erziehungsverhältnisse. Die Aufgabe der
Erziehungswissenschaft wäre demnach die Explikation dieses
Pädagogisch-Eigentlichen, das – nach dem Sprachgebrauch dieser Meinung –
„sich verwirklicht“
, in welchem Bildung
„sich ereignet“
: die Explikation der
„zeitlosen, ewig
gültigen Idee der Erziehung“
. Jeder Versuch, neu auftretende
Erziehungsprobleme zu lösen, geschieht dann nach Maßgabe der in der
pädagogischen Ursituation vorgegebenen Struktur.
[016:2] Diese Meinung ist nicht nur in vielen ihrer Bestandteile falsch –
das wäre innerhalb eines sich ständig selbst korrigierenden Systems
wissenschaftlicher Aussagen zu verschmerzen –, sondern sie behindert
Pädagogik als Wissenschaft und führt an ihrer Statt nicht selten zu einer
mehr oder weniger geistreich vorgetragenen Rechtfertigungslehre.
Rationalität als Element der Praxis wie als Medium der Wissenschaft läßt sie
nur in einem eingeschränkten Sinne zu. Damit aber wird solche Meinung in
fataler Weise aktuell. Rationalität, Kritik und Planung werden zwar als
Zugeständnisse der modernen Gesellschaft gegenüber in der Erziehung und
deren Wissenschaft zugelassen, haben hier indessen aber keine
konstituierende Funktion. Während aber die Rationalität in der Form der Bewußtheit als Element der Erziehungspraxis
nur einen besonderen historischen Typus charakterisiert und ebensowenig zum
„Pädagogisch-Eigentlichen“
gehört wie eine naiv
verfahrende, man also sehr wohl – um welchen Preis auch immer – auf sie
verzichten könnte, ist sie doch für die Wissenschaft der Lebensnerv. Dieser wende ich mich daher zunächst zu, um dann
einige Entsprechungen in der Praxis aufzusuchen, die Präzisierung des
Problems durch den Bildungsbegriff darzustellen und schließlich einige
Hypothesen im Hinblick auf die Erziehungswirklichkeit zu wagen.
1.
[016:3] Der Streit um den Begründungszusammenhang der
Erziehungswissenschaft ist von ihrem Anfang an bis auf unsere Tage nicht
verstummt. Obwohl ein solcher Streit anders als im Medium strenger
Rationalität gar nicht gedacht werden kann, schließt |a 666|er doch nicht aus, daß seine Lösung dadurch versucht wird, daß aus der
Eigenart des spezifischen Gegenstandes dieser Wissenschaft gefolgert wird,
ihre Rationalität müsse begrenzt sein, sie sei ihrem Gegenstand zuliebe
gezwungen, von wissenschaftlich nicht weiter auflösbaren Entscheidungen und
Wertungen auszugehen, sei genötigt, diese in ihrem Verfahren wie in ihren
Sätzen ins Spiel zu bringen, Infolgedessen sei nur eine sich selbst beschränkende
Rationalität in der Lage, die Erziehungsphänomene der wissenschaftlichen Analyse
zugänglich zu machen. Diese Selbstbeschränkung der Rationalität scheint nun
aber die Erziehungswissenschaft in die Gefahr gebracht zu haben, in ihrer
Theorie an Begriffen und Sätzen festzuhalten, die nur angeblich im Interesse
der Erkennbarkeit des Gegenstandes weiteren kritischen Analysen entzogen
werden. Ja, es ist bisweilen nicht einmal die Erkennbarkeit, die auf diese
Weise gesichert werden soll, sondern das angebliche Ergebnis eines
vorgängigen Erkenntnisvorganges, von dem behauptet wird, daß er das
pädagogisch Gültige, das Pädagogisch-Eigentliche, das Wesen der Erziehung
zutage gefördert habe. So wird mit der Behauptung, Erziehung sei ein
irrationales Phänomen, zugleich ein irrationales Moment in die Theorie, die
das Phänomen beschreiben, verstehen und erklären soll, eingeführt.
[016:4] Besondere Schwierigkeiten bereitet hier die Rolle, die der Verantwortung in der Erziehungswissenschaft zugedacht wird. Es gehöre
„zu der Denkweise der Pädagogik, wie es zu der
Eigenart ihres Gegenstandes gehört, daß sie gewissermaßen allseits
von Verantwortung umgriffen ist, daß es in ihr letztlich überhaupt
keinen verantwortungsfreien Raum gibt“
1
1
E. Lichtenstein, Zur Metaphysik der pädagogischen Verantwortung,
in: Pädagogische Rundschau, 7. Jg. 1952/53, S. 50.
; oder: Voraussetzung der Erziehungswissenschaft sei
„die Befangenheit des Theoretikers in der
praktischen Aufgabe und an das pädagogische Tun. Er muß die
Verantwortung der Praxis teilen, ihre Ziele bejahen, von der
Verantwortung und von den Zielen aus denken ... erst die
Befangenheit an die Sache ermöglicht die
wahre wissenschaftliche Objektivität“
2
2
E. Weniger, Die Eigenständigkeit der Erziehung in Theorie und
Praxis, Weinheim (1952), S. 21.
. Diese Verantwortung gehöre also nicht etwa nur in den
Entdeckungszusammenhang der Erziehungswissenschaft, insofern nämlich erst
durch sie die für die Forschung relevanten Themen in den Blick kommen,
sondern in deren Begründungszusammenhang; sie
konstituiere das erziehungswissenschaftliche Denken. Sie sei darüber hinaus
eine spezifisch erzieherische Verantwortung, die sich aus einem
pädagogischen Ethos ergebe3
3Vgl. dazu besonders L. Froese Pädagogisches Ethos und gesellschaftlicher Auftrag,
in: Zeitschrift für Pädagogik, 7. Jg. 1961. S. 11 ff.
. Hier nun wird die Schwierigkeit deutlich, in die die
Erziehungswissenschaft auf diese Weise gerät: es wird kaum zu leugnen sein,
daß der Erziehungstätigkeit immer eine im Hinblick auf die gefaßte Aufgabe
besondere Art von Verantwortung korrespondiert; und
ebenso, daß sich auf diese Weise im Bewußtsein des Erziehers ein dem
Erziehungsprozeß zugehöriger Zusammenhang von Wertungen und Erfahrungen
etabliert, der als spezifisch pädagogisch erscheint. Diese im Bewußtsein des
Erziehers vor sich gehende Absonderung des Pädagogischen ist aber ein
irrationaler Prozeß, der gerade durch das Fehlen von Rationalität und Kritik
zustande kommt4
4Diese
Absonderung des
„Pädagogischen“
war
allenfalls noch in der pädagogischen Reformbewegung, in der
Theorie Herman Nohls historisch
„richtig“
,
da nur so es der Erziehungstheorie gelingen konnte, sich von
der konfessionellen wie der positivistischen Überfremdung zu
befreien. Heute noch an einer solchen Position festhalten
bedeutet, die damalige Lage der erziehungstheoretischen
Diskussion ideologisch reproduzieren.
. Das Bewußtsein, das sich und seine Positionen für rein pädagogisch
hält, wird getäuscht, da es die Tatsache, selbst gesellschaftlich vermittelt
zu sein, nicht reflektieren kann. Die Erziehungswissenschaft, statt dieses
Phänomen zum Ausgangspunkt ihres kritisch-rationalen |a 667|Verfahrens zu machen, bleibt selbst in der irrationalen Partikularität
befangen und verhindert damit jene Rationalität, die zu realisieren sie sich
doch anheischig machen möchte.
[016:5] Dieses allgemeine Problem nimmt eine Reihe besonderer Formen an,
von denen ich nur die auffallendsten nennen möchte. Die Frage nach dem Verhältnis der
Erziehungswissenschaft zur Empirie ist so alt wie die Erziehungswissenschaft selbst, seit nämlich Schleiermacher fragte, ob das Verfahren der pädagogischen Wissenschaft
empirisch oder spekulativ sein solle. Die von ihm geforderte Verschränkung
beider Verfahrensweisen aber ist in der Wissenschaftsgeschichte unter der
Hand zu einer Alternativ-Frage geworden: es ging schließlich nicht mehr um
das Problem, wie zwei rationale Verfahren in einer Wissenschaft kombiniert
werden könnten, sondern um die ausschließliche Gültigkeit des einen oder
anderen Wissenschaftsbegriffs. Die zweifelhaften Begründungen ihrer Theorie,
mit denen sich die Vertreter einer ausschließlich deskriptiv-empirisch
verfahrenden Erziehungswissenschaft versahen,
gaben ihren Kritikern scheinbar recht. Diese wiederum reproduzierten die
Vorurteile gegen die Empirie und verhinderten die doch mögliche Kontrolle
der eigenen Aussagen, die zwar in sich logisch stimmig sein mochten, in
ihrem Erkenntniswert indessen sehr beschränkt blieben. So kam es, daß erst
die Nachbardisziplinen, besonders Soziologie und Lernpsychologie, die
Erziehungswissenschaft auf die ideologischen Bestandteile ihrer Theorie
aufmerksam machen mußte. Hat die Nachbarschaft mit der Psychologie schon
seit geraumer Zeit ergiebige Formen angenommen, so
wird doch der Soziologie immer noch eine hartnäckige Abneigung
entgegengebracht, und zwar vermutlich deshalb, weil von ihr am
nachdrücklichsten die Eigenständigkeit jenes pädagogischen Ethos in Zweifel
gezogen wird. Die Hartnäckigkeit ist verständlich, da erst eine die
Vergesellschaftung des Menschen bis in die einzelnen Glieder des
Erziehungsprozesses hinein verfolgende Reflexion den pädagogischen
Irrationalismus ganz vernichtet, eine Reflexion, die sich anschickt, diesen
Irrationalismus nicht als illegitim, unangemessen oder falsch zu
qualifizieren, sondern ihn als gesellschaftliches Interesse zu
entlarven.
[016:6] Ein weiterer Aspekt des Dilemmas zeigt sich in der Behandlung des
Autoritätsproblems. Anstatt das Problem in empirisch gehaltvollen Aussagen einer
rationalen Kritik und Kontrolle zugänglich zu machen, was in den
benachbarten Sozialwissenschaften längst unternommen wird, wird es immer
noch und immer wieder als metaphysische Bedingung des Erziehungsvorgangs
dekretiert, als die sogenannte echte Autorität gerechtfertigt und damit,
sicherlich gegen den Willen der Autoren, einer irrationalistischen
Restauration als wirksames Argument in die Hände
gespielt. Hier ließe sich besonders eindringlich zeigen, was es sowohl für
die wissenschaftliche Erkenntnis wie auch für die Brauchbarkeit der
Ergebnisse bedeutet, wenn die pädagogischen Probleme aus dem
gesellschaftlichen Zusammenhang gelöst werden, in dem sie doch überhaupt
erst als wirkliche erscheinen5
5Gerade bei der
Analyse pädagogischer Autorität zeigt sich nämlich, wie
weitgehend in der Erziehung die in der Gesellschaft
vorwaltenden Herrschaftsverhältnisse reproduziert werden.
Dieser Zusammenhang wird in der Pädagogik immer noch
ignoriert, von wenigen Ausnahmen abgesehen (W. Strzelewicz, P. Roeder, U. Walz).
.
[016:7] Schließlich ist die immer noch wirksame Vorliebe der Pädagogik für
geschlossene Sozialsysteme zu erwähnen. Der Grund für diese Vorliebe scheint mir sowohl in der
kulturkritischen Tradition der Erziehungstheorie wie in der Suggestion zu
liegen, die von der Familie als dem angeblichen Ursprungsort des Erzieherischen ausgeht. |a 668|Man muß sich vor Augen halten, daß die pädagogische
Theorie seit der späten Aufklärung – ob zu recht oder nicht, bleibe
dahingestellt – sich in einem der Gesellschaft gegenüber kritischen
Selbstverständnis etabliert hat und dieses in eine gleichsam pädagogische
Rolle umzusetzen trachtete. Diese gegen die industrielle Gesellschaft und
besonders deren Mobilität gerichtete Kritik assoziierte sich mit dem Wunsch
nach sogenannten einfachen, elementaren, volkstümlichen Sozialformen, die
ungeschichtlich gedacht wurden.
[016:8] So entstanden nicht nur die literarischen Konzeptionen
pädagogischer Provinzen von Goethe und Fichte
bis zu Hermann Hesse, sondern
zugleich eine auf den pädagogischen Alltag hin entworfene Theorie, für die
der Gedanke einer der gesellschaftlichen Wirklichkeit gegenüber
abgeschlossenen heilen Welt pädagogischer Prozesse konstitutiv wurde. Durch den
pädagogischen Alleingang Pestalozzis in Stans, durch Fröbel, die Heimerziehung, die Jugendbewegung, schließlich durch
die Theorie Tönnies’ soziologisch unterstützt, gewann dieser Gedanke seine
zweifelhafte Dignität auch für die
Erziehungswissenschaft und entwickelte sich jene, allenfalls auf
individuelle Erfahrungen sich stützende Option für den geschlossenen
pädagogischen Raum, mit der die Hoffnung verbunden wird, der durch ihn
hindurchgegangene junge Mensch sei damit imstande, die Menschlichkeit in
einer widrigen Welt zu bewahren6
6Selbst bei
einem auf empirisch kontrollierbare Argumentation so
erpichten Autor wie W. Brezinka finden sich die folgenden Sätze:
„Was (in der Schule und angesichts ihres
säkularisierten Charakters) an Zielsetzungen
übrigbleibt, ist blaß, inhaltsarm und viel zu
unverbindlich, als daß es den Geist beschwingen
könnte“
(Erziehung als
Lebenshilfe, Stuttgart 1961², S. 163)
; infolgedessen bedürfe es der
„geschlossenen Gruppe als Ort der
Charakterformung“
(S. 250 ff.)
;
„Solange der jugendliche Charakter
noch plastisch bleibt, also bis zum Abschluß der
Reifejahre, kann die Erziehung nicht darauf
verzichten, daß möglichst in allen Gruppen, die auf
ihn einwirken, die gleiche Rangordnung der Werte
anerkannt wird“
usw.
(S. 261)
.
. Nun kann kaum geleugnet werden, daß der Familie gerade ihrer Geschlosenheit wegen fundamentale und unverzichtbare Erziehungswirkungen eignen.
Problematisch ist jedoch die Transposition dessen, was in diesem
beschränkten Erziehungsraum gilt, in das pädagogische Feld überhaupt. Mit
der Festlegung der Familie als der Institution des Pädagogisch-Eigentlichen,
als des
„schlechthin exemplarischen Musterbildes“
der Erziehung7
7
H. Döpp-Vorwald, Pädagogie – Pädagogik –
Erziehungswissenschaft, in: Pädagogische Rundschau, 17. Jg. 1963, S. 356
. Die frühen und einfachen Stufen pädagogischer
Besinnung – wozu vermutlich auch die pädagogische Besinnung
in jener musterbildlichen Familie gehört – seien zu
verstehen
„als immer gegenwärtige, zeitlose
Schichten des pädagogischen Bewußtseins“
(a. a. O., S. 357)
.
wird die Irrationalität der bürgerlichen Familie des 19.
Jahrhunderts in die Erziehungswissenschaft eingeführt, ein Akt, dessen
Konsequenzen bis in didaktische und schultheoretische Erörterungen hinein
verfolgt werden kann.
[016:9] Auf diese Weise werden nicht nur die Grenzen zwischen
wissenschaftlicher Aussage und Vorurteil bzw. bloßer Meinung ständig neu
verwischt, sondern werden auch die ideologischen Bestandteile der Theorie
immer wieder reproduziert. Die mangelhafte Rationalität der Theorie
ermöglicht es, ungestraft über Erziehung und Bildung zu reden und solches
Reden als in den Zusammenhang erziehungswissenschaftlicher Erörterung
gehörende Aussagen zu deklarieren, sofern die Aussage sich nur als
pädagogisch verantwortlich in dem gesellschaftlich partikularen Sinne des
Wortes ausweist.
„Pädagogisch ist unser Denken erst dann, wenn es von
sich läßt und die Menschlichkeit dieses oder jenes heranwachsenden
Menschen verantwortet.“
8
8K. Schaller, Vom
„Wesen“
der Erziehung,
Ratingen 1961, S. 16.
Schon die logische Grammatik dieses Satzes ist
kaum noch verständlich. Wie soll das Denken
„von sich
lassen“
? Soll in diesem Satz von der Praxis die Rede sein und gesagt
werden, daß das Denken zugunsten des verantwortlichen Handelns nachlassen,
das |a 669|theoretische dem praktischen Verhalten Raum
geben solle, wird man mit einem vernünftigen Streit, über die Funktion der
Rationalität in der Erziehungspraxis beginnen können. Indessen über die
Erziehungswissenschaft ist offenbar – entgegen dem Anspruch dieses Satzes –
nichts ausgesagt, denn sie kann das Denken schon ihrem Begriff als
Wissenschaft nicht
„von sich lassen“
, ob man es nun
pädagogisch nennen will oder nicht.
2.
[016:10] Theorie und Praxis der Erziehung zeigen eigentümlich gleichsinnige
Tendenzen. Wissenssoziologisch betrachtet ist das kaum verwunderlich: die
pädagogische Theorie hat sich immer in großer Nähe zur Praxis befunden, war
ein Produkt wie auch ein Mittel pädagogischer
Ausbildungszwecke, war – selbst noch als Hermeneutik der pädagogischen
Praxis – nicht selten deren Rechtfertigung. Sie ist, wie wenige
Wissenschaften sonst, seit Diesterwegs Zeiten ein Objekt standespolitischer Interessen
gewesen, was ihrer wissenschaftlichen Autonomie ebensowenig bekam, wie die
Tatsache, daß sie seit je eher als Lehre denn als Forschung betrieben
wurde.
[016:11] Diese Gleichsinnigkeit zeigt sich am Problem der
Autorität, das in der Praxis ein ähnliches Schicksal erleidet wie in der
Theorie. Die Erziehungswirklichkeit ist immer noch im Wesentlichen
hierarchisch geordnet; eine Hierarchie, in der die unteren Positionen von
der Jugend, die oberen von der Erzieherschaft besetzt sind. Legitimiert wird
diese Struktur durch die
„pädagogische Autorität“
, die
dem Erzieher kraft seiner Überlegenheit und seines personalen Gewichtes
zukommt. Es ist nicht Sache des Heranwachsenden, diese Autorität zu
kritisieren. Er lernt weder das Einsetzen, noch das Absetzen von
Autoritäten, sondern nur deren Anerkennung. Die pädagogische Autorität ist
deshalb faktisch Herrschaftsautorität. Es charakterisiert diese Autoritätsform, daß sie sich der
Rationalität verschließt, d. h. nicht kritisierbar, durch die
„Empfänger“
nicht änderbar ist. Lehrer, Eltern,
Heimerzieher scheinen sich nahezu darin einig zu sein, daß es – aus Gründen
der pädagogischen Verantwortung – unzulässig ist, die Zöglinge ernsthaft an
der Kritik und Veränderung des pädagogischen Feldes zu beteiligen. Die
Kritik und das Interesse der Heranwachsenden sind hier allenfalls ein Moment
der pädagogischen Taktik; für die Strategie spielen sie keine Rolle9
9Diese
Bemerkungen und die folgenden sind als zugespitzt
formulierte Tendenzen der Erziehungspraxis zu
betrachten.
.
[016:12] Eine konkrete Variante dieser Struktur findet sich in der politischen Bildung. Sie ist einerseits Kenntniserwerb und methodisch arrangierte
Diskussion, deren Ergebnis indessen in den wesentlichen Zügen von vornherein
festliegt; andererseits ist sie Einübung in eine als demokratisch
bezeichnete Praxis des Umgangs von Menschen miteinander, Ordnung von
Gruppenbeziehungen. Information und Einübung sind die Begriffe, mit denen
sich der pädagogische Vorgang nahezu erschöpfend
beschreiben ließe. Die politische Bildung reproduziert damit den kritiklosen
politischen Stil, auf den unsere Gesellschaft sich zuzubewegen scheint. Jedenfalls sind Rationalität und Kritik in ihrer
institutionellen Struktur kaum untergebracht. Bezeichnenderweise heißt es in
einem neuen Kirchenlied, von einer Evangelischen Akademie preisgekrönt und vorwiegend mit
Industriejugendlichen gesungen,
„danke für meine
Arbeitsstelle“
, ohne daß der politische
Quietismus und die Ironie bemerkt würde, die in einer Phase der
Überbeschäftigung darin liegt. Arbeitsstellen werden von Unternehmern bzw.
von denen gemacht, die gesellschaftliche Herrschaft ausüben.
|a 670|
[016:13] Weniger offensichtlich, darum aber nicht minder wichtig, ist in
diesem Zusammenhang die Rolle, die der Sprache im Erziehungsprozeß zugewiesen wird. Der Affekt gegen die Aufklärung,
mit dem die deutsche klassische Pädagogik begann, ist immer noch wirksam.
Das Postulat Pestalozzis,
„mit den gefährlichen Zeichen des Guten und Bösen,
mit den Wörtern“
vorangegangenes Erleben und Handeln als sittliches zu benennen und
zum Bewußtsein zu bringen, wird unverändert für gültig befunden, obwohl es
sich hier gerade nicht um Reflexion, um kritische Analyse des Erlebten und
Erfahrenen handelt, sondern um den Aufweis der Evidenz des angeblich
allgemein Geltenden. Was den geschichtlich-gesellschaftlichen Bedingungen
und den Erziehungssituationen, die Pestalozzi im Auge hatte, angemessen gewesen sein mochte, das
wird in der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage durchaus fragwürdig. Der
Lesebuchstil, dessen sich Volksschullehrer so gut wie Bundeskanzler bedienen
und der den deutschen Aufsatz wie einen großen Teil der Protokolle und
Referate von Studenten beherrscht, verrät eher die Bekanntschaft mit der
Sprache als einem Instrument der Erbauung, nicht aber als Mittel rationaler
Analyse.
[016:14] Eine besondere Bedeutung hat im letzten Jahrzehnt die Diskussion
um die sogenannte Gefährdung der Jugend
erlangt. Die dem pädagogischen Irrationalismus entsprechende Reaktion ist die
Praxis der Isolierung vom Jugendschutz bis zu einer Freizeitpädagogik, die
nur die nach Maßgabe eines bestimmten Begriffs von
sozialer Gesundheit erzieherisch verläßlichen Gegenstände und Tätigkeiten an
die Jugend herankommen lassen will. Als bester Schutz gegen die Gefährdung,
vornehmlich durch die Massenmedien, wurde und wird die Einrichtung
pädagogischer Schonräume empfohlen, die dem Heranwachsenden emotionalen Halt
und Sicherheit in einsinnigen Sozialordnungen gewähren. Als Kriterium für
den Bildungswert der in Frage kommenden Inhalte scheint weithin die
Irrationalität des Gegenstandes zu gelten – so etwa in der musischen Bildung
–, so, als müsse die Vernunft vor den sogenannten gefährdenden kulturellen
Produkten resignieren. Wenn die Rede von der Gefährdung der Jugend durch die
Massenmedien empirisch präzisierbare Wirkungen beträfe, wenn in der Tat die
subjektive Vernünftigkeit des Kindes und Jugendlichen nachweisbar vor
solchen Gegenständen prinzipiell versagen müßte und deshalb Verwahrlosung
oder auch nur Verflachung eine notwendige Folge wäre, könnten hier kaum
Vorwürfe gegen jenes Verfahren erhoben werden. Indessen befindet die
Pädagogik sich in der mißlichen Lage, weitgehend etwas als der Fall seiend
zu behaupten, das im wesentlichen doch nicht anders als in der Meinung
solcher Pädagogen existiert, deren irrationalistisches Engagement allerdings
diese Meinung als das entlarvt, was sie ist: die pessimistische Ideologie
des Unpolitischen10
10Das gilt –
jedenfalls in jüngster Zeit – weniger für die
erziehungswissenschaftliche Literatur, als für die zwischen
Wissenschaft und Feuilleton sich ansiedelnde Erbauungs-,
Beratungs- und
„Aufklärungs“
-Literatur.
.
[016:15] Die Liste der im Hinblick auf die Rationalität problematischen
Erscheinungen der Erziehungspraxis ließe sich noch
vermehren. Indessen sollte hier nur das Problem exponiert werden. In der
Entsprechung von Theorie und Praxis zeigt sich ein normativer Zirkel: durch
die Beschreibung der Praxis wird diese gerechtfertigt. Da die Verantwortung
des Theoretikers als die des Praktikers bestimmt wird, wiederholt sich in
der Theorie die normative Befangenheit. Die Theorie bleibt ohne
Erkenntniswert. Und umgekehrt ist die Tatsache, daß
die Praxis der Theorie entspricht, kein Beweis für die Richtigkeit der
Theorie; Theorie und Praxis
„bedingen sich gegenseitig“
,
wie es heißt, und reproduzieren ihre Vorurteile.
|a 671|
3.
[016:16] In den bisher vorgetragenen Bemerkungen wurde, da es sich um
Kritik handelte, ein Kriterium angewandt. Dieses Kriterium soll nun
expliziert und damit der Kern des im Begriff der Rationalität implizierten
pädagogischen Problems bezeichnet werden.
[016:17] Seit der Zeit Herders und Humboldts hat die deutsche Pädagogik im Bildungsbegriff das Entscheidende ihres Wollens, zugleich aber auch das bis heute
aktuell gebliebene Grundproblem formuliert. Der Begriff war beides: normativ
und kritisch. Das kritische Moment hat – innerhalb der Geschichte des
pädagogischen Denkens – seinen Ursprung bei Rousseau. Es geht auf die Erfahrung zurück, daß das
vergesellschaftete Dasein immer schon ein defizienter Modus der
Möglichkeiten des Menschen ist, daß die gesellschaftlichen Implikationen des
Heranwachsens prinzipiell dasjenige reduzieren, was als Mündigkeit doch die
erklärte Norm dieses Vorgangs sein sollte. In die Realität des preußischen
Staates und der merkantilistischen Ausbeutung umgedacht, folgte daraus für
Humboldt, daß – soll jene Norm der Mündigkeit nicht aufgegeben
werden – Erziehung in kritischer Distanz zur Gesellschaft und zum Staat zu
geschehen habe, weil nur so der die Unvernünftigkeit perennierende Druck der
Herrschaftsverhältnisse und Vorurteile reduziert werden könne11
11Vgl. dazu H. Blankertz, Berufsbildung und Utilitarismus, Düsseldorf
1963.
. Bildung ist – im Unterschied zu Erziehung – Aufklärung über die
Bedingungen der eigenen Existenz und Konkretisierung der Individualität in
der unter solchen Bedingungen möglichen
„Eigentümlichkeit“
.
[016:18] Indessen enthielt der Bildungsbegriff noch eine andere Komponente:
die Meinung nämlich, daß die Rationalität sich auf das Subjekt beschränken
dürfe, daß es hinreichend sei, auf die Verwirklichung der Individualität als
des
„ursprünglichen Ich“
zu dringen, daß durch die
Kultivierung der vielen Einzelnen als Glieder eines Ganzen das Ganze auf die
Dauer zur Vernünftigkeit umgeformt werde. Dieses privative Moment des
Bildungsbegriffes und der Optimismus, daß die
menschlichen
„Verfassungen“
– die Gesamtheit
gesellschaftlicher und staatlicher Phänomene – vernünftiger und humaner
würden durch Bildung als private Vervollkommnung der Individuen, war nicht
aus der Luft gegriffen. Solche Humanisierung konnte als realisierbare
Möglichkeit erscheinen, solange das Individuum
„sich gegen die öffentliche Macht aufrechterhalten
konnte, solange das private Dasein etwas Wirkliches darstellte,
etwas, was der Einzelne sich wirklich wünschte und selbst formte“
12
12
H. Marcuse, Eros und Kultur, Stuttgart 1957, S.
9
. Die Geschichte hat gezeigt, daß der Optimismus
ungerechtfertigt war. Die Kombination von rationalem,
gesellschaftskritischem Engagement und vorpolitischer Kultivierung der
Individualität wurde widersprüchlich in einer
gesellschaftlichen Situation, in der das zweite Moment nur zu retten war,
wenn man auf die kritisch-rationale Bewältigung des Verhältnisses von
Subjekt und Gesellschaft verzichtete, d. h. wenn man unpolitisch wurde und
alle soziologischen Implikationen aus der Bildungstheorie entließ. Und eben
dies trat ein. Der progressive Gehalt, der für die Konzeption der
Bildungstheorie von Rousseau
bis Schleiermacher
konstitutiv war, verschwand oder verblaßte allenfalls zu allgemeinen
Kategorien des Bildungsprozesses. Die ursprünglich in den Bildungsbegriff
investierte Rationalität wurde aufgegeben zugunsten einer Assoziation mit
konservativ-bürgerlichen Ideologien. Die Praxis flüchtete in die
Geborgenheit der unpolitischen pädagogischen Provinz; die Theorie in eine
Explikation des nun irrationalistischen Restbegriffs von Bildung.
|a 672|
[016:19] Ich behaupte nun, daß für die Pädagogik in unserer
gesellschaftlichen Situation das erste Moment des Bildungsbegriffs von
entscheidender Bedeutung ist, will diese Pädagogik mehr sein als eine
Rechtfertigungslehre dessen,
„was ohnehin geschieht“
.
Stimmt es nämlich, daß diese Gesellschaft kein bloßes Repetitionsphänomen
ist, d. h. daß die gesellschaftlichen Bedingungen in ihrem gegenwärtigen
Zustand nicht nur zu erhalten und u. a. auch durch die Erziehung zu
reproduzieren seien, dann fällt der Pädagogik als Praxis wie als Theorie die
Aufgabe zu, in der heranwachsenden
Generation das Potential gesellschaftlicher Veränderung
hervorzubringen. Insofern Bildung sowohl die kritische Rationalität, d. h. Einblick
in die Bedingungen der gesellschaftlichen Existenz enthält, als auch diese
Rationalität im Namen einer objektiv geltenden Vernünftigkeit verfährt,
enthält sie jenes Potential und schließt sie die Erziehungswissenschaft mit
der Erziehungspraxis zusammen: der dem kritisch-rationalen Verfahren, deren
sich die Wissenschaft beim Zustandekommen ihres Aussagensystems bedient,
zugrunde liegende Begriff der Rationalität ist zugleich Kriterium für
gelungene oder mißglückte Erziehung. Allein dieser Sachverhalt rechtfertigt
und sichert das Vorhandensein einer Erziehungswissenschaft; er ist die
gesellschaftliche Bedingung ihrer Möglichkeit.
[016:20] Daraus ergibt sich nachträglich, daß die Kritik am Zustand der
pädagogischen Theorie letzten Endes nicht positivistisch sein kann.
Geschichtlich-gesellschaftliche Gegenstände können mit den Mitteln
empirischer Erfolgskontrolle allein nicht hinreichend analysiert werden.
Andererseits aber bleibt die Gefahr der Ideologisierung auch so lange
bestehen,
„als Hermeneutik die Verhältnisse an dem allein
mißt, wofür sie sich subjektiv halten“
13
13
J. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik,
in: Zeugnisse. Th. W. Adorno zum 60. Geburtstag, Frankfurt/Main 1963, S. 480. S.
9
.Analyse der empirisch
nachprüfbaren Prozesse und Kritik der Zwecke, denen solche Prozesse wie auch die Analyse selbst unterstellt
werden, sind zusammengenommen erst die unteilbare Aufgabe der
Erziehungswissenschaft. Diese, als die institutionalisierte Rationalität der Erziehung, ist
ihrem Anspruch nach seit der Aufklärung ein Instrument gegen Dogmatismus in
jeder Form. Rationalität läßt sich deshalb nicht, ohne gegen sie selbst zu
verstoßen, auf die Lösung pragmatischer Probleme beschränken; sie kritisiert
prinzipiell jedes Dekret. Die Vernunft hat ein Interesse an Mündigkeit,
Autonomie des Handelns und Befreiung von Dogmatismus. Sie ist, als wissenschaftliche Praxis, nicht nur ein faktisches Moment einer aufgeklärten Gesellschaft, sondern
enthält auch zugleich den Willen zur Rationalität. Sie ist, wie Habermas formuliert, entschieden für Gerechtigkeit, Wohlfahrt, Frieden, entschieden gegen Dogmatismus; sie ist
„dezidierte Vernunft“
14
14
J. Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963, S.
235.
.
[016:21] Die irrationalen Elemente der Erziehungswissenschaft können zwar
durch konsequente Empirie reduziert werden. Würde die Erziehungswissenschaft
aber solche Reduktion als ihre ausschließliche Aufgabe betrachten, dann
würde sie dem Irrationalismus außerhalb ihres Verfahrens um so größeren Raum
geben. Der Irrationalität ist nicht durch Empirie allein, sondern nur
zusammen mit Hermeneutik beizukommen. Hermeneutik darf aber nicht nur
verstehender Nachvollzug eines subjektiv so oder so Gemeinten, sondern sie
muß zugleich und in diesem Verstehen Kritik sein. Das heißt, daß die
immanente Interpretation pädagogischer Gegenstände prinzipiell hinter der
hermeneutischen Aufgabe zurückbleibt. Zur Kritik und damit zu einem
rationalen Verfahren in dem totalen Sinne des Wortes wird sie nur, wenn sie
die |a 673|subjektive Vernünftigkeit der interpretierten
Sache an dem mißt, was objektiv möglich war, wenn das pädagogische Phänomen
als ein partikulares nicht nur gesehen, sondern auch im Zusammenhang der je
aktuellen gesellschaftlichen Interessen, als ein Teil des Ganzen, bestimmt
wird.
[016:22] Eine solche Bestimmung der je gemeinten Sache ist dadurch
kritisch, daß sie sie in ihr je Wirkliches und Mögliches auflöst. Eine
Erziehungstheorie, die entweder bei der Explikation dessen, was die Sache
sein möchte – die Gefahr der traditionellen geisteswissenschaftlichen
Pädagogik –, stehenbleibt oder sich mit der Analyse dessen, was sie ist –
die Gefahr einer rein empirisch konzipierten Pädagogik –, begnügt, verfehlt
damit den totalen Anspruch, den der Begriff der Rationalität enthält. Der
Prozeß der Vergesellschaftung begrenzt und beschränkt zwar immer die
Realisierung der Rationalität, aber er vernichtet nicht ihren Begriff.
Solange dieser noch lebendig ist, enthält die Wirklichkeit auch jene
Spannung des Wirklichen zum Möglichen, die zum Bewußtsein zu bringen die
Aufgabe der erziehungswissenschaftlichen Theorie ist. Das gelingt aber nur,
wenn eine rationale Analyse die Momente der Wirklichkeit, die Vernünftigkeit verhindern, in ihrer ganzen Komplexität
kritisiert und als das bezeichnet, was sie sind: Unterdrückung,
Verfälschung, Vorurteil, Ideologie.
[016:23] Insofern ist – und das läßt sich an der jüngsten
erziehungswissenschaftlichen Forschung unschwer zeigen – Rationalität
zunächst immer negativ. Ihre Kritik ist Verneinung der konstatierten
Unfreiheit. Sie kritisiert zwar im Namen einer besseren Erziehung – und
damit auch im Namen einer besser organisierten Gesellschaft –, tut dies aber
dadurch, daß sie die Mangelhaftigkeit des Faktischen durch die Konfrontation
mit dem Möglichen erweist. Das bedeutet nicht, daß es Aufgabe der
Erziehungswissenschaft sei, inhaltlich detaillierte Entwürfe einer
„besseren Erziehung“
vorzulegen, da diese, wollen sie
nicht utopisch sein, ihrerseits ein Ausdruck bestimmter gesellschaftlicher
Interessenlagen sein müßten, also von vornherein ein Gegenstand
erziehungswissenschaftlicher Kritik wären. Die Negation, da sie zugleich
Aufdeckung eines Möglichen ist, eröffnet lediglich
dem geschichtlichen Fortschritt, der Praxis der Vernunft, eine neue Chance.
Indessen: Diese Chance der Willkür gesellschaftlicher Interessen zu
überantworten, weil ihre Präzisierung mit einem puritanischen
Wissenschaftsbegriff nicht mehr zu vereinbaren
sei, hieße, die Wissenschaft in ihren Ergebnissen der zufälligen
Normativität der Ideologien überlassen, hieße, die Rationalität an einer
Stelle aufgeben, wo sie sich überhaupt erst zu bewähren hätte: die Verantwortung des Wissenschaftlers als Verantwortung für
die Realisierung von Mündigkeit schließt die Verantwortung für
die Praxis mit ein.
[016:24] Das bedeutet allerdings, daß Verantwortung nun doch ein
konstitutives Element der Erziehungswissenschaft ist. Diese Verantwortung
aber ist nichts der Erziehungswissenschaft Eigentümliches, es ist keine
gesellschaftlich partikulare
„pädagogische
Verantwortung“
, die in einem irrationalen Ethos gründet, sondern die
Verantwortung für das kritische Potential einer Gesellschaft, die ohne
rationale Kontrolle nicht das sein könnte, was sie ist bzw. was zu sein sie vorgibt15
15Entgegen
anderen Auslegungen scheint mir E. Weniger diesen Sachverhalt durchaus intendiert zu haben, wenn er schreibt, der Theoretiker
müsse
„von der Verantwortung und von den
Zielen aus denken“
. Wenn es dann weiter heißt, er müsse
„die pädagogische Haltung besitzen
und das pädagogische Ethos in seinem Denken
verwirklichen“
, dann bleibt diese Formulierung nur vertretbar,
solange
„pädagogisch“
hier soviel
bedeutet wie
„im Hinblick auf das Mündigwerden
des jungen Menschen“
(E. Weniger, a. a. O., S. 21)
.
„In diesem Sinne
ist die pädagogische Wissenschaft durchaus reflexion engagée. Ein verantwortliches Denken, das
eine geistige Entscheidung bei sich hat, klärt sich
auf, versteht sich aus seinen Voraussetzungen und
prüft sich in diesem seinem Wollen und seinem
Glauben. Es ist aber keineswegs voraussetzungslos,
und objektiv nur im Sinne der Sachtreue und inneren
Wahr|a 674|haftigkeit – aber nicht
im Sinne eines standpunktlosen, uninteressierten
Betrachters, der ein Objekt rein vor sich hat, als
wolle er nichts von ihm“
(W. Flitner, Das Selbstverständnis der
Erziehungswissenschaft in der Gegenwart, Heidelberg
1957)
. Diese Sätze könnten ganz im Sinne jener
entschiedenen Vernunft verstanden werden, wenn in ihnen
nicht offenbliebe, welcher Art denn diese
„geistige
Entscheidung“
ist.
.
|a 674|
4.
[016:25] Die so oft mit Recht geschmähte Kulturkritik der Pädagogen bekommt
damit ihren Sinn. Erziehungswissenschaft kritisiert im Namen der
vorenthaltenen Rationalität, d. h. im Namen eines Prinzips, das in der
Wissenschaft zwar besonders exponiert ist, aber doch in der gesamten
gesellschaftlichen Praxis gilt und im Bereich der Erziehung und Bildung als
„Mündigkeit“
zu einem Normbegriff verdichtet wurde.
Die praktische Frage, zu deren Beantwortung die Erziehungswissenschaft
beizutragen hat, lautet daher: Wie ist das pädagogische Feld
zu strukturieren, damit die Vernünftigkeit der zu erziehenden
Subjekte nicht verhindert, sondern gefördert werde? Deshalb möchte ich abschließend einige Hypothesen für die
Erziehungspraxis andeuten, deren Überprüfung mir sowohl im Hinblick auf die
gegenwärtige Praxis wie auch auf den Zustand der gegenwärtigen Theorie
sinnvoll zu sein scheint.
[016:26] 1. Aufklärung als ein rationales, im Medium des Wortes sich
abspielendes Verfahren wird kaum hinreichend sein, das Erhoffte – die
Mündigkeit – hervorzubringen. Das scheint mir schon allein deshalb der Fall
zu sein, weil es unwahrscheinlich ist, daß die ganze
Breite der heranwachsenden Generation von ihr in einem ernst zu nehmenden
und Folgen zeitigenden Ausmaß erreicht wird. Es wäre daher zu prüfen, wie
weit das pädagogische Arrangement
heterogener Erfahrungen möglich und hier ein sinnvolles Mittel ist. Das traditionelle
pädagogische Feld wird so aufgebaut, daß in ihm möglichst Gleichsinnigkeit
aller Momente herrscht. An der Geschichte der so genannten Freizeitpädagogik
hat sich das im letzten Jahrzehnt deutlich gezeigt: ihr Prinzip war (und
ist), nach Maßgabe eines bestimmten Begriffs von gesundem Heranwachsen die
Diskrepanzen der gesellschaftlichen Wirklichkeit, da man sie schon aus
dieser nicht eliminieren kann, in die Pädagogik nicht eindringen zu lassen,
um in bruchlos sich aneinanderreihenden ähnlichen Erfahrungen – in diesem
Fall einer bestimmten Auswahl musisch-kultureller
Tätigkeiten – dasjenige aufzubauen, was man sich als die integre
Persönlichkeit des jungen Menschen vorstellt. Stattdessen ist ein
pädagogisches Feld denkbar, das zwar nicht die außerpädagogische
gesellschaftliche Wirklichkeit abbildet, aber doch diejenigen ihrer
Dichotomien, die Rationalität erfordern oder evozieren können, in sich
aufnimmt.
[016:27] 2. Damit hängt die Frage nach der pädagogischen Funktion von Konflikten zusammen. Bezeichnenderweise spielen Konflikte weder in der
Erziehungspraxis noch in der pädagogischen Theorie irgendeine nennenswerte
positive Rolle. Es wäre zu prüfen, ob und in welcher Weise Konflikte in den
pädagogischen Prozeß hineingenommen werden können, denn es scheint mir
sinnvoll zu sein, zu vermuten, daß ihnen in der gegenwärtigen
gesellschaftlichen Lage ein spezifischer Bildungssinn innewohnt. Die moderne
demokratische Gesellschaft wurde von Dahrendorf als eine solche charakterisiert, für die die Regelung von
Konflikten statt ihrer Unterdrückung kennzeichnend ist16
16Vgl. R. Dahrendorf, Gesellschaft und Freiheit, München 1961;
ferner K. Mollenhauer, Einführung in die Sozialpädagogik, Weinheim
1964, S. 83
ff.
. Man muß aber wohl Dahrendorf entgegenhalten, daß sich mit mindestens dem gleichen
Recht behaupten ließe, daß Konflikte von einem bestimmten Typ eben nicht
geregelt, sondern eher beschwichtigt oder verdeckt werden. So gelangt etwa
der fundamentale Konflikt des Jugendlichen in der industriellen
Arbeitssituation kaum nach außen, sondern setzt sich als unformuliertes |a 675|Unbehagen, als Mißvergnügen, Unzufriedenheit und das Gefühl subjektiven Unglücks im Heranwachsenden fest. Gesetzt,
diese Aussagen treffen wirklich die Sachverhalte, gäbe es mindestens zwei
pädagogische Konsequenzen: die Einführung von Konfliktsituationen und die
Einführung einer Praxis ihrer Regelung in das pädagogische Feld einerseits;
andererseits die Formulierung, Aufklärung und Reflexion latenter
Konflikte.
[016:28] 3. Auch die im Erziehungsprozeß auftretenden Sprachphänomene haben noch nicht die Beachtung gefunden, die ihnen in diesem
Zusammenhang gebührt. Obwohl die Behauptung von der positiven Korrelation
von Sprache und Bildung zum klassischen Bestand der deutschen
Bildungstheorie gehört, ist sie von
nennenswerter Bedeutung jedoch nur als Rechtfertigungshypothese für den
altsprachlichen Unterricht und als didaktische Begründung für
muttersprachliche Bildung geworden. Daß kritisches Vermögen nicht anders als
im Medium der Sprache gedacht werden kann, Sprache deshalb im Hinblick auf
Bildung fundamentale Bedeutung hat, darf eigentlich nicht ohne pädagogische Konsequenzen bleiben. Mir scheint, daß solche
Konsequenzen nicht nur für die Höhere Schule oder nur für die Altersklasse
der Jugendlichen zu ziehen wären, sondern daß unter diesem Gesichtspunkt der
gesamte Prozeß des Heranwachsens betrachtet werden muß.
[016:29] 4. Zu prüfen wäre ferner, wie weit es möglich ist, in die
alltägliche Erziehung, auch in die Schule, Situationen oder Vorgänge mit Ernstcharakter einzubauen – ein Problem, das die Erzieher immer wieder beschäftigt
hat. Zwei Beispiele mögen das Problem zuspitzen: Die Schülermitverwaltung
würde erst dann mehr als soziale Einübung oder Spielerei in einem von der
Schulleitung zugelassenen Maß, wenn sie Interessenvertretung würde, d. h.
selbst eine politische Situation nicht nur mit untauglichen Mitteln
nachzuahmen versuchte, sondern produzierte. Das klingt freilich für die
Lehrerschaft erschreckend und würde in der Tat den traditionellen
Vorstellungen von Erziehung widersprechen. Mir scheint aber, daß es weder
dem Begriff von Bildung noch den didaktischen und psychologischen
Bedingungen der Erziehung entgegensteht. Mit dem Fernsehen verhält es sich
ähnlich. Abgesehen von den Antipathien, die sich seiner Einführung in die
„Pädagogische Provinz“
widersetzen, befaßt sich die
pädagogische Diskussion im Augenblick mit den Fragen der Programmgestaltung.
Diese Diskussion führt möglicherweise im Prinzip
zu nichts anderem als dem, was wir unter dem Namen des Lehrfilms bereits
kennen, jetzt nur mit größeren Möglichkeiten, größeren inhaltlichen
Varianten, methodisch geschickter. Eine besondere pädagogische Chance des Fernsehens aber liegt vielleicht in der Life-Sendung. Sie schafft eine Situation, auf die sich der Erzieher ebensowenig
vorbereiten kann wie der Heranwachsende. Gerade dies aber wird – eine
freilich anfechtbare Vermutung – das mehr oder weniger verdeckte
Hauptargument gegen den pädagogischen Wert der Life-Sendung sein. Ich indessen meine, daß es das entscheidende Argument für sie
ist: der Erzieher ist gezwungen, in spontaner Auseinandersetzung mit dem
gegebenen Stoff die Praxis seines eigenen kritischen Bewußtseins zu
demonstrieren. Allerdings verlangt das eine gebildete und wissenschaftlich
ausgebildete Erzieherschaft, die selbst realisiert, was sie in den Präambeln
der Bildungspläne von ihren Schülern erwartet.
[016:30] 5. Schließlich wäre zu fragen, ob eine Bildung zu kritischer
Rationalität nicht dadurch gefördert würde, daß die pädagogischen
Institutionen beweglich gehalten |a 676|würden, durch eine
möglichst weitgehende Mobilität des pädagogischen
Feldes. Dem scheint freilich die faktische Macht und Schwerfälligkeit, z. B.
der Schule, entgegenzustehen. Um so größere Möglichkeiten enthält indessen
in dieser Hinsicht die Jugendarbeit. Schon das Prinzip der Freiwilligkeit
und die Vielzahl der verschiedenen Einrichtungen geben der Jugendarbeit eine
mobilere Struktur. Zudem können die Heranwachsenden an den Einrichtungen
selbst und ihrer Veränderung in weit wirksamerer Weise beteiligt werden, als
das der Schule im Augenblick möglich ist. Insofern nun diese Mobilität nur
für eine begrenzte Gruppe von Institutionen typisch ist oder sein kann,
entstehen damit zugleich zwei voneinander abweichende Begriffe von
Pädagogik. Diese Differenz ist ein Widerspruch, der allerdings nur dann
fruchtbar und ein Moment gesellschaftlichen Fortschreitens, hier der
Erziehungspraxis im Ganzen, wird, wenn die pädagogischen Institutionen vom
Typus der Mobilität die widersprechende Funktion
ihres Begriffs von Pädagogik gesellschaftlich-praktisch realisieren und sich
nicht ihrerseits als pädagogische Provinzen etablieren.
[016:31] Mit der Institutionalisierung der Wissenschaft dokumentiert die
Gesellschaft, daß sie die Kritik an sich selbst nicht nur zuläßt, sondern
diese als ein konstituierendes Moment des ihr entsprechenden Bewußtseins
verlangt. Die Einschränkung solchen kritischen Vermögens widerstreitet ihrem
eigenen Begriff insofern und nur insofern, als sie sich für
veränderungswürdig und veränderungsfähig hält. Veränderung ist als eine
Veränderung durch die Subjekte nur möglich, solange noch ein Widerspruch
gegen die Faktizität der gegebenen Lage erfolgt, solange ein Vernünftigeres
als sie nicht nur denkbar ist, sondern auch ausgesprochen wird und als eine
neue Praxis in ihren Zusammenhang eintritt. Der Erziehung fällt in diesem
Zusammenhang zu, die subjektiven Bedingungen solcher Veränderbarkeit
mindestens nicht zu verschütten, im Grunde aber sie hervorzubringen.