Zur Einführung [in Mollenhauer & Müller, „Führung“ und „Beratung“ ] [Textfassung a]
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Zur Einführung

[020:1] Die beiden hier vorgelegten Abhandlungen – hervorgegangen aus Vorträgen, die bei Tagungen der sozialpädagogischen Studienkommission des Comenius-Instituts gehalten wurden – scheinen auf den ersten Blick wenig gemein zu haben. Sie scheinen sogar auf zwei entgegengesetzten Punkten der Skala pädagogischer Möglichkeiten zu liegen: Stil als definierbare Qualität unterschiedlichster pädagogischer Aktivitäten – Beratung als eine erzieherische Aktivität neuer Prägung; Stil als eine atmosphärische, habitualisierbare, institutionalisierbare Qualität des unmittelbar wahrzunehmenden erzieherischen Verhaltens – Beratung als ein intimes, persönliches Geschehen zwischen zwei Menschen, ganz im Medium des Wortes sich vollziehend, kaum methodisierbar, an die je konkrete und individuelle Situation gebunden. Diesem Unterschied der Gegenstände scheint ein Unterschied im erziehungswissenschaftlichen Stellenwert zu korrespondieren: dort, bei der Kategorie
Erziehungsstil
, handelt es sich um einen Begriff, der der empirischen Forschung in hohem Maße zugänglich ist, von dem sich sogar sagen ließe, daß seine Konzeption im Interesse der Erforschbarkeit pädagogischer Sachverhalte notwendig ist – hier, bei der Kategorie
Beratung
, handelt es sich um einen Begriff, der sich anscheinend gerade einer solchen empirischen Kontrolle weitgehend entzieht, für den Selbstbeobachtung und interpretierendes Verstehen die adäquaten Weisen des erkennenden Zugangs darstellen.
[020:2] So wenig indessen die gerade genannte methodologische Alternative richtig ist, so wenig stimmt es auch – wie sich zeigen wird –, daß die beiden genannten Phänomene wenig gemeinsam hätten. Wir halten sie für zwei – allerdings weit auseinanderliegende – Merkmale eines für unsere Erziehungswirklichkeit wichtigen Sachverhalts; für zwei Zugänge zu einem veränderten Verständnis dessen, was wir Erziehung nennen. Wir glauben nämlich, daß es für eine Theorie, die die aktuelle pädagogische Praxis erfassen will, weder zweckmäßig noch dem Fortschreiten dieser Praxis dienlich ist, dem sogenannten
Pädagogischen Bezug
in der überlieferten Fassung dieses Begriffs eine pädagogische und erziehungswissenschaftliche Schlüsselstellung einzuräumen. Statt uns aber auf eine ausdrückliche und kritische Interpretation vorliegender Erziehungstheorien einzulassen, erschien es uns sinnvoller zu sein, die vorhandenen erziehungswissenschaftlichen Aspekte und Begriffe zunächst zu erweitern, um damit eine strukturell anders geartete und – wie uns scheint – der zeitgenössischen Erziehungsproblematik angemessene Theorie vorzubereiten.
[020:3] Es ist nicht zufällig, daß beide Abhandlungen aus der Beschäftigung mit Phänomenen erwachsen sind, die am Rande der traditionellen Themen der Erziehungswissenschaft liegen: der Jugendarbeit im einen und der Sozial|a 4|arbeit im anderen Fall. Die Erziehungswissenschaft ist – wenn wir recht sehen – vorwiegend mit den Problemen der Schule befaßt. Das durch das Faktum Schule von vornherein in die Theorie eingehende Moment institutioneller Formung kann von ihr nur durch eine die Schule im Ganzen kritisierende Theorie überwunden werden, oder, noch weitergehend: durch eine Theorie, die alle Erziehungsverhältnisse auch als Reproduktionen gesellschaftlicher Herrschaft zu beschreiben sich bereit findet.
[020:4] Unter diesem Aspekt gewinnt ein Begriff wie der des Erziehungsstiles erhöhte Bedeutung. Es enthüllt sich im Erziehungsstil einer Zeit, einer Institution, einer Gruppe, eines einzelnen Erziehers nicht nur
schmerzhaft konkret der eingeschlagene Weg, die Wunschvorstellungen (im Hinblick auf das angestrebte Menschenbild) nachprüfbar zu verwirklichen
, sondern es enthüllt sich in ihm zugleich das Verständnis von Gesellschaft dadurch, daß er gesellschaftliche Verhältnisse pädagogisch-ästhetisch darstellt. Nicht die intime, das Wohl des Kindes wollende und auf sein
Selbst
gerichtete Intention des Erziehers rückt hier in den Mittelpunkt des Interesses, sondern die sozial-konkrete Form, in der sich diese Absicht äußert und die sowohl für das Heranwachsen der jungen Generation wie für die Gesellschaft im Ganzen folgenreich ist.
[020:5] In der Beratung dagegen haben wir es mit einem Typus pädagogischer Tätigkeit zu tun, der dieses Problem zu umgehen sucht. Als ein am Rande des Erziehungsfeldes gelegenes, die Kontinuität der Erziehungsvorgänge durchbrechendes, aufklärendes Verfahren versucht sie gerade, alle jene Faktoren auszuschalten, die in den alltäglich-sozialen Erziehungsverhältnissen die pädagogischen Möglichkeiten begrenzen, den Heranwachsenden auf institutionengebundene Rollen (als Lehrling, als Schüler, als Zögling, als Sohn oder Tochter usw.) festlegen oder doch wenigstens zu solcher Festlegung tendieren. In diesem aber zeigt sich, daß auch die Beratung einen Erziehungsstil produziert, allerdings einen solchen, der sich zu denen des pädagogischen Kontinuums kritisch verhält. Die Auffassung von Gesellschaft, die sich in ihm darstellt, ist eine kritische.
[020:6] Der innere Zusammenhang der beiden Abhandlungen wird damit deutlich: sie sind ein Plädoyer für eine bestimmte pädagogische Haltung, die sich auch in politischen Begriffen ausdrücken ließe, hier aber in den Formulierungen
demokratischer Erziehungsstil
und
Beratung
auftaucht. Beide Abhandlungen sind, mehr oder weniger direkt, Beiträge zu einer Kritik der pädagogischen
Autorität
.
[020:7] Von diesem Ansatz abgesehen, sind wir der Meinung, daß die beiden Gegenstände dieser Schrift dazu beitragen, die Rationalität unserer Erziehungswirklichkeit zu befördern, und zwar in dem doppelten Sinn des Wortes: Erziehungsstil und Beratung sind Begriffe, die die Kontrolle dessen ermöglichen, was in der mit ihnen gemeinten Erziehungspraxis geschieht, |a 5|und es sind Begriffe, die – in die Praxis eingeführt – die Rationalität dieser Praxis selbst erhöhen. Erziehungsstile und das Verfahren der Beratung sind erlernbar, sie sind nicht entscheidend an unauflösbare irrationale Bedingungen gebunden. Sie sind zudem übertragbar und in einer Vielfalt erzieherischer Situationen anzuwenden. Allerdings mit einer Einschränkung: Beratung in der hier beschriebenen Form enthält ein bestimmtes anthropologisch-gesellschaftliches Konzept; das gleiche gilt für die verschiedenen Erziehungsstile. Jeder Stil, faßt man den weiten Sinn dieses Begriffes ins Auge, enthält gravierende Voraussetzungen und Vor-Entscheidungen für die gesellschaftliche Existenz der zu erziehenden Menschen. Ein
demokratischer
Erziehungsstil wird nur dort wirkungsvoll praktiziert werden können, wo der Erzieher die ins Verfahren investierten Voraussetzungen teilt. Eine
faschistische
Gruppenpädagogik wäre keine
Gruppenpädagogik
, wenn man diesen Begriff nicht rein instrumental mißverstehen würde. Ein autoritärer Lehrer wird sich zwar die Techniken kooperativer Klassenführung aneignen können, sein Stil aber wird autoritär bleiben. Wer eine pessimistische Anthropologie vertritt, wird nicht beraten können, sondern nur Anweisungen geben.
[020:8] Schließlich versuchen beide Abhandlungen ein wenig zu einem immer noch nicht hinreichend detaillierten Problem der allgemeinen Didaktik beizutragen. Die Didaktik beschäftigt sich in der Regel mit solchen Erziehungsvorgängen, in denen kanonisierbare Inhalte vermittelt werden sollen in der Form der Lehre. Inhalte spielen überall, wo erzogen wird, eine konstitutive Rolle. Aber so wenig Erziehungsstile und Beratungsvorgänge eindeutig bestimmten Inhalten zuzuordnen sind – beide sind konvertibel –, so wenig sind sie doch rein formal. Unabhängig von den Inhalten, die mit ihrer Hilfe dem jungen Menschen mitgeteilt werden, enthalten sie selbst als Verfahren schon Mitteilungen über die vom Erzieher als erstrebenswert angesehene und praktizierte Form zwischen-menschlichen Verhaltens. Die Form, in der wir als Erzieher mit den jungen Menschen umgehen, hat wahrscheinlich weiterreichende Folgen, als das Wissen, das wir ihnen darstellen. Diese fundamentalen
Informationen
sind vielleicht das schwierigste Problem, das eine allgemeine Didaktik und Methodik zu bewältigen hat, ein Problem, das in der geisteswissenschaftlichen Theorie der Methode schon gesehen, aber – wenn wir uns nicht täuschen – bis heute unausgeführt geblieben ist.