Erziehungswirklichkeit [Textfassung a]
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Erziehungswirklichkeit

[034:1] Das Problem, das sich bei dem Versuch ergibt, den Gegenstand der Pädagogik zu bestimmen, ist im Laufe der Geschichte dieser Wissenschaft nicht etwa einfacher, sondern komplizierter geworden. Es verwickelte sich in dem Maße, in dem immer neue Bereiche, Institutionen und Aspekte zum Gegenstand der Theorie wurden und damit die theoretische Tätigkeit der Pädagogik einerseits an Umfang zunahm, andererseits aber auch gehalten war, die Kontingenz der verschiedenen
Gegenstände
zu erweisen; solange jedenfalls, als sie davon ausgehen will, daß der Ausdruck Erziehung, der im Sprachgebrauch der Praxis diese Gegenstände der Reflexion zusammenfaßt, der Sache nach geboten ist. Dieser Zusammenhang ist von der Theorie nicht einfach zu behaupten, sondern er ist als solcher zu begründen. Das kann prinzipiell auf zweierlei Weise geschehen: Durch eine Ermittlung dessen, was das Wesen, die eigentümliche Wirklichkeit von Erziehungsprozessen ausmacht, und durch den Ausgang von dem Selbstverständnis einer erziehenden Generation innerhalb eines gegebenen Kultursystems, von derjenigen gesellschaftlichen Praxis also, die in dem Bewußtsein der erziehenden Generation als eine pädagogische sich darstellt.
[034:2] Der erste Weg führt über eine Reflexion des Wirklichkeitsbegriffs zum Versuch der Bestimmung dessen, was als das Wirklichsein der Erziehungswirklichkeit bezeichnet werden könnte. Der zweite Weg hält sich streng in den Bahnen der historischen Reflexion und verbindet mit ihr ein operationales Element des Begriffs: Zur Erziehungswirklichkeit gehört alles, was angesichts einer geschichtlichen Lage zum Zwecke des Erwachsenwerdens der jungen Generation mit dieser geschieht. Erich Weniger, obwohl er den Ausdruck Erziehungswirklichkeit selbst nicht terminologisch fixiert hat, gehört den Theoretikern dieses zweiten Weges zu. Ausgangspunkt aller Bezugnahmen auf Erziehungswirklichkeit ist die durch historische Analysen erweisbare Annahme, daß – zum Zwecke des Erwachsenwerdens der jungen Generation – jede Kultur oder Gesellschaft ein funktionelles kulturelles Teilsystem ausbildet, das, als Objektivation der vielen subjektiven Erlebnisse und Erfahrungen, erst als sinnvoller Gegenstand einer Wissenschaft sich darstellt.
Aus dem Leben erwachsend, aus seinen Bedürfnissen und Inhalten ist sie (die Erziehungswirklichkeit) da, als ein Zusammenhang von Leistungen durch die Geschichte hindurchgehend, sich aufbauend in Einrichtungen, Organen, Gesetzen – zugleich sich besinnend auf ihr Verfahren, ihre Ziele und Mittel, Ideale und Methoden in den Theorien – eine große |a 292|objektive Wirklichkeit wie Kunst und Wirtschaft, Recht und Wissenschaft, ein relativ selbständiges Kultursystem, unabhängig von den einzelnen Subjekten, die in ihm tätig sind und von einer eigenen Idee regiert, die in jedem echt erzieherischen Akt wirksam ist und doch wieder nur faßlich wird, in ihrer geschichtlichen Entfaltung
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Herman Nohl, Die pädagogische Bewegung in Deutschland und ihre Theorie, 3. A., S. 119, Frankfurt/Main 1949.
; sie ist
das Phaenomenon bene fundatum
, von dem die wissenschaftliche Theorie auszugehen hat. Diese programmatische Behauptung Herman Nohls ist die Basis, auf der Wenigers Verständnis von Erziehungwirklichkeit sich entfaltet und auf der er die verschiedenen Aspekte des damit formulierten Problems, allerdings eher implizit als expressis verbis, zur Sprache gebracht hat.
[034:3] Mit der Forderung, die wissenschaftliche Theorie der Erziehung habe von der Erziehungswirklichkeit auszugehen, ist zweierlei gesagt: Der Gegenstand der Pädagogik ist als ein in der Geschichte verlaufendes Geschehen benannt, das zugleich sich in einem objektiv faßbaren und tradierbaren System von Institutionen, Intentionen und Methoden niederschlägt. Zum anderen ist – und dies hat Weniger vor allem interessiert – damit ein eigentümliches Verhältnis der Theorie zu ihrem Objekt angedeutet. Dieses Verhältnis, als die Bedingung der Möglichkeit pädagogischer Erkenntnis, ist seinerseits ermöglicht und gefordert von der Erziehungswirklichkeit her. Die wissenschaftliche Theorie der Erziehung nämlich ist nicht das Resultat einer kontinuierlichen Ausweitung des Erkenntnisinteresses, in dessen Rahmen dann auch als nur für die Erkenntnis interessanter Gegenstand die Erziehung erscheint. Vielmehr ist sie das Ergebnis der geschichtlichen Bewegung des Gegenstandes selbst. Das die pädagogische Erkenntnis leitende Interesse entstammt keiner
autonomen
Wissenschaft, sondern entstammt der Erziehungswirklichkeit. Es ist mithin kein spekulatives Interesse an der Erkenntnis übergeschichtlicher Wesenheiten, ebensowenig wie es ein Interesse an technologischen Sachverhalten, an den Wenn-Dann-Korrelationen der Methode ist. Vielmehr ist es ein Interesse an der Emanzipation des Menschen, an dem auch die Erziehungswirklichkeit, mindestens seit Rousseau, teilhat; und zwar dadurch, daß in ihr der Versuch unternommen wird, den gesellschaftlichen Prozeß der Emanzipation im Hinblick auf seine Realisierung in den nachwachsenden Generationen zur Darstellung zu bringen. Dieses Interesse macht aus Gründen der Praxis Theorie erforderlich. Tradition, vordem das vorherrschende soziale Phänomen zur Sicherung pädagogischer Praxis, wird nun zu nur einem Moment einer immer heterogener werdenden Erziehungswirklichkeit. Emanzipation stellt sich nicht von selbst als geschichtlicher Fortschritt ein, sondern bedarf der theoretischen Besinnung auf ihre Möglichkeiten und Widerstände2
|a 297| 2Es zeigt sich bei einer so geführten Interpretation, daß in der pädagogisch-theoretischen Reflexion Wenigers Ansätze wirksam waren, die neuerdings von Jürgen Habermas als eine Theorie der erkenntnisleitenden Interessen explizit vorgetragen werden (vgl. Jürgen Habermas, Theorie und Praxis, Neuwied 1963 und ders., Erkenntnis und Interesse, in: Merkur, 19. Jg., 1965, S. 1139–1153). Es scheint, als seien diese, als Wissenschaftstheorie der Sozialwissenschaften konzipierten Gedankengänge für die Erziehungswissenschaft von eminenter Bedeutung. Führte man sie im Hinblick auf die Erkenntnis pädagogischer Sachverhalte weiter, könnte sich zeigen, daß eine Reihe erziehungswissenschaftlicher Grundprobleme – z. B. die
Befangenheit
des Theoretikers, das Verhältnis von Theorie und Praxis, das Problem der Normativität – sich auf neue Weise klären. Vgl. in diesem Band: Ilse Dahmer, Theorie und Praxis.
.
[034:4] Dieser, von Weniger so freilich nicht formulierte Ansatz, vermag es zu erklären, warum die von ihm geforderte enge Bindung der Theorie an die Erziehungswirklichkeit, an ihre Fragen und Begriffe, nicht von vornherein dem Ideologieverdacht ausgesetzt sein muß. Durch mißverständliche Begriffe und Wen|a 293|dungen hindurch konnte die
Befangenheit
des Theoretikers, seine verantwortliche Teilnahme am Prozeß der Erziehungswirklichkeit, sowohl Theorie als bloße Verdoppelung der Praxis wie auch als spekulatives System vermeiden.
[034:5] Weniger macht sich den auf Dilthey gemünzten Satz Bollnows zu eigen: es sei die Aufgabe der pädagogischen Theorie
hinter die überkommene Zerspaltung der Pädagogik in zwei Teile, eine von der Ethik abhängige Lehre von den Erziehungszielen und eine von der Psychologie abhängige Lehre von den Erziehungsmitteln, zurückzugehen auf das einheitliche Ganze der Erziehungswirklichkeit als auf denjenigen Boden, auf dem vor aller Theorie der Prozeß der Erziehung schon immer wirklich geschieht
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|a 298|3 Otto Friedrich Bollnow, Vorbericht des Herausgebers, in: Wilhelm Dilthey, Gesammelte Schriften, Bd. IX, 2. A., Stuttgart 1960, S. 6; zitiert bei Erich Weniger, Die Pädagogik in ihrem Selbstverständnis heute, in: Eigenständigkeit, S. 148.
. Diese erkennende Rückwendung der Theorie auf die Wirklichkeit, der sie entstammt und der sie weiterhin, durch das erkenntnisleitende Interesse vermittelt, zugehörig bleibt, drückt sich zunächst in der Form ihrer Begriffsbildung aus. Die Pädagogik sucht und verwendet
einheimische
Begriffe; d. h. solche, die einerseits nicht nur der pädagogischen Theorie als einer eigenständigen Wissenschaft, sondern auch dem kulturellen Teilsystem
Erziehungswirklichkeit
zugehören; andererseits sollen diese Begriffe sich dadurch auszeichnen, daß sie nicht nur die Vorgänge innerhalb der Erziehungswirklichkeit zu verstehen und zu erklären vermögen, sondern auch die Selbstverständigung dieser Praxis ermöglichen und befördern. Die Theorie erfüllt der Erziehungswirklichkeit gegenüber die Funktion der Aufklärung dadurch, daß sie ihr die Instrumente solcher Aufklärung zur Verfügung stellt. Diese Instrumente sind für die Praxis nur dann verwendbar, wenn sie – metaphorisch gesprochen – aus dem Material der Erziehungswirklichkeit gefertigt sind.
[034:6] Drei Aspekte des Begriffs Erziehungswirklichkeit und seiner den Aufbau der Theorie fundierenden Funktion sind es vor allem, die sich – durch eine in systematischer Absicht durchgeführte Interpretation des pädagogischen Werkes Erich Wenigers – in dessen Reflexionen artikulieren lassen: der anthropologische, der historische und der politische.
[034:7] Es wäre denkbar, den Begriff der Erziehungswirklichkeit als Kategorie der Theorie für die Analyse eines bestimmten Abschnitts der Erziehungsgeschichte – jenes nämlich, in dem Erziehung unter dem Anspruch von Emanzipation sich entfaltet – zu reservieren; vergleichbar etwa der eingeschränkten Bedeutung, die der Ausdruck Gesellschaft bisweilen als
bürgerliche Gesellschaft
angenommen hat. Das ist hier nicht der Fall. Der Begriff faßt nicht nur einen geschichtlich besonderen Gegenstand, sondern diesen überhaupt. Das folgt sinnvoll aus dem empirischen Befund, daß keine Gesellschaft bekannt ist, in der sich zwischen dem Kind und dem gesellschaftlichen System der Erwachsenengeneration nicht eine vermittelnde soziale Realität etabliert hätte zum Zweck der Erziehung. Und mehr noch: es gehört zur
Natur
des Menschen, daß dieser eine eigentümliche, von ausdrücklichen Willensrichtungen der schon Erwach|a 294|senen initiierte Genese, den Erziehungsprozeß nämlich, durchläuft, die, vor allen geschichtlichen Besonderheiten, eine eigene
Strukturgemäßheit
der erzieherischen Akte und Institutionen erfordert. Erziehung ist ein
mit der Existenz des Menschen gegebenes Urphänomen
; jeder Form von Reflexion ist es
immer schon vorgegeben
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|a 298| 4 Erich Weniger, a. a. O., S. 152.
. Erziehungswirklichkeit ist, so läßt sich das von Weniger Gemeinte zugespitzt formulieren, die soziale Form, in der diese anthropologische Struktur, dieses
Urphänomen
, in die gesellschaftliche Erscheinung tritt.
[034:8] In dem Augenblick aber ist sie auch schon geschichtlich. Keine Analyse der Erziehungswirklichkeit ist also denkbar, die nicht eine historische Analyse wäre; jedenfalls solange an der Erfahrung als legitimer Erkenntnisquelle festgehalten werden soll. Der Ausdruck
Erziehungswirklichkeit
erweist sich so als der Begriff aller geschichtlich konkret gewordenen Erziehungssysteme, wenn man als
Erziehungssystem
das funktionelle Ganze pädagogischer Verfahrensweisen, Institution, Haltungen und Verhaltensweisen im je besonderen geschichtlich-sozialen Horizont bezeichnen will. Die Erziehungswirklichkeit der pädagogischen Bewegung im ersten Drittel dieses Jahrhunderts ist also eine durchaus andere als die der preußischen Reformen, des Hallischen Pietismus oder des frühen Mittelalters5
|a 298| 5Abgesehen von seinen reichhaltigen Äußerungen zur
Pädagogischen Bewegung
liegt von Weniger nur eine ausdrücklich pädagogisch-historische Studie vor: Erich Weniger, Das deutsche Bildungswesen im Frühmittelalter, in: Historische Vierteljahrsschrift, Bd. 30, 1936, S. 446–492.
. Ihr reales Verhältnis
zu den geistigen Mächten, zu Kirche und Staat und dahinter zu den letzten Stellungnahmen des Menschen
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Ders., Eigenständigkeit, S. 75.
und ebenso das Bild, das in ihr je von Kindheit und Jugendalter entworfen wird, sind historische Facta, die durch keinen Rückgang hinter die Geschichtlichkeit dieser Realität aufzuheben wären. Wohl aber vermag die Theorie solche Verhältnisse
in eine neue, die pädagogische Beziehung zu setzen
.
[034:9] Mit dem Hinweis auf das reale Verhältnis der Erziehungswirklichkeit zu den geistigen Mächten, zu Kirche und Staat ist der dritte, der politische Aspekt des Begriffs
Erziehungswirklichkeit
, angedeutet. Wie jede Theorie einer gesellschaftlichen Praxis in der Epoche der Emanzipationen, so kann auch die pädagogische Theorie, soweit sie Theorie gegenwärtiger Praxis ist, des politischen Aspektes nicht entbehren, es sei denn um den Preis eigener Ideologisierung oder eines platten Positivismus; und zwar deshalb, weil das Politische nicht nur ein Aspekt der Theorie, sondern eine Dimension der Praxis, der Erziehungswirklichkeit selbst ist, jedenfalls in ihrer gegenwärtigen Gestalt. Ihre politische Dimension gewinnt die Erziehungswirklichkeit dadurch, daß sie – ihrer Beteiligung am geschichtlichen Emanzipationsprozeß wegen – zu einem spannungsreichen Gefüge geworden ist, in dem nicht nur der Pluralismus der Mächte und Wertüberzeugungen, sondern auch die gesellschaftliche Dynamik des Widerspruchs bewahrender und progressiver Funktion eine konstitutive Rolle spielt. Diese strukturelle Eigentümlichkeit der Erziehungswirklichkeit hat Weniger vor allem an der Schule zu verdeutlichen gesucht. Einerseits dient sie, auch wenn sie sich den
kulturellen und gesellschaftlichen Fortschritten
verpflichtet fühlt,
immer noch dem Bestehenden und folgt der Kultur nach
.
So ist |a 295|Schule immer innerhalb der bestehenden Kultur und Gesellschaft, indem sie deren Ausdruck ist und ihnen folgt.
Insofern aber Fortschritt selbst ein Moment dieser Kultur ist, ist auch Schule – wenigstens der Möglichkeit nach, in der pädagogischen Bewegung aber auch faktisch –
ein Moment des Fortschritts, ist (sie) Zukunft in der Gegenwart
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|a 298|7A. a. O., S. 61.
. Weniger begründet expressis verbis diese Struktur allerdings nicht von der Realität der modernen Gesellschaft her, sondern durch die erst seit Schleiermacher dem pädagogischen Denken eigentümliche Bestimmung des Generationenverhältnisses: die Jugend stehe – ihrer Natur nach –
vor ihrem eigentlich gestaltenden Leben
und mache
immer etwas anderes aus dem Überlieferten ... als die Lehrer annehmen
8
|a 298| 8A. a. O., S. 61 f.
. Oder – auf eine allgemeine pädagogische Formel gebracht:
Erziehung und Schule stellen Leben dar und schaffen neue menschliche Haltungen, von denen aus der Zustand der Dinge verändert und eine neue politische und geistige Ordnung bewirkt werden kann
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|a 298| 9
A. a. O., S. 62.
Leicht ersichtlich ist diese politische Dimension der Erziehungswirklichkeit etwas anderes als das, was Weniger unter dem Titel der
Politischen Bildung
immer wieder ausführlich behandelt hat. Im Vergleich zu diesem Problemkreis ist die Aufmerksamkeit, die er jenem zuwendet, gering. Vielleicht erschien es ihm zu selbstverständlich, da er offenbar geschichtliche Ordnungen immer auch als politische verstand. Sein großes Interesse an den Fragen der politischen Bildung könnte deshalb auch verstanden werden als eine notwendige Konsequenz aus der Einsicht, daß Erziehungsverhältnissen, nachdem der Prozeß der Demokratisierung einmal eingesetzt hatte, unabwendbar eine politische Valenz eigen ist.
. Die Artikulierung der politischen Dimension der Erziehungswirklichkeit öffnet darüber hinaus den Blick auf eine Ausweitung dessen, was der Begriff decken soll: politische Intentionen bekommen eine pädagogische Dimension, sofern in ihnen die bessere Zukunft eines Volkes schon vorwegnehmend institutionalisiert ist, wie in den Einrichtungen der Demokratie angesichts des politischen Bewußtseins der Deutschen in der Weimarer Republik. Sie werden
nun gleichsam Einrichtungen zur Erziehung des Volkes für einen besseren Zustand der Dinge. Demokratie ist dann weniger Ausdruck der Reife eines Volkes, als (vielmehr) Mittel, ein Volk mündig zu machen
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|a 298| 10A. a. O., S. 64.
. Es ist deshalb kein aktualistisches Zugeständnis, sondern eine Konsequenz aus dem Begriff, wenn Weniger die Pädagogische Hochschule zugleich als eine
politische Hochschule
bestimmt. Das emanzipatorische Interesse ist hier, bei der
Einweihungsrede
zur Eröffnung der Pädagogischen Hochschule in Göttingen 1946, deutlich formuliert: Der Lehrer wird bestimmt als der, der auf pädagogische Weise die Emanzipation zu vertreten hat, als ihr Anwalt. Analyse der Erziehungswirklichkeit und Analyse der politisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit sind demnach nicht voneinander zu trennen. Sie bilden eine unteilbare Aufgabe. Die Bestimmung der gegenwärtigen pädagogischen Problemlagen hat immer auch die Bestimmung dessen zu leisten, was in einer gegebenen politischen Lage realer Inhalt des Begriffs der Emanzipation sein kann.
[034:10] Der Begriff
Erziehungswirklichkeit
bekommt, in der Konsequenz solcher Gedankengänge, eine Dynamik und Offenheit den geschichtlichen Veränderungen gegenüber, die jeden Dogmatismus in der Festsetzung dessen, was als die Wirklichkeit der Erziehung bezeichnet werden könnte, verbietet. Das, was unter dem Begriff zu denken ist, kann immer nur bestimmt werden in dem Zusammenhang der geschichtlichen Lage, in der Erziehung wirklich wird. Erst die gesellschaftliche Realität bestimmt die Erziehungswirklichkeit und konstituiert ihren je wirklichen Begriff. Durch die Erfahrungen der Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg tritt dieser Sachverhalt klar hervor. Es scheint nun, als sei |a 296|jede Einschränkung des Begriffs auf sogenannte spezifisch pädagogische Einrichtungen, Maßnahmen oder Verhaltensweisen eine unrealistische Verfälschung der geschichtlichen Lage.
Im Zusammenbruch unserer Lebensordnungen
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|a 298|11Titel eines Vortrages (
Die Erziehung im Zusammenbruch unserer Lebensordnungen
) von 1945, in: Eigenständigkeit, S. 360 ff.
erweist sich Erziehung als eine nicht mehr auf einzelne Leistungen oder Prozesse reduzierbare Aufgabe. Die Grenzen dessen, was traditionell noch als die Erziehungswirklichkeit bestimmt werden konnte, verwischen sich. Die uferlos scheinende Ausweitung der Aufgaben erweitern und verändern das, was nun, angesichts der neuen gesellschaftlichen Situation, als Erziehungswirklichkeit zu analysieren ist.
[034:11] Dennoch aber ist
Erziehungswirklichkeit
mehr als eine aktuelle Antwort auf besondere gesellschaftliche Problemlagen. Sie unterliegt einem eigenen geschichtlichen Prozeß, sie hat eine geschichtliche Kontinuität, in der das Vergangene nicht verschwindet, sondern in der es aufgehoben wird. Als Erziehungswirklichkeit steht sie unter der Idee der recht geschehenden Erziehung. In
dieser Wirklichkeit finden wir ein bestimmtes Tun, wodurch sie als Erziehungswirklichkeit bestimmt wird. Hinter diesem Tun erscheint ein bestimmtes Verhalten, das dann wieder Ausdruck einer durchgehenden Haltung ist, die durch ein bestimmtes erzieherisches Ethos geordnet und gerechtfertigt wird
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|a 298|12Die Pädagogik in ihrem Selbstverständnis heute, a. a. O., S. 170.
. Dieser Wirklichkeit korrespondiert ein Denken, das aus ihr erwächst und sie verstehbar macht. Damit stehen pädagogisches
Denken, Tun und Ethos in einem strukturierten Zusammenhang, der durch die Geschichte hindurchgreift
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|a 298|13Ebd.
. Dieser Zusammenhang darf als die Bedingung der Möglichkeit dafür gelten, daß überhaupt von einer Geschichte der Erziehungswirklichkeit sinnvoll die Rede sein kann. So substituiert der Begriff
Erziehungswirklichkeit
nicht ein materiell Besonderes, keine normative Festsetzung dessen, was pädagogisch
richtig
ist, sondern ein Korrespondenzverhältnis seiner einzelnen Elemente und deren Bedingungen. Die Problematik solcher Entsprechungen wird nicht zu allen Zeiten in der gleichen Weise deutlich. Sie tritt in dem Maße hervor, in dem innerhalb der Erziehungswirklichkeit selbst die Kommunikation der praktisch Beteiligten den pädagogischen Wirklichkeitshorizont durch öffentliche Diskussion auch der pädagogischen Theorie erschließt. Aus diesem Grunde ist die Pädagogische Bewegung die von Weniger immer wieder herangezogene historische Erscheinung zur Exemplifizierung und Explikation dessen, was er die Erziehungswirklichkeit nannte. Denn: an dem Entwicklungsgang der Pädagogischen Bewegung – und ein solcher Entwicklungsgang ist der Gang dessen, was pädagogisch zur Sprache kommt – könne nicht nur ihre eigene Theorie abgelesen werden, sondern auch die
Struktur der Erziehungswirklichkeit überhaupt, die Gesetzlichkeit in den Erziehungsvorgängen schlechthin
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|a 298| 14Eigenständigkeit, S. 51.
.
[034:12] Es könnte scheinen, daß hier ein von Weniger selbst nicht hinreichend reflektiertes wissenschaftstheoretisches Problem verborgen liegt – es ist übrigens nicht identisch mit dem genannten anthropologischen Aspekt des Begriffs
Erziehungswirklichkeit
. Eine Diskussion dieses Sachverhaltes würde indessen den |a 297|Rahmen dieser Interpretation sprengen. Stattdessen soll abschließend darauf hingewiesen werden, daß Weniger noch auf einem zweiten Konstituens geschichtlicher Kontinuität von Erziehungswirklichkeit besteht: es ist die jeder Erziehungswirklichkeit eigentümliche Differenz von Wirklichem und Möglichem. Immer ist der Mensch mehr als das, was sich in der je konkreten geschichtlichen Realität zeigt. In der Erziehungswirklichkeit ist dieser Sachverhalt in eigentümlicher Weise gegeben: die das Faktische überschreitenden Möglichkeiten des Kindes oder des Jugendlichen sind es, die den Prozeß der Erziehung legitimieren und zugleich die Verantwortung jener herausfordern, die sich als Erzieher der jungen Generation zuwenden. Erziehungswirklichkeit enthält deshalb ein Moment, das das bloß Faktische transzendiert und in der Kategorie der Möglichkeit faßbar wird als der Anspruch des Kindes auf Realisierung eines besseren Begriffs vom Menschen, als ihn die tatsächlichen Verhältnisse anzubieten scheinen. So entsteht innerhalb der Erziehungswirklichkeit die pädagogische Verantwortung, als das Prinzip ihrer Phantasie und sie zusammenhaltend,
nur aus der konkreten Sorge um die Möglichkeit des Menschen auch in dieser Lage, aus der Sorge um das Humanum in jedem Menschen und in jeder Zeit
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|a 298| 15A. a. O., S. 108.
.
[034:13] Weniger ist realistisch genug, das gerade an dieser Stelle naheliegende Pathos einer
radikalen Offenheit
– oder welcher Ausdrücke immer es sich bedient – zu vermeiden. Möglichkeiten artikulieren sich nur angesichts der Chance, realisiert zu werden. Auch die Freiheit ist immer eine bestimmte. Nicht das permanente Offenhalten für alles Mögliche kann Sache des Erziehers oder eines ganzen Erziehungssystems sein, sondern der Hinweis auf die Verwirklichung des Real-Möglichen16
|a 298|16Bei der Interpretation solcher Elemente des Denkens Erich Wenigers zeigt sich überraschend, daß es durchaus gerechtfertigt wäre, seine Theorie mit der Philosophie Ernst Blochs in Verbindung zu bringen. Überraschend ist das deshalb, weil er zwar nirgends Ernst Bloch zitiert, dagegen aber häufig auf Gedankengänge aus dem Umkreis der Existenzphilosophie Bezug nimmt. Dadurch könnten Mißverständnisse entstehen, die durch diesen letzten Absatz ausdrücklich zurückgewiesen werden sollen. Es scheint so, als habe er sich existenzphilosophisch orientierter Wendungen nur bedient, um sich seinen Diskussionspartnern, besonders aus dem Bereich der evangelischen Theologie, verständlich zu machen.
. Das aber bedarf der Beteiligung des Erziehers am politischen und kulturellen Prozeß im Ganzen, es bedarf einer Struktur der Erziehungswirklichkeit, die sich nicht provinziell dem politisch-gesellschaftlichen Prozeß, der dort immer neu sich artikulierenden Emanzipationsproblematik verschließt, sondern sich auf sie hin entwirft. Erst dann formt sich
in der erzieherischen Begegnung zwischen den Generationen ... in unmittelbarem Geschehen ein Bild von den Möglichkeiten des Menschen, das – gerade weil die Jugend noch entwicklungsfähig und offen ist – ständig aus der Erfahrung berichtigt werden kann
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|a 298| 17A. a. O., S. 160.
.