Das Problem einer empirisch-positivistischen Pädagogik [Textfassung a]
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Das Problem einer empirisch-positivistischen Pädagogik

I.

[022:1] Der Titel dieses Referats ist irreführend in dreierlei Hinsicht, insofern nämlich die Ausdrücke empirisch, positivistisch und Pädagogik Assoziationen wecken könnten, die nur wenig gemein haben mit dem, was ich zu sagen vorhabe. Aber selbst auf die Gefahr hin, daß ich Unnötiges sage, möchte ich um folgende Zugeständnisse bitten: der Bedeutungsumfang des Ausdrucks
empirisch
erschöpft sich im Hinblick auf unsere Wissenschaft nicht in dem, was durch das Instrumentarium der empirischen Sozialforschung definiert werden könnte. Ähnliches gilt für den Ausdruck
positivistisch
: er bedeutet im folgenden eine Position, die auf eine Bestimmung der Natur der Wirklichkeit oder des Seins verzichtet und als theoretisch sinnvolle Sätze nur solche gelten läßt, die entweder Aussagen über Tatsachenverhältnisse enthalten oder Aussagen, die logische Verhältnisse ausdrücken. Diese Regeln gelten – so ist weiter die Meinung – für alle Wissenschaften, sofern sie es auf Erkenntnis abgesehen haben sollten. Es ist deshalb ungenau, wenn im Titel meines Referats das Wort
Pädagogik
steht, sofern nämlich dieser Ausdruck glauben machen könnte, es gehe bei der Beschäftigung dieses Namens um praktische Empfehlungen und nicht um theoretische Sätze. Ich bevorzuge deshalb den Ausdruck
Erziehungswissenschaft
.
[022:2] Das Ausscheiden von normativen Sätzen aus der Erziehungswissenschaft scheint für diese zu den beunruhigendsten – obschon nicht einmal problematischsten – Forderungen der neueren Wissenschaftstheorie zu gehören. Die Frage, ob aus der Feststellung dessen, was ist, Sätze gewonnen werden könnten über das, was sein soll, hat von Dilthey bis heute nahezu jeden Autor aus diesem Bereich beschäftigt. Das mag am Thema liegen: Die Sollensstruktur ist im Begriff der Erziehung gegeben. Dieser Begriff aber, wie immer ich zu ihm gelangt sein mag, ist an der Erfahrung prüfbar: die Erklärung von Vorgängen, die es mit dem Erwachsenwerden einer jungen Generation zu tun haben, ist nicht möglich, wenn ich alle normativen Aspekte ausschließe, bzw. sie gar nicht erst ins Spiel bringe1
1Hier ergibt sich nicht notwendig ein Widerspruch zu dem Satz M. Heitgers:
Normativität ist deshalb für die Pädagogik keine schmückende Beigabe, wenn die pädagogischen Entscheidungen argumentierbar bleiben sollen
(Über den Begriff der Normativität in der Pädagogik, in: Pädagogik als Wissenschaft, Neue Folge der Ergänzungshefte zur Vierteljahrsschrift für Wissenschaftliche Pädagogik, Heft 4, S. 41)
. Sofern im Begriff der Argumentierbarkeit aber die Frage nach der kritischen Begründung pädagogischer Entscheidungen angesprochen ist, nimmt der Satz Heitgers eine andere Richtung, und zwar diejenige, die am Schluß dieses Referats im Begriff der Emanzipation angedeutet wird.
. Das aber bedeutet nicht, daß die Erziehungswissenschaft Aussagen machen müsse über das, was sein soll. Es bedeutet lediglich, daß in den Phänomen, die sie beschreibt, immer irgend etwas sein soll. Das hat aber bekanntlich die Erziehungswissenschaft mit allen Geschichts- und Sozialwissenschaften gemeinsam. Es zeichnet sie in keiner Weise aus. Ausgezeichnet wird sie allerdings dadurch – oder besser: viele ihrer Autoren versuchen sie dadurch auszuzeichnen, daß sie der Beschreibung selbst eine normative Form zu geben trachten. Die Art der Verwendung von Adjektiven wie
verbindlich
und
gültig
im Zusammenhang von Aussagen über Normen und deren Geltung legt jedenfalls diese Vermutung nahe.
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[022:3] Das hier zum Ausdruck kommende Interesse an dem Problem der Geltung von Normen und ihrer Begründung hängt zusammen mit einer bestimmten Vorstellung von dem, was Erziehungswissenschaft sinnvollerweise zu sein habe: Eine Prinzipienwissenschaft nämlich; was in diesem Zusammenhang soviel heißen soll wie: Eine Wissenschaft, die die maßgebenden Prinzipien für pädagogisches Handeln zu ermitteln habe. Die im Folgenden zu skizzierende Auffassung von Erziehungswissenschaft als Erfahrungswissenschaft akzeptiert lediglich eine analytische Aufgabe. Sie beansprucht überhaupt nicht, was jene andere Meinung als das Kernproblem der Pädagogik zu beantworten versucht. Es geht ihr nicht um die begründende Formulierung von Maßstäben pädagogischen Handelns, sondern – sofern es sich um Normenprobleme handelt – um die Formulierung nachweisbarer Maßstäbe des faktischen Erziehungshandelns unter bestimmten raum-zeitlichen Bedingungen3
3Daß diese Askese nur methodologischer Natur ist, daß also darüber hinaus auch die Erfahrungswissenschaft einer Begründung bedarf, besonders sofern sie selbst Moment einer gesellschaftlichen Praxis ist, die sie sich andererseits zum Gegenstande macht und eben damit auch dem Problem einer
maßgebenden
Normativität verpflichtet bleibt, hat die wissenschaftstheoretische Diskussion der letzten Jahre in den Sozialwissenschaften erweisen können. Vgl. dazu vor allem J. Habermas, Analytische Wissenschaftstheorie und Dialektik. Ein Nachtrag zur Kontroverse zwischen Popper und Adorno, in: M. Horkheimer (Hrsg.), Zeugnisse. Festschrift für Th. W. Adorno, Frankfurt/Main 1963, und die anschließende Kontroverse mit H. Albert in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Jg. 1964 und 1965.
. Solcher Nachweis nun muß – nach diesem Wissenschaftsverständnis – einigen Regeln folgen, von denen ich hier diejenigen nennen will, die mir für die Erziehungswissenschaft vorerst am wichtigsten zu sein scheinen.

II.

[022:4] Eine harmlose Form hat das Problem der Empirie in der Erziehungswissenschaft, wenn man sie als ein Weg der Erkenntnisgewinnung unter anderen gelten lassen wollte. Sie wäre dann, in der Form empirischer Forschung, überall dort zugelassen, wo die Interpretation von vorliegenden sprachlichen und anderen Dokumenten zu unbefriedigenden Ergebnissen führt, wo – im Hinblick auf die Erkenntnis gegebener Erziehungsphänomene – Objektaussagen anders nicht möglich sind. In dieser Hinsicht scheint eine Art Burgfrieden zwischen den Parteien geschlossen zu sein. Niemand bestreitet, daß empirische Verfahren nicht auch zu pädagogisch relevanten Ergebnissen führen, sei es, daß man solche Verfahren innerhalb der Erziehungswissenschaft als Erweiterung ihres Erkenntnisinstrumentariums gelten lassen will, sei es, daß man sie lieber den benachbarten Wissenschaften wie Psychologie oder Soziologie zuweist, aber deren Ergebnisse durchaus als pädagogisch relevant gelten läßt.
[022:5] Durch den von mir verwendeten Ausdruck
Relevanz
sind nun allerdings zwei Positionen in eine Ähnlichkeitsbeziehung gesetzt, die ihnen in Wahrheit nicht zukommt. Ist es nämlich im ersten Fall durchaus sinnvoll, von einem Burgfrieden zu sprechen, insofern nämlich empirische Forschung als Hilfsverfahren Eingang in die Erziehungswissenschaft erhält, so ist doch im zweiten Fall nicht zu übersehen, daß die
pädagogische Relevanz
empirischer Forschungsergebnisse lediglich pädagogisch-praktischer, nicht aber pädagogisch-theoretischer Art ist. Das Empirie-Problem bekommt daher |a 55|auch erst im Hinblick auf diese Konzeption von Erziehungswissenschaft seine grundsätzliche Form, und zwar durch das sogenannte
empiristische Sinnkriterium
, welches besagt, daß alle theoretisch sinnvollen Sätze sich auf Beobachtbares beziehen lassen müssen. Oder anders formuliert: Jeder theoretische Satz muß so formuliert sein, daß er prinzipiell an der Erfahrung scheitern kann. Über die im einzelnen zu verwendende Methode ist damit noch nichts Besonderes gesagt; nur dieses Allgemeine ist präjudiziert: Alle Sätze müssen sich – von ihrer logischen Prüfung abgesehen – an der Erfahrung überprüfen lassen. Das heißt, daß der Frage nach den Forschungsmethoden die Frage nach der Wissenschaftssprache vorausliegt. Demnach wäre ein Text erst dann als nicht-wissenschaftlich zu qualifizieren, wenn es nicht gelänge, ihn auf deskriptive Sätze zurückzuführen. Dies allerdings wäre eine sehr liberale Handhabe des Prinzips: streng angewandt, würde schon ein solcher Text als nicht-wissenschaftlich anzusprechen sein, der durch die Art seiner Begriffsbildung sich solcher Reduktion zu entziehen trachtet.
[022:6] Das für die Erziehungswissenschaft so wichtige Problem der Introspektion wird davon allerdings nicht berührt. Innerhalb der positivistischen bzw. neo-positivistischen Wissenschaftstheorie, insbesondere der behavioristischen Spielart, ist ja immer wieder behauptet worden, daß Aussagen, die auf dem Wege der Introspektion gewonnen werden, für Erkenntniszusammenhänge irrelevant seien. Eine solche Konsequenz ergibt sich nicht notwendig aus diesem Ansatz. Auch introspektiv gewonnene Sätze folgen dem empiristischen Sinnkriterium, allerdings mit dem Unterschied, daß ihre intersubjektive Überprüfbarkeit problematisch ist. Dieser Hinweis ist deshalb wichtig, weil Aussagen dieses Typs für die Erziehungswissenschaft von besonderer Wichtigkeit sein könnten. Der Hinweis auf diesen Sachverhalt kann also nicht als ein Argument gegen eine empirisch-positivistische Erziehungswissenschaft gelten.
[022:7] Vom empiristischen Sinnkriterium ebenso unberührt wie die Introspektion bleibt die faktische Anwendung von bestimmten Methoden, wie etwa dem Experiment. Ob ich wirklich experimentiere, ist eine rein forschungstechnische zweitrangige Frage. Sie kann sehr wichtig werden, wenn sich zeigt, daß der Erkenntniszuwachs von der Anwendung dieses Verfahrens abhängt. Prinzipiell aber wäre es entbehrlich. Bergmann hat das so ausgedrückt:
Praktisch ist Experimentieren in der Wissenschaft ebenso unerläßlich, wie wir handeln müssen, um leben zu können. Im Prinzip jedoch ... könnten wir uns entschließen, Zuschauer zu bleiben und zu warten, bis die Situationen, die wir tatsächlich so scharfsinnig ersinnen, zufällig, wie man zu sagen pflegt, eintreten – vorausgesetzt nur, daß wir lange genug leben und geduldig sind. Vom wissenschaftlichen Standpunkt aus ist es allein entscheidend, daß sie eintreten, und nicht, daß wir sie zum Eintreten bringen.
3
3Gustav Bergmann, Sinn und Unsinn des methodologischen Operationalismus, in: Logik der Sozialwissenschaften hrsg. von Ernst Topitsch, Köln, 1965, S. 111.
. Oder noch deutlicher formuliert: es ist entscheidend, daß, wenn die ge|a 56|meinte Situation eintritt, sie sich auch wirklich unmißverständlich der Aussage zuordnen läßt, in der die gemeinte Situation zum Ausdruck kommt. Der Sinn einer Aussage also ist die Methode der Verifikation.
[022:8] Die Konsequenz solcher Regeln ist – das liegt in ihrer Absicht – Leerformeln zu vermeiden, die ohne Informationsgehalt und deshalb, zu beliebigen normativen Zwecken, manipulierbar sind. Charakteristisch für solche Formeln und Begriffe ist, daß sie des fehlenden Informationsgehaltes wegen auch nicht widerlegbar sind, was gegen wissenschaftliche Kritik immunisiert. Kritisierbar ist nur ihre Verwendung überhaupt, und zwar dadurch, daß man sie als Momente von
Immunisierungsstrategien
entlarvt. Die Pädagogik ist nicht arm an Begriffen – z. B.
Wohl des Kindes
,
Individualität
,
Natur des Ich
,
Personale Autorität
,
gültige Verwiklichung
– die nicht selten solche Strategien zu markieren scheinen. Der empirische Informationsgehalt einer Theorie ist aber unabdingbare Voraussetzung dort, wo ihre Richtigkeit und damit auch ihre Brauchbarkeit an der Erfahrung, d. h. also auch in der Praxis scheitern kann. Die Theorie muß deshalb der Möglichkeit des Scheiterns ausgesetzt werden. Nur ein Theorie-Verständnis, das ein verdeckt-dogmatisches Verhältnis von Theorie und Praxis voraussetzt, so daß die Theorie die Funktion hat, der Praxis ihre Maßstäbe zu setzen, kann an dem Informationsgehalt ihrer Aussagen desinteressiert sein,
geht es hier doch in Wirklichkeit gar nicht um die Gewinnung prüfbarer Tatsachenaussagen, sondern um die Erzielung erwünschter psychologischer Motivationswirkungen
4
4E. Topitsch, Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. von E. Topitsch, S. 25.
.

III.

[022:9] Der erste Schritt einer Erziehungswissenschaft als Erfahrungswissenschaft wäre demnach die Ermittlung solcher Grundbegriffe, die von vornherein die Zuordnung der aus ihnen folgenden Sätze zu empirisch Beobachtbarem mindestens nicht ausschließen. Es ist nicht sehr originell, wenn ich behaupte, daß man gerade dies von der Erziehungswissenschaft noch nicht behaupten kann. Begriffe wie
Bildung
,
Autorität
,
Pädagogischer Bezug
,
Begegnung
, aber auch
Selbstwerdung
oder
Menschwerdung
sind in der Regel nicht so beschaffen, daß sie dem genannten Kriterium entsprechen. Statt zur rationalen Analyse von Tatsächlichem, oder auch nur – das andere positivistische Wissenschaftskriterium – zur logisch genauen Bestimmung, ermutigen sie pädagogische Autoren viel häufiger zu einer metaphorischen Redeweise, die mit einer kontrollierbaren Wissenschaftssprache nur noch wenig – wenn überhaupt irgendetwas – gemein hat. Dies den Autoren allein anzulasten, schiene mir eine Verkennung der objektiven Tatsache Wissenschaft zu sein, denn der Zustand unserer Wissen|a 57|schaft verhindert nicht, sondern befördert geradezu die Neigung, mit Hilfe beliebiger Ausdrücke über alles und jedes zu reden, so daß bisweilen zum Beispiel pädagogisch-theoretische Texte von Texten des Deutschen Philologenverbandes überhaupt nicht mehr zu unterscheiden sind, und zwar in bezug auf die Form der Stätze, ihre logische Grammatik und empirische Überprüfbarkeit.
[022:10] Wenn man also mit Popper der Meinung ist, daß es das Ziel der Erfahrungswissenschaften sei,
befriedigende Erklärungen zu finden für alles, was uns einer Erklärung zu bedürfen scheint
5
5
K. R. Popper, Die Zielsetzung der Erfahrungswissenschaft, in: Theorie und Realität, hrsg. von H. Albert, Tübingen 1964, S. 73.
Zum Folgenden vgl. auch H. Albert, Probleme der Theoriebildung, a. a. O., S. 3 ff.
, dann hängt das Gelingen solchen Unternehmens offenbar fundamental davon ab, daß das zu Erklärende, das Explanandum, genau beschrieben wird. Danach befindet sich die Erziehungswissenschaft in ihrer ganzen Breite immer noch im Zustand des Beschreibens. Oder noch weniger: sie ist immer noch damit beschäftigt, das fundamentale Explanandum und die Möglichkeit seiner Beschreibung überhaupt zu diskutieren. Ich verhalte mich also insofern naiv, als ich voraussetze, daß es für die Erziehungswissenschaft Explananda gibt und infolgedessen ihre Zukunft als Wissenschaft davon abhängt, daß sie sie so exakt wie möglich beschreibt. Die Pädagogik befindet sich in dieser Hinsicht vermutlich – nach einer ironischen Anmerkung Poppers – in der Lage desjenigen, der das Phänomen der
Fliegenden Untertassen
erklären will, jedoch ohne schon über befriedigende Beschreibungen des Phänomens zu verfügen. Die amerikanische Sozialwissenschaft hätte nie diesen bedeutenden Vorsprung erreicht, wenn man dort nicht jahrzehntelang mit detailliertesten Beschreibungen verbracht hätte. In wie rohem Zustand sich dagegen noch unsere Fähigkeit zur Beschreibung befindet und welche Mühe sie uns macht, das zeigen etwa die Untersuchungen von Ursula Walz und die jüngste Studie von Andreas Flitner über die SOS-Kinderdörfer6
6Vgl. U. Walz, Soziale Reifung in der Schule, Hannover 1960; A. Flitner, G. Bittner und M. Vollert, Pädagogische Probleme des Kinderdorfs, Zeitschrift für Pädagogik, 12. Jg. 1966, S. 1–37.
. Unter diesem Aspekt ist die Erörterung unserer
Fliegenden Untertassen
– z. B. der
Begegnung
, z. B. der nicht in einen empirischen Horizont projizierten
Personagenese
, z. B. der
Autorität
als metaphysische Bedingung der Möglichkeit von Erziehung – vertane Zeit, sofern solche Erörterungen immer auch Aussagen über Empirisches enthalten und sofern die Erziehungswissenschaft mehr sein will als eine Reflexion der transzendentalen Bedingungen der Möglichkeit von Erziehung, der zwar nicht die philosophische Dignität abgesprochen werden kann, die aber ihre pragmatische Relevanz bisher nicht deutlich zu machen vermochte. Auch dies nämlich scheint mir ein Aspekt des problematischen Verhältnisses von Theorie und Praxis zu sein: daß nämlich die sogenannten Beschreibungen, Bestimmungen, Explikationen, etc. die Realität dessen, der erzieht, nur selten erreichen, und zwar deshalb, weil von der Realität dieser Praxis viel zu wenig in den Gehalt der Sätze eingeht, die von solcher Theorie produziert werden. Eine Prüfung dieser Hypothese wäre eine sicher nicht unwichtige Aufgabe der Erziehungswissenschaft.
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[022:11] Aber das wäre schon mehr als Beschreibung, es wäre eine nomologische Hypothese, in der ein Sachverhalt durch einen anderen erklärt werden soll. Wahrscheinlich ist die Hypothese noch zu unbestimmt formuliert, um sie überprüfen zu können. Das braucht uns hier aber nicht zu beunruhigen. Beunruhigend aber ist, daß hier scheinbar etwas über die Wirklichkeit gesagt ist, das selbst nicht reflektiert, sondern naiv vorausgesetzt wurde: nämlich, daß die Welt aus kausal miteinander verbundenen Phänomenen besteht. Um diesem Problem, dessen Nichtlösbarkeit mit guten Gründen behauptet werden könnte, zu entgehen, muß der Satz
ein Sachverhalt wird durch einen anderen erklärt
umformuliert werden. Denn genaugenommen, werden nicht Sachverhalte erklärt, sondern Sätze über Sachverhalte logisch miteinander verknüpft, und zwar so, daß der beschreibende Satz, das Explanandum, aus dem erklärenden Satz, dem Explanans, deduziert wird. Daß solche Satzfolge etwas mit der Wirklichkeit zu tun hat, ergibt sich nur daraus, daß die Sätze falsifizierbar sind. Wahrheit kann deshalb nur das Explanandum beanspruchen; das Explanans bleibt immer nur vermutlich wahr.
[022:12] Diese vielleicht pedantisch anmutende Bemerkung ist deshalb wichtig, weil häufig darauf hingewiesen wird, daß zwar in der Natur Kausalverhältnisse existieren, in der geschichtlich-gesellschaftlichen Welt dagegen nicht. So könnte also nicht argumentiert werden. Vielmehr müßte gezeigt werden, daß für die geschichtlich-gesellschaftliche Welt die Verknüpfung von Sätzen in der angegebenen Art sinnlos ist und nichts begreiflich macht.

IV.

[022:13] Die bisherigen Sätze enthalten – außer dem empiristischen Sinnkriterium – noch keine positiven Anweisungen im Hinblick auf die in der Wissenschaft zu verwendenden Methoden. Sie enthalten indessen eine negativ zu nennende Anweisung: jede dogmatische methodische Festlegung schränkt die Erkenntnismöglichkeiten ein, dadurch, daß sie das Fragen nach Erklärungen erschwert oder gar verhindert, die mit dem vorhandenen Methoden-Arsenal nicht möglich sind; solche Festlegungen verbieten sich also. Man könnte deshalb sagen, daß die hier zu skizzierende Position sich einerseits durch wissenschaftslogische Unduldsamkeit, andererseits aber durch außergewöhnliche methodologische Liberalität auszeichnet. Das bedeutet allerdings nicht, daß es keine Abstufungen in der wissenschaftlichen Dignität der Methoden gäbe. Diese bemißt sich nach der Chance, Hypothesen zu falsifizieren. Solche Falsifikation ist in den Methoden der empirischen Sozialforschung leichter, als bei der Beschreibung und Erklärung historisch-vergangener Ereignisse, und zwar einzig und allein aus dem Grunde, weil hier das Material, das ein Explanans ermöglichen kann, |a 59|prinzipiell begrenzt ist und durch neue Versuchsanordnungen nicht methodisch variiert werden kann. Das gilt auch für einen großen Teil pädagogischer Probleme: wir arbeiten mit Dokumenten, die in begrenzter Zahl vorliegen und nicht mehr ausgetauscht werden können; und wo wir experimentieren, unterliegen wir – jedenfalls zum Teil – der moralischen Einschränkung des methodischen Spielraumes.
[022:14] Dieser Vorbehalt aber berührt nicht den positivistischen Wissenschaftsgrundsatz, sondern sagt nur etwas über die eingeschränkteren Erkenntnisbedingungen einzelner Wissenschaften im Vergleich zu anderen. Positiv formuliert: dieser Vorbehalt verpflichtet die von ihm betroffenen Wissenschaften zu besonderer methodischer Phantasie. Diese Phantasie jedoch kann sich nur in der Wechselwirkung von Fragen und Methoden entfalten. Dabei ist nicht zu übersehen, daß der Methode ein konservatives Moment innewohnt: sie hat die Tendenz, die möglichen Fragen immer schon soweit einzuschränken, daß sie auf die vorhandenen Methoden passen. Die Gefahr besteht darin, daß nur noch gefragt wird, was mit Hilfe der bekannten Methoden beantwortbar erscheint. Dieser Konservativismus hat seinen Grund in einer methodisch-technischen Anweisung: der Forschungsgegenstand – damit die gestellten Fragen – sind operational zu definieren bzw. zu präzisieren. Sichert diese Anweisung einerseits die Kontrolle des angewandten Verfahrens und die Überprüfung der Ergebnisse, so suggeriert sie doch andererseits das Verbleiben beim vorhandenen methodischen Instrumentarium6
6Genau genommen, ist der Grund für solchen Konservativismus nicht in der Methode als solcher anzunehmen, sondern in ihren institutionellen Bedingungen – in einer Einschränkung des Fragespielraumes also, der mit der faktischen Funktion zusammenhängt, die empirische Forschung als Technologie im Dienste bestimmter gesellschaftlicher Zwecke häufig erfüllt. Vgl. dazu eine differenzierte Analyse dieses Zusammenhanges bei E. K. Scheuch, Sozialer Wandel und Sozialforschung, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, 17. Jg. 1965, S. 1 ff.
.
[022:15] Die damit der Methode faktisch zukommende Schlüsselstellung, insbesondere der gegenwärtig vornehmlich angewandten Verfahren von kontrollierter Beobachtung, Befragung, Test und Experiment, legt einen weiteren Einwand nahe: Da hier nicht durch den geschichtlichen Prozeß hervorgebrachte Dokumente der Formulierung wissenschaftlicher Sätze als Material dienen, sondern dieses Material für solche Formulierungen eigens erst hergestellt wird, könnte man daraus folgern, daß es sich um einen prinzipiellen Unterschied handelt, von dem auch die Erziehungswissenschaft betroffen ist. Die Erziehungswirklichkeit – wenn es erlaubt ist, diesen Ausdruck hier nicht-terminologisch zu verwenden – gibt es nicht kraft wissenschaftlichen Interesses, sondern sie ist dem theoretischen Interesse vorgegeben. Das Erkenntnisinteresse würde sich demnach nur dann angemessen realisieren, wenn dieses Vorgegebene unverstellt zur Kenntnis genommen würde. Die Methoden der empirischen Sozialforschung aber zeichnen sich ja gerade dadurch aus, daß der Gegenstand nur vermittelt zur Kenntnis kommt, und zwar derart vermittelt, daß man sagen könnte, er werde durch die Methode erst produziert: Die in Befragungen zum Vorschein kommende Meinung ist diejenige Meinung, die der Befragte als |a 60|Antwort auf die Interviewfrage hervorbringt! Das heißt, es entsteht in der empirischen Sozialforschung eine neue Schicht von Tatsachen, die nicht identisch sind mit den
ursprünglich vom Erkenntnis-Interesse gemeinten
Tatsachen.
[022:16] Mir scheint, daß man dies zugeben und dennoch den Einwand als nicht stichhaltig verwerfen kann, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde. Die durch die empirische Sozialforschung produzierten sogenannten Tatsachen fungieren in der gleichen Weise, in der im Zusammenhang nicht-empirischer Verfahren die zu interpretierenden Dokumente fungieren: sie müssen interpretiert werden, haben allerdings den großen Vorzug, auf kontrollierte Weise zustande gekommen zu sein; sie schränken damit zugleich den Interpretationsspielraum ein, d. h. sie reduzieren das subjektive Element zugunsten einer intersubjektiven Überprüfbarkeit der Interpretationsergebnisse.
[022:17] Eine solche Antwort aber braucht den, dessen Einwände die genannte Richtung genommen haben, noch nicht zu beruhigen. Er könnte darauf hinweisen, daß in den empirischen Verfahren, jedenfalls dort, wo sie auf den Menschen angewandt werden, ein Element gesellschaftlicher Entwicklung zur Methode geronnen sei, das mindestens einen beklagenswerten Sachverhalt eben dieser Entwicklung darstelle: die Verdinglichung des Menschen nämlich. Daß empirische Sozialforschung Verdinglichung, wenn auch methodische, bedeutet, braucht indessen gar nicht geleugnet zu werden7
7
Insofern das gegenwärtige Leben durch die zum Extrem getriebene Konzentration der ökonomischen Mächte weithin standardisiert, das Individuum weit ohnmächtiger ist, als es sich selber zugesteht, sind standardisierte und in gewissem Sinne entindividualisierte Methoden ebensowohl der Ausdruck der Situation wie das angemessene Mittel, sie zu beschreiben und zu durchdringen. Daß soziale Phänomene durch den Geist, durch das Bewußtsein der Menschen vermittelt sind, darf nicht dazu verleiten, jene Phänomene selber umstandslos aus einem geistigen Prinzip abzuleiten. In einer Welt, die weithin beherrscht wird von ökonomischen Gesetzen, über welche die Menschen wenig vermögen, wäre es illusionär, die sozialen Phänomene prinzipiell als
sinnhaft
verstehen zu wollen. Was bloßes Faktum ist, wird angemessen durch
factfinding-methods
getroffen. Wer gegen die Übertragung naturwissenschaftlicher Methoden auf das vorgebliche Gebiet des Geistes apologetisch eifert, der übersieht, daß die Gegenstände der Gesellschaftswissenschaft selber in großem Maße
naturhaft
, Ausdruck der zur zweiten Natur geronnenen Gesellschaft, und darum alles andere eher als geistbestimmt sind. Daß in ihnen die menschliche Zweckrationalität ein Moment abgibt, macht sie weder selber rational noch menschlich.
(Soziologische Exkurse, Frankfurter Beiträge zur Soziologie Band 4, hrsg. im Auftrag des Instituts für Sozialforschung von Theodor W. Adorno und Walter Dirks, Frankfurt am Main 1956, S. 110 f.
.
[022:18] Zunächst wäre auf einen historischen Zusammenhang hinzuweisen: Empirische Sozialforschung gehört vermutlich nicht zu den Ursachen des gesellschaftlichen Prozesses der Verdinglichung, sondern zu deren Folgen. Zudem ordnet sie sich diesem Zusammenhang nicht naiv ein, sondern ist ihm dialektisch zugehörig, was in diesem Falle heißen soll: sie ist eine kritische Reaktion auf den vorgegebenen Prozeß der Verdinglichung des Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft. Sie ist damit ein Instrument der Emanzipation, ihr
authentischer Sinn ist der kritische Impuls
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8Die Pädagogik trifft der Vorwurf, durch fehlende Empirie und mangelhafte Reflexion ihrer Begriffe den beklagten Prozeß nicht erkannt, wenn nicht sogar gefördert zu haben. Für sie gilt weit eher als für die Soziologie, was Adorno formuliert:
Gerade das Überwiegen der geisteswissenschaftlichen Tradition in der deutschen Soziologie erheischt als Korrektiv dringend die empirischen Methoden. Deren authentischer Sinn ist der kritische Impuls
(a. a. O., S. 111)
.
.
[022:19] Jedermann aber sieht sofort, daß das so nicht stimmen kann. Die Geschichte der empirisch-positivistischen Forschung nämlich zeigt selbst, daß sie – auch wo sie sich zunächst als emanzipatorisches Instrument verstand – nicht selten genau jenem Prozeß der Verdinglichung dienstbar wurde, dem sie zunächst widerstehen wollte: an der Geschichte der Gruppenforschung wie an einigen Tendenzen der gegenwärtigen Bildungs-ökonomischen Forschung9
9So ist zum Beispiel das Vorherrschen empirisch-ökonomischer Argumentationen im Zusammenhang der Reform des Bildungswesens möglicherweise geeignet, die Demokratisierung des Systems nicht zu fördern, sondern zu verschleppen. Vgl. dazu Claus Offe, Bildungsökonomie und Motive der Bildungspolitik, Neue Kritik, April 1966, S. 32 ff.
ließe sich das einleuchtend zeigen. Das bedeutet, daß Empirie innerhalb der Sozialwissenschaften sich deren Zweck entfremden kann – das bedeutet aber weiterhin, daß jener Zweck dem Forschungsinstrumentarium selbst nur auf mangehafte Weise innewohnt und einer Theorie bedarf, die nicht identisch ist mit der das Forschungsinstrumentarium |a 61|konstituierenden Theorie. Die gesuchte Theorie hätte zum Zweck dasjenige Interesse zu begründen, daß einerseits die empirische Forschung legitimiert, andererseits in dieser Forschung sich realisiert10
10Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, Merkur 19. Jg. 1965, S. 1139 ff.
.

V.

[022:20] Dieser Zusammenhang von Interesse und Erkenntnis weist auf dasjenige Problem hin, das die sozialwissenschaftliche Methodologie vielleicht am meisten beschäftigt hat, nämlich auf die Werturteile. Die Werturteilsproblematik hat eine Reihe von Aspekten, bzw. tritt in mehreren Formen auf, die ich hier nicht alle behandeln möchte. Mindestens drei aber sollte man in der Diskussion auseinanderhalten:
[022:21] 1. Die erste Form bezieht sich auf reine Sprachprobleme: es geht darum, allen wissenschaftlichen Sätzen eine deskriptive Form zu geben. Normative Sätze erhalten keinen Zugang, es sei denn, sie ließen sich in deskriptive transformieren.
[022:22] 2. Normen und Werte sind also nicht schlechterdings aus der Wissenschaft verbannt. Als Gegenstände der wissenschaftlichen Beschäftigung kommt ihnen – im Fall der Sozialwissenschaften – sogar eine eminente Bedeutung zu. Allerdings können sie dieser Bedeutung entsprechend nur behandelt werden, wenn die Maxime der Beschränkung auf deskriptive Sätze eingehalten wird11
11Vgl. H. Thiersch, Hermeneutik und Erfahrungswissenschaft, Die Deutsche Schule, 58. Jg. 1966, S. 15 f. In vieler Hinsicht enthält dieser Aufsatz Parallelen zum vorliegenden Referat. Vieles, was dort ausführlicher behandelt wird, ist in meinem Referat deshalb nur kurz angesprochen worden.
.
[022:23] 3. Unbeschadet solcher Enthaltsamkeit jedoch bleibt die Frage, ob nicht doch Wertgesichtspunkte notwendig ins Spiel kommen auch bei dem, der sich puristisch an die Regeln des Beschreibens und Erklärens hält. Das ist sicher richtig, wenn damit gemeint ist, daß es außerordentlich schwer sei, in der Beschreibung Wertgesichtspunkte zu vermeiden, enthält doch schon die Wahl des zu beschreibenden Gegenstandes solche Gesichtspunkte, die die Auffassung dieses Gegenstandes präformieren. Zunächst scheint dieser Hinweis die positivistische Position nicht zu erschüttern. Man könnte nämlich antworten, daß dies einerseits in den Entdeckungszusammenhang von Wissenschaft gehöre, nicht aber in ihren Begründungszusammenhang; es gelte daher, zu vermeiden, daß beide Probleme konfundiert werden. Gerade die strikte Einhaltung des empiristischen Sinnkriteriums ermöglicht ja eine beständige Kontrolle der in die wissenschaftlichen Sätze möglicherweise eingegangenen Wertungen. Andererseits behauptet auch diese Methodologie nicht, daß die Einhaltung ihrer Regeln schon Objektivität garantiere. Diese kann überhaupt durch keine methodische Anweisung endgültig gesichert werden. Objektiv seien die Verfahren und Resultate der Wissenschaft nur insofern zu nennen – so jedenfalls formuliert es Popper – als sie in einer rational diskutierbaren Form angewandt und vorgetragen werden. Die Objektivität der Wissenschaft besteht also darin, daß sie selbst einen |a 62|ununterbrochenen Prozeß wechselseitig rationaler Kritik der an diesem Prozeß Beteiligten darstellt12
12
Zusammenfassend kann man sagen, daß das, was wir die
wissenschaftliche Objektivität
nennen, nicht ein Ergebnis der Unparteilichkeit des einzelnen Wissenschaftlers ist, sondern ein Ergebnis des sozialen oder öffentlichen Charakters der wissenschaftlichen Methode; und die Unparteilichkeit des individuellen Wissenschaftlers ist, soweit sie existiert, nicht die Quelle, sondern vielmehr das Ergebnis dieser sozial oder institutionell organisierten Objektivität der Wissenschaft.
(K. R. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 2. Band, Bern 1957, S. 270).
.
[022:24] Auf diese Weise aber ist der Einwand, der auf die Unumgänglichkeit von Werturteilen hinweist, noch nicht abgewiesen. Dieser Einwand nämlich könnte eine andere, eine wissenssoziologische Richtung nehmen. Alle Sätze über pädagogische Sachverhalte treffen auf eine gesellschaftliche Praxis, die diesen Sätzen gegenüber nicht gleichgültig ist: sie treffen auf eine Interessenlage. Das bedeutet, daß in den Erfahrungsprozeß hinein eine gesellschaftliche Struktur wirkt, die für die Sozialforschung eine konstitutive Bedeutung entfaltet13
13Für die Erziehungswissenschaft ist dieses Problem noch nicht ausführlich erörtert worden. Für die Soziologie ist es expliziert von Christian v. Färber, Der Werturteilsstreit 1909/1959. Versuch einer wissenschaftsgeschichtlichen Interpretation, in: Logik der Sozialwissenschaften, hrsg. von E. Topitsch, Köln 1965, S. 165 ff.
. Diese Struktur ist durch die Tatsache konkurrierender Interessen bestimmt. Erziehung hat es nicht nur irgendwie auch mit solchen Interessen zu tun, sondern sie geschieht faktisch unter dem Anspruch solcher Interessen. Erkenntnis als eine Erkenntnis für gesellschaftliche Praxis kann nicht die Reflexion dieser Interessenproblematik gleichsam hinten anhängen, etwa in der Form der Diskussion vorgelegter Forschungsergebnisse, sondern sie muß diese Problematik zu Beginn des Forschungsprozesses bedenken. Das ist deshalb erforderlich, weil der Forschungsprozeß selbst, die methodische Verwendung des Instrumentariums, nicht nur keinen Raum für solche Reflexion läßt, sondern weil er selbst geeignet ist, diese Problematik zu verschleiern, da er – seiner Art nach – ein technologisches Erkenntnisinteresse suggeriert14
14Vgl. J. Habermas, Erkenntnis und Interesse, a. a. O.; und ders., Theorie und Praxis, Neuwied 1963.
. Die positivistische Forschungspraxis wahrt – so kann man deshalb sagen – nur den Schein der Wertneutralität. In Wahrheit dient sie häufiger – jedenfalls soweit sie auf jene Reflexion verzichtet – nicht nur einem bestimmten Erkenntnisinteresse, sondern zugleich einem Herrschaftsinteresse.
[022:25] Dies zu vermeiden, bedarf es keiner neuen, etwa nicht-empirischen Methodologie; es bedarf vielmehr eines theoretischen Rahmens, in dem das Wertproblem lokalisiert wird, möglicherweise dadurch, daß die mit dem Vorhandensein von Erziehungswissenschaft gesetzten Entscheidungen zum Ausgangspunkt des gesamten wissenschaftlichen Prozesses gemacht werden. Erziehungstheorie – gleichgültig ob empirisch oder spekulativ – ist aus der gesellschaftlichen Interessenlage, die die Erziehungspraxis bestimmt, so wenig zu lösen, wie diese Praxis selbst. Soweit aber diese Theorie es auf Erkenntnis abgesehen hat, muß es ihr darauf ankommen, diese Interessenlage wenigstens rational diskutierbar zu machen. Das aber ist ohne strikte Berücksichtigung des empiristischen Sinnkriteriums nicht mehr möglich15
15Die positivistische Wissenschaftstheorie meint gerade dieses Prinzip aller Wissenschaft auf Kant gründen zu können, der – wie Popper es formuliert – seine Kritik schrieb,
um zu zeigen, daß die Grenzen möglicher Sinneserfahrung und die Grenzen vernünftigen Theoretisierens über die Welt identisch sind
(Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, 1. Band, S. 15).
. Und schließlich: ist rationale Diskutierbarkeit das Kriterium für die Vertretbarkeit einer wissenschaftlich gemeinten Aussage, dann kommt darin zugleich zum Vorschein, was sie jedem Herrschaftsinteresse gegenüber auszeichnet: das Interesse an Emanzipation. Es ist das gleiche Interesse, das auch der Erziehungspraxis in einer Gesellschaft zu substituieren wäre, die sich selbst als sich demokratisierend interpretiert – der gleichsam bessere Begriff der Sache, ihre real bessere Möglichkeit.