Vorwort des Herausgebers [zu Skowronek, Lernen und Lernfähigkeit] [Textfassung a]
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Vorwort des Herausgebers

[V27:1] Die Reihe
»Grundfragen der Erziehungswissenschaft«
versucht, den gegenwärtigen Stand des erziehungswissenschaftlichen Wissens zu ordnen und im Sinne von Einführungen in die pädagogischen Forschungsrichtungen zur Verfügung zu stellen. Zu wessen oder zu welcher Verfügung? Das ist eine Frage, die nicht lediglich praktischer Natur ist und den am Wissenschaftsprozeß Beteiligten nicht zu interessieren brauchte. Trivial ist die Feststellung, daß das Wissen der Erziehungswissenschaft, da es doch im Hinblick auf die Umstände erzieherischen Handelns zusammengetragen wird, eben diesem Handeln zugute kommen soll. Allein: diese Formel ist nur scheinbar eindeutig. Das erzieherische Handeln ist nicht nur Selbstzweck, sondern es dient auch außer ihm liegenden Zwecken: dem Erlangen des kulturell definierten Erwachsenenstatus, dem wirtschaftlich notwendigen Nachwuchs, der Integration von Individuen in bestehende Gruppen und Institutionen und anderem mehr. Solcher Heteronomie hat die neuzeitliche Erziehungstheorie sich immer zu entwinden gesucht. Orientierungsbegriffe wie Selbsttätigkeit, Selbständigkeit, Individualität, Autonomie, Mündigkeit und schließlich auch der Hinweis darauf, daß im erzieherischen Verhältnis der educandus seine Zwecke stets in sich habe, auch hier schon also der Mensch nie Mittel sein dürfe, sind Versuche, jene Heteronomien abzuweisen und sie als Entfremdungsformen des Erziehungsgeschehens zu begreifen. Mögen nun solche Versuche theoretisch befriedigend sein oder nicht, für die Erziehungswissenschaft stellt sich immer wieder die Frage, welche Konsequenzen sich für sie daraus ergeben, daß ihre Ergebnisse gegen ihre aufklärerische Absicht verwendet, daß sie in Institutionen verwertet werden können, die die private wie öffentliche Unselbständigkeit der erzogenen Subjekte zum Ergebnis haben.
[V27:2] Im Rahmen dieser Problematik fällt auf die Lerntheorie und ihren Beitrag zur Erziehungswissenschaft besonderes Licht. Als empirische Disziplin ist sie durch die Ambivalenz jener Forschungsrichtungen charakterisiert, die den Menschen im Sinne eines theoretischen Konstruktes zum Objekt machen: Das lernende Individuum wird genommen als ein Wesen, dessen Verhaltensweisen durch Eingriffe von außen, durch Stimulus-Arrangements, verändert werden können. Auf diesem Wege ist die Lerntheorie zu einer unverzichtbaren Grundlagentheorie für |a 8|alle erziehungswissenschaftlichen Forschungsrichtungen geworden. Man könnte sogar sagen, daß die Entwicklung der
»Pädagogik«
zur
»Erziehungswissenschaft«
unmittelbar mit den empirischen Fortschritten der Lerntheorie verbunden ist und ohne sie nicht recht möglich gewesen wäre. Sie hat der Erziehungswissenschaft eine kritische Dimension hinzugefügt insofern, als die Zielproblematik und die pädagogischen Bewertungsfragen nun nicht mehr naiv auf der Basis von Alltagserfahrung und ihrer hermeneutischen Aufklärung diskutiert werden können, sondern realistisch an den Lernchancen geprüft werden müssen. Die Lerntheorie kann indessen auch – und das ist ihre ambivalente Rolle – dazu führen, daß Ziel- und Bewertungsprobleme aus dem Rahmen des wissenschaftlich Diskutierten herausfallen und Pädagogik zu einer Disziplin reduziert wird, in der nur noch die Frage nach geeigneten Mitteln und Wegen gestellt wird. Die technologische Tendenz vieler Lerntheorien enthält daher der Möglichkeit nach immer auch die Gefahr einer Verkürzung wissenschaftlicher Kritik. Der manipulative Mißbrauch in technokratischer Absicht kann durch sie selbst nicht verändert werden. Seine Wahrscheinlichkeit kann aber gemindert werden, wenn man im Auge behält, daß alle Lernwege vor der Rationalität des educandus legitimiert werden müssen. Gerät diese Problematik aus dem Blick, dann kann der Beitrag der Lerntheorie zur Erziehungswissenschaft unversehens seine kritische Dimension einbüßen; sie produziert dann nichts anderes als technologisches Herrschaftswissen. Lerntheorien sind also nicht – was leicht vermutet werden könnte – die Basis, auf der alle anderen erziehungswissenschaftlichen Forschungsrichtungen und Theorien aufbauen, sondern sie sind kritische Instanzen, an denen das Reden über
»Erziehung unter dem Anspruch der Emanzipation«
immer wieder geprüft werden muß.