Hochschulreform und Hochschuldidaktik [Textfassung a]
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Hochschulreform und Hochschuldidaktik

[027:1] Der pädagogische Auftrag der Universität und ihre praktische Funktion im gesellschaftlich-politischen Zusammenhang werden in dem Maße realisiert werden können, in dem – neben den institutionellen Überlegungen und Reformen – die hochschuldidaktische Reflexion an Bedeutung gewinnt.
[027:2] Was heißt also Hochschuldidaktik? Hartmut von Hentig hat eine Antwort auf diese Frage versucht und an einer Reihe von Bestimmungen der Wissenschaft das ihr selbst innewohnende didaktische Prinzip erläutert. Dieses didaktische Prinzip sei
die notwendige Verbindung von Erkenntnis und Kommunikation
. Das zeige sich darin, daß Wissenschaft angewiesen ist auf
Mitteilbarkeit, Verständlichkeit, Gewißheit, Kontinuität
. Alle Bestimmungen zeigen, daß der Zusammenhang von Erkenntnis und Kommunikation notwendig ist, wenn überhaupt von Wissenschaft gesprochen werden soll. Hochschuldidaktik wäre demnach die Theorie und Praxis derjenigen Konsequenzen für akademische Lehren, die im Zusammenhang mit jenem Prinzip stehen. Mit dem Prinzip ist gesagt, daß Erkenntnis nur insofern zur Wissenschaft wird, als sie kommunizierbar gemacht wird ...
[027:3] Der von H. v. Hentig postulierte
notwendige Zusammenhang von Erkenntnis und Kommunikation
erschöpft sich aber nicht in den Problemen der wissenschaftlichen Produktion. Die Universität hat mit der Institutionalisierung von Wissenschaft und ihrer Vermittlung ein soziales System hervorgebracht, das seinen praktischen Ort in der Gesellschaft hat. Es bringt außerdem in sich selbst auch soziale Probleme hervor, die zwar auf die Vermittlung von Wissenschaft bezogen bleiben, aber nicht ihr allein entstammen. Kurz: Was sie tut oder unterläßt, wie sie sich selbst organisiert, wie sie mit Studenten umgeht, hat politische Bedeutung. Stil und Methode der Lehrveranstaltungen, Instituts-Ordnungen, Universitätssatzungen sind keine politisch-neutralen Regelungen des sozialen Systems, sondern Reproduktionen politischer Verhältnisse, auch wenn den Beteiligten das Bewußtsein davon fehlt. Auch in der Universität wird Macht verteilt und Herrschaft ausgeübt.
[027:4] Für diejenigen, die als Auszubildende diese Institution durchlaufen, kann es deshalb nicht gleichgültig sein, wie so etwas geschieht. Die soziale Form, in der die Universität sich präsentiert, definiert nicht nur den sozialen Handlungsspielraum des Studenten, sondern – und das ist im Zusammenhang meines Themas wichtig – bedingt dessen politisches Bewußtsein. Was für die Aneignung von Wissenschaft gilt – daß nämlich erst die Beteiligung am Erkenntnisprozeß die rationale Diskussion als Medium der Hochschuldidaktik ermöglicht – gilt auch hier: politisches Bewußtsein entsteht höchstwahrscheinlich nicht durch wohlmeinende Vermittlung sogn. politischer Kenntnisse, durch Domestikation in Wohnheimen und Kollegienhäusern, durch Vortragsreihen politischen Inhalts. Solche Maßnahmen können vielmehr erst dann eine politisch bildende Wirksamkeit entfalten, wenn die Beteiligung am Erkenntnisprozeß durch politische Beteiligung ergänzt wird. Alle anderen pädagogischen Aufgaben, die die Universität noch wahrnehmen könnte, scheinen mir neben diesen beiden sekundär, ja verzichtbar zu sein. Aber sie müßte alles tun, um Bedingungen zu schaffen, um solche Beteiligung zu ermöglichen. Denn unter anderem darin könnte sich erweisen, ob die Universität imstande ist, das Problem zu bewältigen, das mit dem Zusammenhang von Wissenschaft und gesellschaftlicher Praxis heute sich eingestellt hat. Bildung durch Wissenschaft führt zu einer zeitgemäßen Form von Halbildung, wenn nicht mit ihr die Bildung des politischen Bewußtseins einhergeht.
[027:5] Was sich aus solchen Überlegungen für die Universität im einzelnen ergibt, oder besser: in welcher Richtung Lösungen zu suchen wären, ist unter den gegebenen Bedingungen leicht zu folgern. Ich will nur einiges andeuten und sage damit nichts Neues: Der bei uns praktizierte Typ der Vorlesung ist kein fraglos ehrwürdiges Kernstück der akademischen Lehre, das schon allein durch sein Alter sich bewährt hätte. Das gilt insbesondere dort, wo sie sich vornehmlich mit einer Datenvermittlung befaßt, die auch anders zu gewinnen wäre. Zu fragen ist vielmehr, ob nicht ein Vorlesungstyp – und das sollte für alle Disziplinen gelten – zu entwickeln wäre, der die in solchen Veranstaltungen naheliegende Rezeptivität des Hörers auf ein Mindestmaß beschränkt.
[027:6] Ähnliches gilt für die Seminare: wir benötigen die systematische Erprobung von Methoden der Seminarführung, die ein Optimum von dem ermöglichen, was ich die
Beteiligung am Erkenntnisprozeß
genannt habe.
[027:7] In diesem Zusammenhang können Vorlesungs- und Seminar-Rezensionen hilfreich sein. Sie werden umso hilfreicher sein, je mehr die rezensierende Studentenschaft selbst sich am Prozeß der didaktischen Reflexion beteiligt und diskutierbare Kriterien entwickelt, an denen Lehrveranstaltungen gemessen werden können. Solche Rezensionen haben zudem den Vorzug, zugleich ein politisches Moment zu enthalten: sie durchbrechen bestehende Hierarchien, und zwar angesichts eines Gegenstandes, vor dem sich diese Hierarchien ohnehin nicht legitimieren könnten: Über hochschuldidaktische Probleme wissen die Dozenten kaum Genaueres zu sagen als die Studenten; man könnte auf gleicher Basis diskutieren.
[027:8] In den Instituten und über sie hinaus müssen wir die wissenschaftliche Kooperation lernen. Nicht die Produktion einsamer Einzelleistungen vermag auf die Dauer dem Verhältnis von Wissenschaft und Praxis gerecht zu werden. Im Medium der Diskussion der Forschenden am Ort der Forschungspraxis selbst wird sich wesentlich leichter jene Rationalität herstellen, in der das Bewußtsein der gesellschaftlichen Bedingungen von Wissenschaft wachgehalten werden kann.
[027:9] Daß die Studentenschaft in den Grenzen der universitären Entscheidungen, in Fakultäten und Senat beteiligt wird, scheint mir unabdingbar zu sein, wenn die Universität nicht ihre Verantwortung für die Bildung des politischen Bewußtseins überhaupt leugnen will. Von Verantwortung zu reden, ohne zugleich eine konkrete Entscheidungs- und Handlungsmöglichkeit einzuräumen, ist entweder blind oder absichtlich verschleiernd, wenn nicht eine leere Liturgie, folgenlos immer wiederholt. Formulierungen in Universitätssatzungen, wie die, die Universität wolle die Studierenden
zu verantwortlichem Dienst an Staat und Gesellschaft
bilden, bleiben dann ohne Sinn, wenn sie nicht vielleicht doch den Sinn haben, jede kritisch-rationale Bildung abzuweisen und unter dem Tarn-Namen der
Verantwortung
politischen Quietismus hervorzubringen. –