Vorwort des Herausgebers [zu Vogel, Erziehung im Gesellschaftssystem] [Textfassung a]
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Vorwort des Herausgebers

[V30:1] Die Reihe
»Grundfragen der Erziehungswissenschaft«
versucht, den gegenwärtigen Stand des erziehungswissenschaftlichen Wissens zu ordnen und im Sinne von Einführungen in die pädagogischen Forschungsrichtungen zur Verfügung zu stellen. Zu wessen oder zu welcher Verfügung? Das ist eine Frage, die nicht lediglich praktischer Natur ist und den am Wissenschaftsprozeß Beteiligten nicht zu interessieren brauchte. Trivial ist die Feststellung, daß das Wissen der Erziehungswissenschaft, da es doch im Hinblick auf die Umstände erzieherischen Handelns zusammengetragen wird, eben diesem Handeln zugute kommen soll. Allein: diese Formel ist nur scheinbar eindeutig. Das erzieherische Handeln ist nicht nur Selbstzweck, sondern es dient auch außer ihm liegenden Zwecken: dem Erlangen des kulturell definierten Erwachsenenstatus, dem wirtschaftlich notwendigen Nachwuchs, der Integration von Individuen in bestehende Gruppen und Institutionen und anderem mehr. Solcher Heteronomie hat die neuzeitliche Erziehungstheorie sich immer zu entwinden gesucht. Orientierungsbegriffe wie Selbsttätigkeit, Selbständigkeit, Individualität, Autonomie, Mündigkeit und schließlich auch der Hinweis darauf, daß im erzieherischen Verhältnis der educandus seine Zwecke stets in sich habe, auch hier schon also der Mensch nie Mittel sein dürfe, sind Versuche, jene Heteronomien abzuweisen und sie als Entfremdungsformen des Erziehungsgeschehens zu begreifen. Mögen nun solche Versuche theoretisch befriedigend sein oder nicht, für die Erziehungswissenschaft stellt sich immer wieder die Frage, welche Konsequenzen sich für sie daraus ergeben, daß ihre Ergebnisse gegen ihre aufklärerische Absicht verwendet, daß sie in Institutionen verwertet werden können, die die private wie öffentliche Unselbständigkeit der erzogenen Subjekte zum Ergebnis haben.
[V30:2] Indessen sind auch die genannten
»Orientierungsbegriffe«
nicht gesellschaftlich exterritorial. Historisch wie soziologisch gehören sie der bürgerlichen Gesellschaft zu. Es handelt sich – wie es in der vorliegenden Arbeit heißt – um
»Bezugsgrößen«
, deren Wahrheit nur durch eine Analyse der
»Art der Bezugsetzung«
zu ermitteln ist. Solche Bezugsetzung aber geschieht in einem wirklichen oder gedachten Rahmen gesellschaftlichen Daseins, in dem die Funktion jener Orientierungsbegriffe erst bestimmbar wird, sie ihre wirkliche, d. h. soziale Bedeutung für das Heran|a 8|wachsen offenbaren. Es ist nun eine Eigentümlichkeit der Pädagogik, daß sie – je mehr sie sich aus ihren theoretischen Anfängen bürgerlicher Erziehungsphilosophie zur Wissenschaft entwickelte – zunehmend auf die systematische Reflexion jenes gesellschaftlichen Rahmens verzichtete. Statt das Erziehungsgeschehen als Partien oder Momente einer sozialen Struktur zu begreifen, geriet sie immer stärker in Gefahr, hinter der scheinbaren Allgemeinheit ihrer
»Bezugsgrößen«
zu einer dienstbaren Technologie für nicht kritisierte Interessen zu werden. Paradoxerweise gilt das sowohl für ihre geisteswissenschaftlich-hermeneutische wie für ihre positivistische Variante; beide haben jenen
»Nichtangriffspakt«
mit der Gesellschaft geschlossen, den Bourdieu auch für die Soziologie behauptet: eine adäquate Theorie pädagogischer Gegenstände impliziert deshalb eine Theorie der sozialen Bedingungen, aus denen diese Gegenstände entstehen, und der sozialen Folgen, mit denen sie verbunden sind. In allgemeiner wissenschaftstheoretischer Formulierung heißt das:
»Will sich die Wissenschaft von der ideographischen und somit ideologischen Betrachtung von Fällen befreien, deren Sinn sich nicht unmittelbar von ihnen selbst her erschließt, solange sie singulariter betrachtet werden, hat sie das System der Fälle zu konstruieren, das zugleich seinen eigenen Interpretationsschlüssel mit einschließt und nur darum die Wahrheit des betreffenden Falles enthüllen kann«
(P. Bourdieu).
[V30:3] Weil Erziehung immer ein Handeln in gesellschaftlichen und politischen Bezügen ist, ist für die Erziehungswissenschaft das zu konstruierende
»System der Fälle«
ein System gesellschaftlicher Strukturbeziehungen. Nur durch die Verknüpfung der lernrelevanten Daten mit den ihnen zugehörigen sozialen Strukturen kann sie der Distanzlosigkeit ihrem Gegenstand gegenüber entgehen.
[V30:4] Diese Aufgabe jedoch kann die Erziehungswissenschaft nicht allein leisten. Sie ist auf das Kooperationsfeld der Sozialwissenschaft angewiesen; mehr noch: sie ist gehalten, sich selbst sozialwissenschaftlich zu begreifen. Das geschieht gegenwärtig vornehmlich auf drei Ebenen:
  • [V30:5] in sozialwissenschaftlich orientierter empirischer Forschung; hierher gehören die jüngeren Arbeiten zum Sozialisationsproblem, die Untersuchungen zur Chancenungleichheit im Schulsystem, Untersuchungen zur Curriculum-Revision, zum Verhältnis von Erziehung und Klassenlage, zur Funktion der politischen Bildung;
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  • [V30:6] in historischen Einzeluntersuchungen zur gesellschaftlichen Funktion pädagogischer Praxis und Theorie; so z. B. in Studien über den gesellschaftspolitischen Gehalt pädagogischer Begriffe oder pädagogischer Theorien, über die Funktion pädagogischer Theorien in der nationalsozialistischen Herrschaftsperiode, in der Weimarer Zeit oder den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts;
  • [V30:7] in systematischen Untersuchungen zum Verhältnis von Erziehung und Gesellschaft mit dem Ziel, in wissenschaftstheoretischer und methodologischer Absicht ein begründetes und brauchbares analytisches Instrumentarium zu erarbeiten.
[V30:8] Auf allen drei Ebenen befindet sich die Erziehungswissenschaft erst am Anfang. In dieser Situation ist es nahezu unmöglich, einen einführenden Text im Sinne der Konzeption der Reihe
»Grundfragen der Erziehungswissenschaft«
zu schreiben. Da es sich jedoch um eine der fundamentalen Fragen in der Weiterentwicklung dieser Disziplin handelt, durfte das kein Anlaß sein, auf ihre explizite Erörterung zu verzichten. Es erscheint daher gerechtfertigt, wenn
»Erziehung im Gesellschaftssystem«
– anders als die übrigen Bände dieser Reihe – zunächst einmal die gesellschaftspolitischen Implikationen pädagogischer Theorien darstellt, und zwar an historischen Fällen, die sowohl für die Geschichte der Erziehungstheorie wie auch für ihre gegenwärtige Gestalt exemplarischen Charakter haben. Es wird auf diese Weise ein Interpretationsrahmen erstellt, der für die weitere systematische Ausarbeitung der Probleme als Grundlage dienen kann.
[V30:9] Indessen wird noch einige Zeit verstreichen, bis die Erziehungswissenschaft imstande ist, Probleme der Sozialstruktur, des ökonomischen Systems, der Soziologie symbolischer Formen, des gesellschaftlich-ökonomischen Leistungsprinzips, der gesellschaftlichen Vermittlung politischer Entscheidungsprozesse, Probleme von Klassen- und Interessenlagen oder ähnliche Fragen so in ihre Theorien aufzunehmen, daß sie zu einem selbstverständlichen Bestandteil systematischer Einführungen wie der empirischen Einzelforschung werden. Der vorliegende Band ist ein unerläßlicher Schritt in dieser Richtung und – trotz seines monographischen Charakters – eine Einführung in diejenigen Fragestellungen, von denen her das erziehungswissenschaftliche Denken sich reorganisieren kann.